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4. Die Legislativ- und Exekutivgewalt in den Verfassungen der unabhängig

4.3 Politische Parteien

4.4.1 Die Funktion des Parlaments

Gemäß Art 27 der Verfassung von 1963 stellte die Assemblée Populaire (Nationale Volksver-sammlung) das zentrale Element der Volkssouveränität dar. Laut Artikel 7 bildet die Nationale Volksversammlung, ab 1976, das zentrale Element, das den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt. Art 7 weist demgemäß schon verhältnismäßig früh auf die Staatsform eines parlamen-tarischen Systems hin. In krassem Widerspruch dazu stehen jedoch die Art 23 – 25, die der staatlichen Einheitspartei FLN weiterhin umfassende Kompetenzen zuweisen. Art 23 – 25 sehen nämlich vor, dass die FLN den „tiefen Willen“ des Volkes zum Ausdruck bringt. Dies macht deutlich, dass das Regierungssystem Algeriens in diesem Stadium der Verfassungsent-wicklung noch nicht viel mit dem Konzept des Parlamentarismus zu tun haben konnte, da doch recht deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, dass die Machtkonzentration des Staates bei der Regimepartei lag. Der Stellenwert der FLN innerhalb der algerischen Staatsstrukturen kommt auch sehr deutlich durch Art 97 zum Ausdruck, der sie als die maßgebliche Kraft in der Gesellschaft bezeichnet. Bezeichnend für die geringe verfassungsrechtliche Organisati-onsdichte im unabhängigen Algerien war, dass in der Verfassung von 1963 weder Regelungen zur Gesetzesinitiative durch das Parlament zu finden waren, und es auch keinen demonstrati-ven oder taxatidemonstrati-ven Kompetenzkatalog gab, der dem Parlament Gesetzesmaterien zur Rege-lung zugewiesen hätte. Art 127 sieht als Aufgabe für das Parlament lediglich vor, dass dieses

„auf die Verteidigung und Festigung der sozialistischen Revolution hinzuwirken“ habe, und

„sich in der Gesetzgebung von der Nationalen Charte“ leiten zu lassen habe.85

84 Erler/Kaufmann, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 1793

85 Dirk Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, Verfassungs- und Wahlrechtsreformen in Algerien, Tunesien und Marokko zwischen 1988 und 2004, Wiesbaden 2007, 126

Mit Art 127 – modifiziert in 1976 – räumte die Verfassung erstmals dem Parlament ein beschränktes Initiativrecht zum Vorschlag von Gesetzesvorhaben ein. Derartige Initiativen mussten von zumindest 20 Parlamentsabgeordneten unterstützt werden. Diese partielle Initia-tivkompetenz des Parlaments fand ihre Grenzen darin, dass die vom Parlament vorgeschlage-nen Regelungen nicht zur Erhöhung der Staatsausgaben oder zur Verringerung der Staatsein-nahmen führen durften, außer es wurde im Rahmen des Vorhabens für eine adäquate Kompen-sation gesorgt. Schließlich enthielten die Art 148 – 151 – erstmals eine taxative Auflistung der Gesetzgebungskompetenzen des Parlaments. Diese Regelung nahm sich die französische Ver-fassung von 1958 zum Vorbild. Doch auch mit dieser Regelung verblieben die wichtigsten Gesetzgebungskompetenzen beim Staatspräsidenten. Art 163 räumte dem Präsidenten, wenn auch nach Abstimmung mit der Parteiführung des FLN und der übrigen Regierungsmitglieder, ein Auflösungsrecht des Parlaments ein und stärkte dadurch weiter seine Position. Das bedeu-tete eine Stärkung der Machtposition des Staatspräsidenten im Vergleich zur Verfassung aus 1963, in der ein solches Auflösungsrecht nicht normiert war. Weitergehende wechselseitige Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung und umgekehrt waren weder im Ver-fassungstext aus 1963, noch in dem aus 1976 vorgesehen. Die Tendenz hin zur Machtkonzen-tration beim Staatspräsidenten im Vergleich zur ersten Verfassung Algeriens aus 1963 ist auch darin erkennbar, dass die Art 55f nun mehr kein Misstrauensvotum der Parlamentarier gegen den Präsidenten vorsahen. Sahen die Bestimmungen der Art 55f 1963 noch vor, dass ein Antrag auf Abhaltung eines Misstrauensvotums durch ein Drittel der Parlamentsabgeordneten zu unterstützen sei, wurden diese Bestimmungen 1976 zurückgestutzt. Ab 1976 beschränkte sich das Kontrollrecht der Parlamentarier gegenüber dem Staatspräsidenten auf mündliche Anfragerechte und Anträge auf Einrichtung von Untersuchungsausschüssen. Doch spielten die Kontrollrechte sowie Gesetzgebungskompetenzen des Parlaments ohnedies keine praktische Rolle, da im Parlament lediglich Abgeordnete der staatlichen Einheitspartei, der FLN, saßen.

Es gab zu dieser Zeit noch keinerlei politische Opposition, die, einem parlamentaristischen System entsprechend, im Parlament die Regierung kontrolliert hätte.86

Zu tiefer greifenden institutionellen Reformen kam es im Zuge der allgemeinen Reformbewe-gungen autoritärer Herrschaft in Nordafrika Ende der 1980er Jahre. Die algerischen Verfas-sungsreformen von 1988 und 1989 führten zu einer, wenn auch weiterhin eher theoretischen, Machtaufwertung der Volksversammlung, des Parlaments. Im Speziellen handelte es sich um

86 Sigrid Faath, Algerien: Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, Hamburg 1990, 56ff

Artikel 115, derVerfassung aus 1989, der im Vergleich zu Artikel 151, der Verfassung aus 1976 dem Parlament umfängliche Kompetenzen im Bereich des Bergbau- und Ölsektors zuwies. Wichtigere Materien wurden in der Verfassung von 1996 der Reform zugeführt, Art 122 wies folgende Materien der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments zu: die Geldaus-gabe, Privatisierungen und das Bodenrecht, den öffentlichen Dienst, die Forschung, den Straf-vollzug, die Gewalt über die bewaffneten Truppen sowie die Landesverteidigung; vor allem der Punkt der Armeeführung erscheint bemerkenswert, war diese doch seit jeher die Kernauf-gabe des Präsidenten. Schließlich entfiel mit der Verfassung 1996 auch das Recht des Präsi-denten, zwischen den Legislaturperioden nach seinem Gutdünken selbst, in Form von Ordon-nanz, gesetzgeberisch tätig zu werden. Weiterhin unberührt blieb das Recht des Staatspräsi-denten, im Kriegs- bzw. Belagerungsfall die alleinige Gesetzgebungskompetenz auszuüben.87 Unter dem Eindruck des erheblichen Erfolges des islamistischen FIS bei den Parlamentswah-len zu Beginn der 1990er Jahre brachte die Verfassung von 1996 erneut die Zurücknahme einiger Legislativkompetenzen des Parlaments. Vor allem wurde das Recht des Präsidenten, zwischen den Sitzungsperioden in Form der oben genannten Ordonnanzen Gesetze zu erlas-sen, wieder ausgebaut. Dies bedeutet demnach eine Einschränkung der Legislativgewalt im Verhältnis zu den Verfassungen aus 1988/89. Des Weiteren brachte ein neu gefasster Artikel 123 die Kategorie der Organgesetze. Diese Gruppe der Gesetze, die wichtige Bereiche wie das Parteigesetz, den Richterstand sowie der verfassungsgebenden Organe umfasste, verlang-ten fortan zu deren Änderung die absolute Mehrheit aller Parlamentarier. Demgegenüber genügte zuvor die Mehrheit der abstimmenden Abgeordneten. Eine Neuregelung und damit einhergehende Einschränkung der Gesetzgebungskompetenzen des Parlaments brachte die Verfassung von 1996 im Hinblick auf den Finanzhaushalt. Der neue Artikel 120 legte fest, dass das Budget innerhalb von 75 Tagen nach dessen Einbringung beschlossen zu sein hat, andernfalls fällt der Beschluss über das Budget mittels Ordonnanz dem Präsidenten zu. Diese Frist dient als Druckmittel gegenüber dem Parlament, dem Budget tunlichst rasch zuzustim-men, um nicht Gefahr zu laufen, die Beschlussfassungsbefugnis über das Budget an den Prä-sidenten zu verlieren. Am deutlichsten zeigt sich die Beschneidung der parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz durch die Verfassung von 1996 jedoch in der Einrichtung einer zweiten Kammer, einer Art Oberhaus. Die Senatoren dieses Oberhauses wurden zu einem Drittel durch den Präsidenten bestellt. Durch die Einführung dieser zweiten

Parlamentskam-87 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 128

mer bedurfte jedes Gesetz der Zustimmung von Dreiviertel der Senatoren des Oberhauses, was dem Präsidenten zu einer generellen Sperrminorität verhalf. Die Möglichkeit des Parla-ments, dem Regierungsprogramm die Zustimmung zu versagen, und dadurch den Rücktritt des Regierungskabinetts zu erzwingen, blieb im Vergleich zur Verfassung 1976 in den Verfas-sungen 1989 als auch 1996 unverändert bestehen. Die Art 135 – 137 räumten den Parlaments-abgeordneten erstmals ab 1996 das Recht ein, ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung zu initiieren. Neu an dieser, mention de censure genannten, Form des Misstrauensvotums im Vergleich zu dessen Pendant in der Verfassung von 1963 war, dass ein erfolgreiches Misstrau-ensvotum nicht den Rücktritt der gesamten Regierung zur Folge hatte, sondern nur den Rück-tritt des Regierungschefs nach sich zog. Ein solcher Misstrauensantrag musste von einem Siebtel der Abgeordneten unterstützt werden, bedurfte zusätzlich der Zustimmung von zwei Drittel aller Parlamentsabgeordneten. Zudem konnte ein derartiger Antrag nur anlässlich der alljährlichen Präsentation der politischen Richtlinien (déclaration de politique générale) vor-gebracht werden. Gelangten zwei derartige Misstrauensanträge aufeinanderfolgend zum Erfolg, zog dies die Auflösung des Parlaments (!) nach sich. Die Ausgestaltung dieses parla-mentarischen Kontrollrechts verdeutlicht einmal mehr, dass es sich bei den gewaltenteilenden Rechtsinstitutionen auch in den 1990er Jahren noch um rein kosmetische Maßnahmen han-delte. Seit der Verfassungsreform 1996 ist es beiden Parlamentskammern möglich, Untersu-chungsausschüsse einzusetzen, bzw. mündliche und schriftliche Anfragen an Regierungsmit-glieder zu richten. Die komplizierte Ausgestaltung und der hohe Grad an Formerfordernissen lässt diese Kontrollrechte der Nationalen Volksversammlung jedoch einigermaßen zahnlos erscheinen.88 Insgesamt muss festgehalten werden, dass obwohl die Rechte des Parlaments seit 1963 durchwegs im Rahmen der Verfassungsreformen formell gestärkt wurden, der Parla-mentarismus im algerischen Staat weiterhin schwach ausgeprägt ist. Dies vor allem aufgrund der schwachen Organisationsstrukturen der politischen Parteien, der autoritären Führung der Verwaltung durch den Staatspräsidenten und den Funktionären der ehemaligen Einheitspartei FLN.89

Zusammenfassend können die Reformen beginnend mit dem Ende der 1980er Jahre allenfalls als Tendenz in Richtung Parlamentarisierung der autoritären Herrschaft Algeriens bezeichnet werden, die sich in ihrer Ausgestaltung am französischen Semi-Präsidentialismus orientiert.

Dieser Befund gründet sich vor allem in den hohen formalen Hürden, eingebaut in allen

Ver-88 Faath, Algerien: Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, 64ff 89 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 129

fassungsurkunden seit 1988. Für eine wirksame parlamentarische Kontrolle durch die Natio-nale Volksversammlung gegenüber der Regierung fehlen dem Parlament faktisch wirksame und geeignete Instrumente. Die Verfassungsrealität ist bisweilen stark vom autoritären Kon-text geprägt, Mehrheiten regimetreuer Parteien verhindern weiterhin, dass die Volksversamm-lung zu einem ernstzunehmenden Gegengewicht der Exekutivgewalt werden konnte. Unbe-stritten ist jedoch, dass es den Abgeordneten des Parlaments im Zuge der Reformen der 1980er Jahre wiederholt gelungen ist, Gesetzesvorlagen der Regierung zumindest zu beein-flussen. So schärfte sich das Profil der Nationalen Volksversammlung zumindest in kleinen Schritten in Richtung eines Forums des politischen Diskurses. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Abgeordnete des Parlaments zwischen 1988 und 1991, obwohl sie überwiegend der Ein-heitspartei des FLN angehörten, erhebliche Kritik an den wirtschaftlichen sowie politischen Öffnungstendenzen übten. Dies verdeutlicht, dass es bereits ab dem Ende der 1980er Jahre immer wieder Dissens innerhalb der Staatspartei über die politische Ausrichtung des Landes gab.90 Seit 1997 ist das algerische Parlament aus sämtlichen Gruppierungen jedweder politi-scher Strömungen zusammengesetzt. Es finden sich sowohl Islamisten als auch gemäßigte islamische Vertreter, Linke sowie Wirtschaftsliberale, regionale sowie zentralistische Parteien-vertreter wieder. Dieser Umstand muss jedenfalls als wertvoller Schritt hin zum geöffneten Parlamentarismus honoriert werden. Ein dem Parteipluralismus geschuldeter Effekt diesbe-züglich spiegelte sich etwa 1998 in der Arbeit, der aus der Regimepartei und gemäßigten Isla-misten bestehenden Koalition, wider, beispielsweise im Arabisierungsgesetz oder in der Ablehnung der Änderung des Personenstatuts. In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist auch die durch die Mehrheit der Parlamentsparteien abgelehnte Budgetreform, mit der die Erhöhung der Mineralölsteuer geplant gewesen wäre.91

In Algerien war das Parlament, im Unterschied zu den Monarchien des nordafrikanischen Raumes, seit der Unabhängigkeit als Einkammersystem konzipiert. Erst mit der Verfassungs-reform 1996 wurde eine zweite Parlamentskammer installiert, der sogenannte „Rat der Nation“, auch als „Senat“ bzw. „Oberhaus“ bezeichnet. Bei zwei Drittel er Senatoren des Oberhauses handelt es sich um Vertreter der kommunalen Körperschaften. Ihre Bestellung erfolgt durch indirekte Wahl. Demzufolge kommt es zu einer überproportionalen

Repräsenta-90 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 130 91 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 131

tion der ländlichen Departements im Oberhaus. Ein Drittel der Mitglieder des Senates werden durch den Präsidenten direkt ernannt.92

Offiziell gründete sich die Einrichtung der zweiten Parlamentskammer auf dem Streben nach einer wirkungsvolleren Repräsentation der ländlichen Gebiete. Das Konzept eines Zweikam-mersystems orientiert sich zudem am System moderner Demokratien, als Vorbild diente ins-besondere der französische Staatsaufbau. Der wahre Grund für die Einrichtung eines Ober-hauses dürfte jedoch darin liegen, dass das algerische Regime den politischen Einfluss, der seit den Parlamentswahlen 1991 stimmenstärksten Partei, des islamistischen FIS, fürchtete.

Diese Vermutung verdeutlicht sich anhand der symbolischen Abwertung der Nationalen Volksversammlung (1. Kammer). Seit der Einführung des Oberhauses übernahm nämlich der Präsident des Oberhauses, im Fall der Verhinderung des Staatspräsidenten, dessen Amt. Bis zur Reform 1996 kam diese Aufgabe dem Parlamentspräsidenten zu. Viel wichtiger war jedoch, dass der Rat der Nation auf das Gesetzgebungsverfahren einen wesentlichen Einfluss ausüben konnte. Der Konzeption der Verfassung 1996 nach, bedurfte es zur formalen Gültig-keit der Gesetze, die von der Nationalen Volksversammlung erlassen worden waren, der Zustimmung von drei Viertel der Senatoren des Oberhauses. Hierin lag eine eindeutige Kon-trollmöglichkeit der Legislative seitens des Oberhauses. Diese Möglichkeit der Blockade, die Art 120 der Verfassung dem Rat der Nation ermöglichte, war im Vergleich zu den Verfassun-gen Marokkos, Tunesiens und Frankreichs einzigartig. Besondere Brisanz bekommt dieses Blockaderecht des Oberhauses im Hinblick darauf, dass der Staatspräsident ein Drittel der Senatoren des Oberhauses durch seine direkte Bestellung unter seiner Kontrolle hat.93

Die parlamentarischen Kontrollrechte des Rates der Nation fallen jedoch, auch im Vergleich zur zweiten Kammer in Marokko, verhältnismäßig gering aus. Bis auf ein mündliches und schriftliches Anfragerecht an Regierungsmitglieder verfügen die Abgeordneten des Oberhau-ses über keinerlei Kontrollrechte der Regierung gegenüber.94

Die Sinnhaftigkeit der Einrichtung der zweiten Parlamentskammer wird bereits seit 1997 hef-tig diskutiert. Es halten sich hartnäckig Gerüchte, dass es mittelfrishef-tig zu Abschaffung dieser Verfassungsinstitution kommen soll. Vor allem aufgrund der weitreichenden formalen

Ein-92 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 165 93 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 166 94 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 166

flussmöglichkeiten auf die Legislative ist diese Form des Zweikammersystems auch nicht besonders geeignet, das äußere Bild eines demokratischen Staatsaufbaus zu suggerieren.95