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6. Exkurs: Die Entwicklung der Parteienlandschaft und die Wahlrechtsreformen

6.3 Das passive Wahlrecht

6.3.1 Algerien

Im Zuge der Einführung des Mehrparteiensystems im Rahmen der Verfassungsreform 1989 kam es auch zur daraus folgenden Notwendigkeit, das passive Wahlrecht zu reformieren. Dies geschah mit der Reform des Wahlgesetzes von August 1989. Seither können auch Kandidaten, die nicht der ehemaligen Einheitspartei FLN entstammen, bei Wahlen kandidieren.199

Im Jahr 1962, bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, mussten zur Wahl ste-hende Kandidaten das 23. Lebensjahr vollendet haben. Das passive Wahlalter wurde im Lauf der folgenden beiden Jahrzehnte auf 30 Jahre im Wahlgesetz 1980 angehoben. In den

folgen-197 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 221 198 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 222 199 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 235

den Jahren kam es zu mehreren Änderungen des passiven Wahlalters, schließlich setzte man mit dem Wahlgesetz von 1991 das passive Wahlalter auf 28 Jahre fest. Dabei sollte es auch bis heute bleiben. Richtern sowie Angehörigen des Sicherheitsdienstes und des Militärs ist eine Kandidatur bis heute nicht möglich.200

Da die Regierung in den 1980er Jahren darauf hinwirkte, das politische Parteienspektrum zu erweiterten, erschwerte das Wahlgesetz 1989 unabhängigen Kandidaten die Kandidatur auf freien Listen. Wahllisten, die nicht parteilich organisiert waren, benötigten die Unterstüt-zungsunterschriften von zehn Prozent der regionalen Abgeordneten einer Partei oder die Unterschriften von 300 Wahlberechtigten Stimmbürgern. Keine Anwendung fand diese Rege-lung der Unterstützerunterschriften auf Kandidaten des FLN, die bei kommenden Wahlen auf unabhängigen Listen anzutreten beabsichtigten. Demgemäß kam es zu einer enormen Anzahl an Parteineugründungen vor den Parlamentswahlen 1991.201

Das reformierte Wahlgesetz von 1997 wirkte erneut auf die Kandidatur innerhalb von partei-lich organisierten Listen vor den anstehenden Parlamentswahlen hin. Art 109 des Wahlgeset-zes legte nämlich fest, dass fortan unabhänige Kandidaten 400 Unterstützungsunterschriften von der wahlberechtigten Bevölkerung der Region benötigten. Es kam erneut zu einer erwa-tungsgemäß hohen Anzahl von Kandidaturen formal legaler Pareien bei den Wahlen 1997 und 2002. Viele der insgesamt 39 antretenden „Parteien“ verfügten über keinerlei interne Organi-sation oder Satzung, auch waren sie meist in der Bevölkerung nicht verankert. Dennoch gelang es unabhängigen Listen bei den Wahlen von 1997, 11 von 380 zu vergebenden Man-date zu erreichen.202

Ab der Verfassungsänderung des Jahres 1989 war es auch anderen legalen politischen Par-teien möglich, Kandidaten für Präsidentschaftwahlen vorzuschlagen. Gemäß den Art 110f des Wahlgesetzes von 1989 musste eine Kandidatur jedoch von zumindest einer politischen Partei unterstützt werden. Zusätzlich benötigte ein Präsidentschaftskandidat die Unterstützungsun-terschriften von zumindest 600 gewählten amtierenden Volksvertretern. Nicht erfasst von die-ser Regelung blieb der amtierende Präsident.203

Mit der Reform des Wahlgesetzes 1997 entfiel die Voraussetzung für die Kandidatur bei Präsi-dentschaftswahlen, Unterstützungsunterschriften von politischen Parteien vorweisen zu

müs-200 Faath, Algerien. Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, 75ff 201 Faath, Algerien. Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, 84ff 202 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 236

203 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 237

sen. Präsident Bouteflika kandidierte demgemäß bei den Präsidentschaftswahlen 1999 und 2002 als parteiunabhängiger Kandidat.204 Die Hürde von 600 Unterstützerunterschriften sei-tens gewählter Volksvertreter wurde in den Wahlgesetzen jedoch bis heute beibehalten. Diese Voraussetzung stellte sich für viele Präsidentschaftsanwärter, selbst wenn sie auch relativ populär gewesen sind, als unüberwindliche Hürde dar. Der algerischen Regimeführung war es seit Mitte der 1990er Jahre sehr stark daran gelgen, die Kandidatur regimegefährdender Kan-didaten durch immer neue formale Hürden zu unterbinden. So zwingt Art 157 des Wahlgeset-zes 1997, Kandidaten auf das Präsidentschaftsamt, sich zur Einhaltung bestimmter politischer Spielregeln zu verpflichten. Inhalt dieser „Grundwerte“ und „leichter ideologischer Vorgaben“

war es etwa, davon Abstand zu nehmen, die Religion für politische Zwecke zu instrumentali-sieren oder die „demokratischen“ Einrichtungen der Verfassung in Frage zu stellen. Zudem hatten Kandidaten, die vor dem 1. Juli 1942 geboren waren, ihre Teilnahme am Unabhänig-keitskampf gegen Frankreich schriftlich zu belegen.205

Bis heute finden sich im Wahlgesetz Algeriens stark nationalistisch motivierte Regelungen. So legt etwa Art 125 des Wahlgesetzes 1997 fest, dass sich Kandidaten im Zuge des Wahlkamp-fes nicht ausländischer Sprachen bedienen dürfen. Diese Regelung zielt hauptsächlich auf das Französissche ab, das jedoch als Bildungssprache und zweite Muttersprache weit verbreitet ist. Unter die Fremdsprachenregelung viel bis zur Verfassungsänderung 2002 auch die Berber-sprache. Berberisch ist die Muttersprache von bis zu 30 Prozent der Algerier. Doch selbst diese Regelung konnte den Erfolg der Berberparteien der 1990er Jahre nicht verhindern.206 Die Wahlgesetze von 1991 (Art 130) und 1997 (Art 180) normieren ein strenges Verbot von Wahlwerbung innerhalb von Moscheen und Bildungseinrichtung. Dies war eine Reaktion auf Wahlempfehlungen der Imame im Laufe der 1990er Jahre, für die Islamistenpartei FIS zu stimmen.207

Insgesamt muss der algerischen Staatsführung attestiert werden, dass sie seit dem System-wechsel hin zum geöffneten Mehrparteiensystem fortwährend versucht, die politische Opposi-tion durch rechtliche Schikanen, nicht zuletzt über das Instrument des Wahlgesetzes, diskrimi-niert. Dies zeigt sich etwa auch in der Bestimmung des Wahlgesetzes von 1989, die den Wahl-kampf auf maximal 21 Tage limitiert. Die Opposition hat damit kaum Gelegenheit, ihr

Pro-204 Faath, Algerien. Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, 87 205 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 238

206 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 239 207 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 239

gramm an die potentielle Wählerschaft zu kommunizieren, die einseitige regimetreue Bericht-erstattung in den Medien trägt ihr Übriges dazu bei.208

6.3.2 Tunesien

Die tunesische Staatsführung verfolgte bei der Neugestaltung des passiven Wahlrechts ab dem Ende der 1980er Jahre ähnliche Ziele wie die algerische Staatsführung im Vergleichszeitraum.

Priorität hatte vor allem der Machterhalt der Staatspartei RCD in der Nationalen Volksver-sammlung und die generelle Verjüngung des Parlaments.

Mittels Verfassungsgesetz setzte die Regierung vor den Parlamentswahlen 1988, es waren dies die ersten Wahlen unter Staatspräsident Ben Ali, das Alter zum passiven Wahlrecht von 28 auf 25 Jahre herab. Bis 1997 wurde das Mindestalter zum passiven Wahlrecht auf 23 Jahre reduziert. Diese Maßnahme sowie die ständige Rotation der RCD-Parlamentsabgeordneten, verhalf der Staatsführung zur angestrebten Verjüngung des eigenen politischen Personals.209 In den Jahren ab 1988 modifizierte die tunesische Staatsführung das Wahlgesetz immer wie-der dahingehend, möglichst komplexe formale Hürden zu erschaffen, die darauf abzielten, die Kandidatur oppositioneller Listen zu erschweren. Art 91 des Wahlgesetzes in der Fassung vom Dezember 1988 legte fest, dass Kandidatenlisten pro Kandidat 75 Unterstützungsunter-schriften von registrierten Wahlberechtigten benötigten, um zur Wahl zugelassen zu werden.

Zugleich hielt die Staatsführung am Mehrheitswahlsystem fest. Dies führte zu einer starken Diskriminierung der meist schwach organisierten kleineren Oppositionsparteien. Zudem gilt es zu bedenken, dass die Anzahl der erforderlichen Unterstützungsunterschriften enorm anstieg, beabsichtigte eine Wahlliste, in allen 25 Wahlkreisen Tunesiens zu kandidieren. Lis-ten aus dem Umfeld der islamistischen Ennahdha gelang es trotz dieser gesetzlichen Schika-nen, landesweit bei den Parlamentswahlen 1989 bis zu 17 Prozent der Stimmen zu erreichen.

Trotzdem, oder wahrscheinlich eher deswegen, verweigerte das Innenministerium der Ennahdha im Juni 1989 die Zulassung als legale politische Partei.210

Ab 1993 änderte sich die Ausrichtung der Politik der Staatsführung im Hinblick auf Ausge-staltung des Wahlgesetzes. Die politische Gefahr, die von den Islamisten ausging, war durch das Ennahdha-Verbot gebannt, andere oppositionelle Parteien spielten aufgrund deren Organi-sationsschwäche ohnehin kaum eine Rolle. Mittels Organgesetz von Dezember 1993 wurde das Erfordernis der Unterstützungsunterschriften für Wahllisten abgeschafft. Die

Staatsfüh-208 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 239 209 Faath, Politische Opposition in Tunesien, 125ff 210 Faath, Politische Opposition in Tunesien, 125ff

rung strebte augenscheinlich nach einem demokratischeren Anschein der Zusammensetzung der Deputiertenkammer. Die Erleichterungen der Voraussetzungen des neuen Wahlgesetzes bezogen sich jedoch nur auf legale Parteien, nicht auf unabhängige Kandidatenlisten, letztere wurden weiterhin faktisch grob benachteiligt.211

Im Jahr 1988 veranlasste der noch junge Präsident im Amt, Ben Ali, mittels Verfassungsände-rung, dass die Amtszeit des Staatspräsidenten auf Lebenszeit abgeschafft wurde.212 Art 39 der Verfassung 1988 begrenzte die maximale Zeit einer Präsidentschaft auf drei Amtszeiten. Das Höchstalter eines Präsidenten wurde auf 70 Jahre begrenzt. Weiterhin restriktiv verhielt sich die Staatsführung bei der Gestaltung der Zulassungsbedingungen für potenzielle Präsident-schaftskandidaten. Art 66 des Wahlgesetzes von 1988 verlangte von Präsidentschaftskandida-ten 30 UnterstützungsunterschrifPräsidentschaftskandida-ten von AbgeordnePräsidentschaftskandida-ten der DeputierPräsidentschaftskandida-tenkammer. Alternativ dazu konnten potentielle Kandidaten auch Unterschriften der Präsidenten der Stadtparlamente vorlegen. Diese hohe Hürde führte bei den Präsidentschaftswahlen 1989 und 1994 dazu, dass es trotz formaler Abschaffung der Einheitskandidatur zu keiner Gegenkandidatur kam. Das Echo der internationalen Presse war dem entsprechend, von Seiten der Opposition und des Auslandes wurden Zweifel am Reformwillen der tunesischen Staatsführung immer lauter.-Diese Kritik veranlasste die Staatsführung, vor der Präsidentschaftswahl 1999 eine Verfas-sungsänderung zu beschließen. Art 40 der Verfassung wurde dahingehend ergänzt, dass zu den Präsidentschaftswahlen 1999 „ausnahmsweise“ auch Kandidaten zugelassen werden, die nicht über dreißig Unterstützerunterschriften von Parlamentariern verfügen. Jedoch musste es sich bei den Kandidaten um Vorsitzende legaler Parlamentsparteien handeln. Zusätzlich mussten sie den Vorsitz bereits seit mindestens 5 Jahren innehaben. Damit suchte sich Ben Ali seine Gegenkandidaten sozusagen selbst aus.213

Lediglich zwei Personen erfüllten diese Voraussetzungen, nämlich Abderrahman Tlili (dama-liger Vorsitzender der UDU), sowie Mohamed Belhaj Amor (dama(dama-liger Vorsitzender der PUP). Beide Kandidaten waren bei den Wählern bis kurz vor der Wahl wenig bekannt, bei den wenigen Wahlkampfinterviews hielten sie sich mit Kritik am amtierenden Präsidenten Ben Ali stark zurück. Nach offiziellen Angaben erreichten sie 0,2 bzw. 0,3 Prozent der Stimmen. Den-noch feierte die tunesische Presse die Präsidentschaftswahlen 1999 als die ersten pluralisti-schen Präsidentschaftswahlen, die den Demokratisierungsprozess des Landes manifestierten.

211 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 241

212 Faath, Anspruch und Grenzen der Demokratisierungsbestrebungen in Tunesien unter Präsident Ben Ali, 489 213 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 242f

Auch wenn die Präsidentschaftswahlen von 1999 mit freien pluralistischen „Auswahlmög-lichkeiten“ nichts zu tun hatten, schufen sie zumindest einen gewissen Mindeststandard, unter den die Staatsführung in der Zukunft bei der Modifikation des Wahlrechts nicht mehr zurück konnte. So entfernten die Verfassungsänderung 2002 und die daraus folgenden Gesetzesände-rung zur Wahl 2003 das Erfordernis der Unterstützungsunterschriften durch dreißig Volksver-treter endgültig. Die Ausnahme nach Art 40 aus dem Wahlgesetz 1999 wurde damit zur Regel.

214

Die theoretische Zulassung eines Gegenkandidaten bei Präsidentschaftswahlen machte eine weitere Verfassungsänderung 2002 nötig. Für den Fall, dass nach dem ersten Wahlgang keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte, sah die neue Regelung aus 2002 die Abhaltung eines zweiten Wahlganges vor. Im Jahr 2002 kam es schließlich auch zur Anhe-bung des Höchstalters für amtierende Präsidenten auf 75 Jahre, zugleich wurde die Limitie-rung auf zwei Wiederwahlen auf nunmehr drei erhöht. Dies ermöglichte Präsident Ben Ali die erneute Präsidentschafts-Kandidatur in den Jahren2004 und 2009.215

6.3.3 Marokko

Im Vergleich zu Algerien und Tunesien kam es in Marokko ab den 1980er Jahren zu keinen nennenswerten Anpassungen des passiven Wahlrechts. Die Opposition und die Staatsführung hatten sich ab Ende der 1980er Jahre stark angenähert, es bestand demgemäß auch kein gesteigertes Bedürfnis, die Position der verschiedenen oppositionellen Parteien mittels Wahl-rechtsreformen zu stärken. Im Jahr 1992 kam es dennoch durch eine Wahlrechtsreform zur Absenkung des passiven Wahlalters von 25 auf 23 Jahre.216

Insgesamt war die Politik des marokkanischen Monarchen seit den 1970er Jahren davon geprägt, politische Parteien zu fördern und in die Regierung zu integrieren. Demgemäß führ-ten auch die Regierungen der 1990er Jahre eine gewisse Form der Diskriminierung parteiun-abhängiger Listen fort. Seit 1984 waren parteiunabhängige Kandidaturen gänzlich untersagt.

Dabei handelte es sich um ein rein mündliches Verbot, dass Hassan II. durch Interpretation des Art 3 der Verfassung in Geltung setzte. Art 3 der Verfassung legte fest, dass politische Par-teien zur „Organisation und Repräsentation der Bürger“ beizutragen haben. Nach der Ausle-gung des Monarchen erfüllten freie Kandidatenlisten dieses Kriterium nicht. Das königliche

214 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 243 215 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 244 216 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 245

Verbot diente vor allem der Vermeidung einer größeren Zersplitterung der Politlandschaft und der Vermeidung von Kandidaturen islamistischer Listen.217

Vor der Änderung des Wahlgesetzes von 2002 war das Verbot der unabhängigen Kandidatur Gegenstand der Beratungen der Regierung zum neuen Gesetzesentwurf. Der Verfassungsrat erachtete ein absolutes Verbot unabhängiger Listen als verfassungswidrig. Im Wahlgesetz 2002 einigte man sich schließlich auf die Vorgabe, dass unabhängige Kandidaten bei Parla-mentswahlen 500 Unterstützerunterschriften benötigten. Diese Unterschriften mussten von Abgeordneten einer oder beider Parlamentskammern stammen. Alternativ dazu konnten die Unterstützungsunterschriften auch von Abgeordneten der Regional- und Stadtparlamente stammen. Ähnlich wie in Algerien dürften diese Einschränkungen dazu führen, dass sich eine Vielzahl an Listen als politische Parteien registrieren lässt, die über keinerlei Rückhalt oder Bekanntheit in der Wahlbevölkerung verfügt.218