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6. Exkurs: Die Entwicklung der Parteienlandschaft und die Wahlrechtsreformen

6.2 Das aktive Wahlrecht

182 Dirk Axtmann, Die gesellschaftliche Anbindung der marokkanischen Parteien, 21 183 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 155

184 Der aus dem arabischen stammende Begriff Makhzen fand in die deutsche Sprache Eingang als „Magazin“ und bezeichnet im Zusammenhang mit der marokkanischen Staatsführung die Verwaltung durch den Sultan ab den 1950er Jahren.

185 Anmerkung d.d.V.

6.2.1 Algerien

Das algerische Wahlrecht sah bereits 1962, anlässlich der Wahl zur verfassungsgebenden Ver-sammlung, ein allgemeines Wahlrecht vor. Die Verfassungen von 1963 bzw. 1976 billigten dem aktiven Wahlrecht Menschenrechtsschutz zu. Die Wahl der Nationalen Volksversamm-lung basierte auf dem Gedanken der Volkssouveränität, vorgesehen war die allgemeine, direkte und geheime Wahl. Das Wahlgesetz von 1962 gewährte Frauen wie Männern ab 21 Jahren gleichermaßen das aktive Wahlrecht. Angesichts einer sehr großen Zahl an unter 20 Jährigen Algeriern senkte die Regierung anlässlich der Präsidentschaftswahlen 1963 das Wahlalter sogar auf 19 Jahre herab. 1976 wurde das Mindestalter zum aktiven Wahlrecht auf 18 Jahre gesenkt. Die algerische Regierung setzte sich in den 1970er und 1990er Jahren das Ziel, so viele Algerier wie möglich zum Wahlgang zu mobilisieren. Dies schien der Staatsfüh-rung auch zu gelingen, im Vergleichszeitraum lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung zwi-schen 15 und 40 Prozent höher als in Tunesien bzw. in Marokko. Die bis in die 1980er Jahre hinein extrem hohe Wahlbeteiligung wurde auch durch erhebliche Druckausübung auf die Bevölkerung erreicht. Zudem waren auch etwa zwei Millionen Auslandsalgerier wahlberech-tigt.186

Zu Beginn der 1990er Jahre kam es zu einem drastischen Rückgang der Wahlbeteiligung in Algerien. Dies könnte einerseits auf einen massiven Vertrauensverlust in die Politik zurück-zuführen sein, andererseits soll es jedoch auch zum Ausschluss bestimmter Wählergruppen durch die Kommunalverwaltungen gekommen sein. Nachdem die Islamistenpartei FIS 1990 bei den Kommunalwahlen in weiten Teilen des Landes als Sieger hervorging, wurden die kommunalen Verwaltungen von den Islamisten dominiert. Diese sollen die Ausgabe von Wahlkarten an vermeintliche Anhänger der Regierungspartei FLN verzögert oder sogar ver-hindert haben.187

Gegen Mitte der 1990er Jahre gelang es der Regierung, die Wahlbeteiligung zumindest teil-weise wieder zu erhöhen. Dies erfolgte vor allem mittels staatlicher Einflussnahme auf das Wahlverhalten. Vor den Präsidentschaftswahlen 1995 wurden Soldaten und Angehörige der Sicherheitskräfte verpflichtet, ihre Stimme innerhalb der Kasernen abzugeben. Die Wahlbüros in den Kasernen waren zudem gänzlich der Kontrolle von Wahlbeobachtern entzogen, was zu einem einstimmigen Ergebnis für die regimenahen Parteien innerhalb der Sicherheitskräfte beigetragen hat. Vor den Präsidentschaftswahlen 2004 schaffte die Regierung jedoch die

Son-186 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 210f 187 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 213

derwahlbüros in den Kasernen aufgrund anhaltender Kritik und Unterstellung von Wahlmani-pulationen ab.188

Mitte der 1990er Jahre versuchte die Staatsführung, durch weitere Reformen des Wahlgeset-zes, die Stimmen der rund zwei Millionen Auslandsalgerier besser für die regimenahen Par-teien verwertbar zu machen. Die vorwiegend in Frankreich lebenden Auslandsalgerier galten als verhältnismäßig regierungskritisch, sprachen jedoch nicht in einem derartigen Ausmaß den Islamisten zu, wie dies etwa bei den Inlandsalgeriern der Fall gewesen war. Das Wahlgesetz aus 1989 sah noch vor, dass es zur Teilnahme an Wahlen für im Ausland lebende Algerier not-wendig war, sich in Wählerlisten in Algerien eintragen zu lassen. Eine Eintragung in Aus-landsvertretungen Algeriens, etwa in Frankreich, war nicht vorgesehen. Bei der Wahl selbst konnten sich die im Ausland lebenden Personen jedoch dann von Angehörigen vertreten las-sen. Aufgrund dieser beträchtlichen Hürden dürfte die Wahlbeteiligung der Auslandsfranzosen eher gering ausgefallen sein. Um also die wichtige Gruppe der Auslandsalgerier besser zu den Wahlen mobilisieren zu können, wurde das Wahlgesetz 1995 geändert. Fortan war es für im Ausland lebende Algerier möglich, sich bei den Auslandsvertretungen des Landes in die Wäh-lerregister eintragen zu lassen. Die Stimmenabgabe konnte ebenfalls im Ausland erfolgen.

Seit den Parlamentswahlen 1997 ist die Gruppe der Auslandsalgerier durch acht Abgeordnete in der Nationalen Volksversammlung vertreten.189

Eine brisante Besonderheit stellte die Möglichkeit der Stellvertretung im algerischen Wahl-recht dar. Das Wahlgesetz aus dem Jahr 1980 machte es möglich, dass ein Familienmitglied unter Vorlage des Familienbuches für die gesamte Familie wählen durfte. Dies führte oft dazu, dass Familienväter vor allem für weibliche Familienmitglieder das Wahlrecht ausübten. Art 50 des Wahlgesetzes von 1989 begrenzte die Stellvertreterwahl wieder auf maximal fünf in frem-dem Namen abgegebene Stimmen. Frauenverbände kritisierten das prinzipielle Beibehalten der Stellvertreterwahl scharf. Die Regierung war jedoch der Auffassung, dass diese Form der Stimmabgabe den Regierungsparteien half, das maximale Potential ihrer Kernwählerschaft auszuschöpfen. Letztlich kam es mit einer erneuten Änderung der Stellvertreterregelung im März 1990 zur Reduktion der Stellvertreterstimmen auf drei pro Wähler. Bei den Kommunal-wahlen Ende 1990 zeigte sich, dass die Stellvertreterwahl hauptsächlich dem islamistischen FIS zugute kam. Unter diesem Eindruck reformierte die Regierung das Wahlgesetz vor den Parlamentswahlen 1991 erneut. Es konnte nur noch eine Stimme stellvertretend für einen

188 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 214f 189 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 215

anderen Wahlberechtigten abgegeben werden, das Recht der Ehepartner, sich gegenseitig bei Wahlen zu vertreten, wurde gestrichen. Das Wahlgesetz von 1997 behielt die Stellvertreter-wahl für einen Wahlberechtigten bei. Art 62 schränkte jedoch den Personenkreis ein, der sich bei Wahlen vertreten lassen konnte. Fortan war die Stimmabgabe nur mehr für im Ausland Lebende, Behinderte oder Kranke erlaubt.190

6.2.2 Tunesien

Das Dekret vom Jänner 1956 räumte nur männlichen Tunesiern das aktive Wahlrecht bei der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung ein. Drei Jahre Später, im Wahlgesetz von 1959, wurde das allgemeine aktive Wahlrecht für beide Geschlechter normiert. Das aktive Wahlrecht knüpfte sich seither an die Vollendung des 20. Lebensjahres. Im Gegensatz zum algerischen Wahlgesetz, sieht das tunesische Wahlgesetz einen Ausschluss bestimmter Personenkreise vom aktiven Wahlrecht vor. Dieser Ausschluss umfasst Mitglieder des Militärs und der Sicherheitskräfte. Ebenfalls ausgeschlossen vom aktiven Wahlrecht sind seit jeher verurteilte Straftäter und Personen, gegen die ein Gerichtsverfahren anhängig ist.191

Auch nach dem tunesischen Wahlgesetz war es erforderlich, dass sich die Wahlberechtigten in Wählerregister bei den kommunalen Behörden eintragen ließen, um am Wahltag von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen zu können. Auslandstunesier sind nur zur Stimmabgabe im Aus-land für Präsidentschaftswahlen berechtigt.192

Bemerkenswert ist, dass seit den 1970er Jahren die Zahl der in die Wählerregister eingetrage-nen Wahlberechtigten stetig zurückgegangen ist. Waren es 1974 noch etwa 70 Prozent der Wahlberechtigten, waren anlässlich des Verfassungsreferendums 2002 nur mehr etwa 51 Pro-zent der Wahlberechtigten offiziell in Wählerverzeichnissen vermerkt. Ursächlich dafür schei-nen bewusste Maßnahmen der Staatsführung seit 1970 gewesen zu sein, die es, vor allem den zwischen 20 und 30 jährigen Wahlberechtigten erschwerten, sich in Wählerlisten eintragen zu lassen. Man fürchtete offenbar eine junge, gebildete und zugleich regimekritische Wähler-gruppe. Zudem finden sich in der Literatur auch Hinweise, dass die Regierung bis zuletzt ver-sucht haben soll, potentielle Sy mpathisanten der Oppositionsparteien vom Wahlrecht auszu-schließen.193 Das Sinken der Einschreibrate in die Wählerregister dürfte jedoch auch damit zusammenhängen, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seit der 1970er Jahre

190 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 217

191 Faath, Anspruch und Grenzen der Demokratisierungsbestrebungen in Tunesien unter Präsident Ben Ali, 489 192 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 217f

193 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 218f

in Tunesien vor allem für die jungen Menschen geändert haben. Viele flüchteten auf der Suche nach Arbeit und Bildung in die Städte, meldeten sich dort aber nicht ordnungsgemäß an und verzichteten dadurch auf die korrekte Eintragung in ein örtliches Wählerverzeichnis. Ins-gesamt kann jedoch, bei den zwischen 20 und 30 jährigen Tunesiern, vor allem ab den 1990er Jahren, ein großes Maß an Politikverdrossenheit beobachtet haben. Diese These wurde schließlich auch im Rahmen des arabischen Frühlings bestätigt, deren Initiatoren hauptsäch-lich junge Menschen waren. Um das Wählerpotential besser auszuschöpfen, begann die tune-sische Verwaltung im Jahr 2003 mit großem bürokratischem Aufwand, die Wählerregister einer permanenten Revision zu unterziehen. Bei Wahlen 2004 waren dadurch etwa 67 Prozent der Wahlberechtigten in Wahlregistern aufgenommen. Einen derart hohen organisatorischen Aufwand zur Führung der Wählerregister betreibt in Europa etwa nur Deutschland.194

6.2.3 Marokko

Bereits bei den Kommunalwahlen 1960 kam Marokkanern und Marokkanerinnen, ab Vollen-dung des 21. Lebensjahres, das aktive Wahlrecht zu. Anlässlich der Parlamentswahlen 1993 wurde das Wahlalter auf 20 Jahre, 2003 sogar auf 19 Jahre gesenkt. Angetrieben wurde die Regierung jeweils vom Bestreben, die jüngere Bevölkerungsschicht besser in das politische Geschehen zu integrieren. Wie in Tunesien sind Sicherheitskräfte und Militärangehörige vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Ebenfalls wie in Tunesien und Algerien müssen sich die Marokkaner in regionale Wahlregister eintragen lassen, um ihr aktives Wahlrecht ausüben zu können.195

Bei der Zahl der eingeschriebenen Wahlberechtigten in die Wählerregister ist seit den 1970er Jahren ein ähnlicher Trend zu erkennen wie im Falle Tunesiens. Vor den Parlamentswahlen 1977 waren offiziell etwa nur 79 Prozent der Wahlberechtigten in den Wählerregistern ver-zeichnet. Ursächlich dafür dürfte ebenfalls wie in Tunesien die Landflucht der jungen Bevöl-kerung gewesen sein. Es wird jedoch auch der marokkanischen Verwaltung unterstellt, seit der 1970er Jahren immer wieder Wählerregister manipuliert zu haben, um es vermeintlichen Anhängern der Oppositionsparteien zu erschweren, ihr aktives Wahlrecht auszuüben.196

Um die Glaubwürdigkeit der Reformbemühungen der marokkanischen Herrschaft in den 1990er Jahren zu unterstreichen, leitete der Monarch eine umfangreiche Revision der Wähler-listen vor den Parlamentswahlen 1993 ein. Dies war auch dringend erforderlich, um die

Oppo-194 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 220 195 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 220 196 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 221

sitionsparteien Pl und USFP auf legitime demokratische Weise in die Regierung zu integrie-ren. Die Verwaltung bediente sich dazu moderner Maßnahmen, wie etwa der Digitalisierung der Wählerlisten. Jeder Wahlberechtigte besitzt seither eine permanente digitale Wahlkarte, dadurch sollen doppelte Stimmenabgaben, wie in der Vergangenheit üblich, ausgeschlossen werden. Diese Neuerungen führten zu einem deutlich erkennbaren Anstieg der Zahl der einge-tragenen Wahlberechtigten anlässlich der Wahlen 1993.197

Das reformierte Wahlgesetz von 1997 führte zu einer Vereinheitlichung der Regelungen des aktiven Wahlrechts bezüglich aller Arten von Wahlen. Die Eintragung in Wählerregister wurde zur Pflicht, es wurde eine regelmäßige Revision der Wahlregister durch die örtlichen Verwaltungsbehörden eingeführt. Seit 1997 haben sämtliche politischen Parteien Zugriff auf die Wählerverzeichnisse. Vor den Wahlen 1997 kam es zur Bereinigung von etwa 4 Millionen falscher Datensätze im Wählerverzeichnis. Trotz der, durchaus als effizient zu betrachtenden, Neuerungen sank die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen von etwa 82 Prozent 1977 auf 51 Prozent im Jahr 2002. Dies ist nicht, wie dies etwa in Tunesien unterstellt wurde, auf den gezielten Ausschluss bestimmter Wählergruppen vom aktiven Wahlrecht zurückzuführen. Für die Marokkaner dürften Wahlen im Laufe der 1990er Jahre generell an Relevanz verloren haben. Im Unterschied zu den im Ausland lebenden Algeriern gewährt das marokkanische Wahlrecht bis heute den Auslandsmarokkanern keinen Zugang zu den Wahlen.198