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6. Exkurs: Die Entwicklung der Parteienlandschaft und die Wahlrechtsreformen

6.1 Die Entwicklung der politischen Parteienlandschaft

6.1.1 Algerien

Mit dem Zeitpunkt der Unabhängigkeit Algeriens 1962 hatte sich bereits in weiten Teilen der arabischen Welt das Modell des Einparteienstaats gefestigt. Doch im Unterschied zu Algerien durchliefen etwa Länder wie der Irak, Ägypten oder Syrien vor der Etablierung eines hegemo-nialen Herrschaftssystems Phasen von unterschiedlich akzentuierten Mehrparteiensystemen.

Das Einparteiensystem war naturgemäß am besten geeignet, um den Herrschern der noch jun-gen Staaten nach der Kolonialzeit möglichst großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum zu gewährleisten. Der Parteienpluralismus wurde als Gefahr für die „Einheit“ des Staates wahrgenommen. Im Falle Algeriens konnte sich der FLN aufgrund des Zusammenschlusses mit den Akteuren der Nationalen Befreiungsarmee, unter der Führung von Houari Boumedi-enne, dem späteren autoritären Staatspräsidenten des Landes, das Machtmonopol im Staat sichern. Die konstitutive Grundlage dafür bildeten die Verfassungen von 1963 sowie 1976, die

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den FLN als „Einheits- und Avantgarde-Partei“ installierten. Damit einhergehend wurden mit Gesetz von August 1963 alle übrigen politischen Parteien untersagt.158

Ein Umbruch hin zum Mehrparteiensystem und Parlamentarismus zeichnete sich gegen Ende der 1980er Jahre ab. Die Verfassungsreform von November 1988 beließ dem FLN zunächst die alleinige Vormachtstellung. Chadli Bendjedid, der damalige Staatspräsident, suchte zunächst mittels zaghafter Reformen innerhalb der Einheitspartei, das politische System für Einflüsse von außerhalb der Regierungspartei zu öffnen. Erwartungsgemäß stieß er damit auf heftigen Widerstand aus den Reihen des FLN. Dort war man an einer Minderung der eigenen Macht selbstverständlich nicht interessiert. Letztendlich bildete die reformierte Verfassung von 1989 den Schlusspunkt für den FLN als monopolistische Einheitspartei. Art 40 verwen-dete zwar nicht den Begriff „Partei“, jedoch spricht er davon, dass der Formierung zu „Verei-nigungen politischen Charakters“ Grundrechtsschutz zukommt. Das Misstrauen der Staatsfüh-rung gegenüber jeglicher Form der politischen Organisation kommt in der Ausgestaltung des Parteiengesetzes vom 5. Juli 1989 zum Ausdruck. Art 3 – 6 dieses Parteiengesetzes verpflich-ten die Akteure politischer Vereinigungen, zur Vertretung und Achtung der republikanischen Staatsform, der Demokratie sowie der Verfassung als Ganzes. Explizit untersagen Art 40 der Verfassung und das Parteiengesetz vom Juli 1989 Fanatismus, Intoleranz und Gewalt als Mit-tel zur Verfolgung politischer Ziele. Zudem legt Art 4 des Parteiengesetzes fest, dass die ara-bische Sprache als einzige zulässige in der offiziellen politischen Kommunikation zu verwen-den ist.159 Im Unterschied zu Marokko und Tunesien ging die algerische Staatsführung zwi-schen 1989 und 1991 mit der Vergabe von Parteilizenzen bemerkenswert großzügig um. Dies führte zur Zulassung von rund 60 neuen Parteien, die jedoch weder über eine nennenswerte satzungsmäßige ideologische Ausrichtung verfügten, noch durch eine breitere Zustimmung in der Bevölkerung etabliert und bekannt waren. Im Vergleich dazu erhielten bis 1989 nur 14 politische Parteien die legale Zulassung durch das Innenministerium. Doch die freigiebige Liberalisierungspolitik der Staatsführung war ausschließlich von eigenen Interessen getragen.

Zum einen stellte sich die Regierung als dem Zeitgeist entsprechende reformwillige Staatsfüh-rung dar, zum anderen trug die große Zahl an neuen Parteien zur ZersplitteStaatsfüh-rung der politi-schen Opposition vor den bevorstehenden Wahlen bei. Hinzu kommt, dass die Staatsmacht einzelne Personen aus ihren Reihen mit der Gründung von Kleinstparteien beauftragte, um auf diese Weise eine ungefährliche Opposition zu erschaffen. Als Beweis dafür gilt die bis heute

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159 Sigrid Faath, Algerien: Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, Hamburg 1990, 354ff

enorme Anzahl an Kleinparteien, deren Mitglieder nach wie vor aus Teilen der alten Eliten bestehen.160

Die ehemalige Einheitspartei FLN verfügte neben der islamistischen FIS zu Beginn der 1990er Jahre über die am weitesten verzweigten Organisationsstrukturen. Auch die finanziel-len Mittel der FLN überstiegen die der übrigen Parteien um ein Vielfaches. Aufgrund der großzügigen staatlichen Unterstützung verfügte der FLN zu dieser Zeit über geschätzte 13000 Mitarbeiter, darüber hinaus über Immobilien und Fahrzeuge. Dies machte ein Parlamentsbe-schluss aus dem Jahre 1987 möglich. Durch diesen BeParlamentsbe-schluss erhielt der FLN in voller Über-einstimmung mit dem damals gültigen Parteiengesetz eine staatliche Parteienförderung in der Höhe von umgerechnet 80 Millionen US-Dolar. Im Vergleichszeitraum flossen dagegen nur 8 Millionen US-Dollar an die übrigen Parteien. Aus diesem Grund kann Algerien bis zum Wahl-erfolg des FIS bei Kommunalwahlen und Regionalwahlen 1990 durchaus als Einparteienstaat bezeichnet werden. Der FLN verabsäumte es zu Beginn der 1990er Jahre, seine grundlegen-den politischen Strukturen zu erneuern, wie dies etwa innerhalb des tunesischen RCD der Fall war. Nur einige wenige altgediente Parteikader des FLN verzichteten zugunsten der jüngeren Nachwuchspolitiker der Partei anlässlich der Kommunalwahlen von Juni 1990 auf ihre Kandi-datur. Dies gilt als Hauptgrund für die deutlichen Wahlniederlagen der Jahre 1990 und 1991.

Schließlich führte die großzügige Auslegung des Parteiengesetzes durch das Innenministerium zwischen 1988 und 1991 auch zur Legalisierung einer unüberschaubaren Anzahl an islamisti-schen Parteien. Dies ungeachtet dessen, dass Art 5 des damals gültigen Parteiengesetzes detailliert normierte, dass die Aktivitäten einer Partei nicht ausschließlich von religiösen, sprachlichen oder regionalistischen Motiven geleitet sein durften. Der islamistische FIS erhielt im September 1989 seine legale Parteilizenz. Insgesamt muss davon ausgegangen wer-den, dass innerhalb des FLN und der Verwaltung eine nicht unerhebliche Zahl an Sympathi-santen der Islamisten zu finden waren. Der Staatsführung dürfte im Jahr 1989 kaum bewusst gewesen sein, welch hohes Maß an Zustimmung der islamistischen FIS entgegengebracht werden würde. Anlässlich des Wahlsieges bei Kommunal- sowie Regionalwahlen im Juni 1990 legalisierte das algerische Innenministerium weitere islamistische Gruppierungen um zumindest eine Zerstreuung auf Seiten der Islamisten zu erreichen. Erwähnenswert neben dem FIS erscheinen die beiden gemäßigten Islamistenparteien Mouvement de la Société Islami-que-Hamas und Mouvement de la Nahdha Islamique, bekannt als Ennahda.Beide erzielten jedoch nicht derartige Wahlsiege, wie es dem FIS gelang. Ende der 1980er Jahre erhielten

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jedoch auch rein regionalistisch motivierte Parteien, unter diesen befanden sich vor allem Gruppierungen der berberischen Ausrichtung, die Zulassung. Die neu erlangte Liberalität eröffnete auch Parteien wie der Parti de l'Avant-garde Socialiste, einer Nachfolgepartei der bereits 1963 verbotenen Parti Communiste Algerien, die sich bisher im illegalen Untergrund bewegte, den Weg in die Legalität. Ahmed Ben Bela, algerischer Präsident zwischen 1962 und 1962, kehrte 1988 aus dem französischen Exil zurück und gründete die gemäßigt islamistische MDA. Am anderen Ende des politischen Spektrums versuchten vormalige Mitglieder der Ein-heitspartei, sich mit der Gründung eigener Parteien vom alten politischen Umfeld abzugren-zen.161

Spätestens mit dem Wahlsieg des FIS vom Dezember 1991 musste die Staatsführung erken-nen, dass der Versuch, den Staat durch Einbeziehung möglichst aller politischen Kräfte, unter Beibehaltung der bestehenden Machtstrukturen, fehlgeschlagen war. Die Regierung stoppte den Wahlvorgang am 12. Jänner 1992 und sprach darauffolgend am 4. März des selben Jahres ein Verbot gegenüber des islamistischen FIS aus. Aufgrund des Verbots des in der Wahl sieg-reichen FIS stand die Staatsführung nun vor dem Problem, dass die verbliebenen Institutionen kaum mehr Legitimation fanden. Dieses Problem versuchte man zu entschärfen, indem man die verbliebenen legalen Parteien in beratende Institutionen wie den Nationalen Übergangsrat – dem sogenannten Conseil national de transition – miteinbezog. Da sich die Regierung des politischen Zündstoffes, der durch diese illegitime Vorgehensweise entstand, bewusst war, schloss sie mit zahlreichen politischen Parteien Versöhnungspakte. In diesen Pakten verpflich-teten sich die Parteien, auf Gewalt als politisches Mittel zu verzichten und die Regierung in ihrem Vorhaben zu unterstützen. So begann die Staats- bzw. Militärführung 1995 den Wahl-prozess wieder aufzunehmen, um so die Parteienlandschaft neu zu strukturieren. Dabei lernte man aus dem Fehler des FLN, der gegen Ende der 1980er Jahre und zu Beginn der 1990er Jahre einer Vielzahl an Parteien offizielle Parteilizenzen erteilte. Von 1995 an trachtete die Staatsführung danach, Neugründungen von Parteien durch eine strengere Handhabung des Parteiengesetzes einzudämmen. Mit der Einführung des eines neuen Parteiengesetzes 1997 waren die bestehenden politischen Parteien gezwungen, sich neu zu legitimieren. Dieses Gesetz stand unter dem Eindruck der Erfahrungen, die die Regierung zu Beginn der 1990er Jahre mit dem gewaltbereiten FIS gemacht hatte. Die Intention des neuen Parteiengesetzes sowie der Verfassungsbestimmungen, die die Gründung von politischen Parteien zum Gegen-stand hatten, war deutlich zu erkennen. Man versuchte die Parteien auf eine Art nationalen

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Pakt festzulegen, der verhindern sollte, dass die politische Opposition gegen die Regierung mobil machte. Bei diesem Pakt handelte es sich allerdings um kein, von beiden Seiten ausver-handeltes, Übereinkommen. Vielmehr handelte es sich um ein diktiertes Regelwerk, an das sich die Parteien zu halten hatten, wollten sie nicht riskieren, in die Illegalität zurückgedrängt zu werden. Art 42 der Verfassung 1997 normierte ungleich deutlicher als der entsprechende Art 40 der Verfassung aus 1989, dass sich politische Parteien vor allem nicht aufgrund von Religionszugehörigkeit zu bilden haben. Im seit 1997 zwingend erforderlichen Antrag auf Legalisierung mussten sich die Parteiführer durch ihre Unterschrift verpflichten, die Verfas-sung des Staates vollumfänglich zu respektieren und ihr nicht zuwider zu handeln.162

Der politischen Zersplitterung entgegenwirkend stellt sich auch das Parteiengesetz von 1997 insofern dar, als dass es die formellen Hürden zur Gründung einer Partei erheblich ver-schärfte. Auf diese Weise wurde es seither kleineren Parteien, die nicht in der Armee oder Verwaltung vernetzt waren, faktisch unmöglich, sich als Partei zu legalisieren. So legt Art 15 Parteiengesetz 1997 fest, dass nicht wie bislang 15 Unterschriften von Parteimitgliedern auf dem Legalisierungsantrag ausreichend waren, sondern nunmehr 25 Unterschriften bedarf.

Darüber hinaus waren weitere, detailverliebte Vorgaben bezüglich der Herkunft der Parteimit-glieder einzuhalten. Eine Partei muss außerdem über 2500 MitParteimit-glieder verfügen, die wiederum aus zumindest 25 Departements des Landes stammen. Die Registrierungspflicht des neuen Parteiengesetzes, der sich auch die bestehenden politischen Parteien zu unerziehen hatten, führte zu einer erheblichen Ausdünnung der bestehenden Parteienlandschaft. Etwa 30 Parteien wurden entweder verboten oder lösten sich auf. Ende 1998 soll es laut Angaben der algeri-schen Presseagentur nur noch etwa 20 verschiedene Parteien gegeben haben. In den darauffol-genden Jahren kam es jedoch trotz der restriktiven Handhabung des Parteiengesetzes zu etwa 30 Parteineugründungen. Diese Parteien, die im Wesentlichen über keine nennenswerte Ver-ankerung in der Bevölkerung verfügen, sind in den letzten Jahren lediglich durch die Unter-stützung des einen oder anderen Kandidaten zu Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen auf-gefallen.163

Im Laufe der 1990er Jahre wurde von Seiten des FIS mehrmals versucht, erneut die Parteili-zenz zu erlangen. Dies wurde jedoch vom Innenministerium stets unter Verweis auf das neue Parteiengesetz abgelehnt. Ebenfalls abgelehnt wurde die Legalisierung der Partei des ehemali-gen Außenministers Ahmed Taleb Ibrahimi. Dies wiederum mit der Begründung, bei der von

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ihm gegründeten „Wafa“ - zu Deutsch „Treue“ - handle es sich um eine Nachfolgeorganisa-tion des islamistischen FIS. Die zwei gemäßigten islamistischen Parteien verzichteten anläss-lich ihrer Neulegitimation 1997 in ihrer Bezeichnung auf das Wort „islamique“. Sie führen nunmehr den Namen Mouvement de la Société pour la Paix bzw. Mouvement de la Nahdha.

Insgesamt dürfte es der algerischen Staatsführung seit der Jahrtausendwende besser gelingen, einen – wenn auch kontrollierten – Parteipluralismus innerhalb der politischen Strukturen zu etablieren. Das algerische Politspektrum wird seit Ende der 1990er Jahre hauptsächlich von zwei Akteuren dominiert: von der vormaligen Einheitspartei des FLN einerseits und von dem 1997 vom damaligen Präsidenten Zéroual gegründeten Rassemblement National Démocrati-que (RND) andererseits. Danach folgen die beiden gemäßigten Islamistenparteien MSP und MN. Ihre Legalisierung im Jahr 1997 verdanken sie der Intention der Regierung, die Wähler, die zu Beginn der 1990er Jahre für die radikalen Islamisten des FIS gestimmt hatten, im poli-tischen Spektrum des Landes zu integrieren. Die MSP als auch die MN wurden in den letzten Jahren gleichsam mit Ministerposten versorgt. Die dritte politische Kraft stellen die regiona-listischen Parteien dar. Sie präsentieren sich als demokratische Alternative, die vor allem die berberische Bevölkerungsschicht vertritt. Beide regionalistischen Parteien, FFS und RCD, verloren zuletzt erheblich an Rückhalt aus den eigenen Kerngebieten, vor allem aber aus der Kabylei. Auch wenn sich die algerische Politlandschaft heute als Mehrparteiensystem dar-stellt, kann nicht geleugnet werden, dass durch das Verbot des islamistischen FIS zu Beginn der 1990er Jahre, sich die staatliche Führung der stärksten oppositionellen Kraft entledigte.164 Die politische Führung des heutigen Algerien war sehr erfolgreich darin, den Parteienpluralis-mus in seiner Substanz dadurch zu schwächen, dass man die legalen politischen Parteien um den, kurz vor den Parlamentswahlen gegründeten, RND gruppierte. Dieser wiederum war sei-nerseits stets auf Regierungslinie und ist es auch geblieben. Dadurch erzeugte die Staatsfüh-rung ihre eigene, ihr wohlgesonnene Opposition. Der RND bildet innerhalb der Nationalen Volksversammlung einen gemeinsamen Block mit dem FLN. Seit den Wahlen von 1997 gehö-ren der Koalition aus RND und FLN auch Vertreter der gemäßigten Islamistenparteien an.

Anhand der Kooptation des MSP wird deutlich, wie erfolgreich die Staatsführung bei der Sta-bilisierung der Machtverhältnisse zugunsten des Regimes vorgegangen ist. Teile der Literatur sprechen im Bezug auf den MSP sogar von einer Semi-Oppositionspartei. Diese Bezeichnung

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rührt aus dem Verhalten einer Partei wie dem MSP, die einerseits den oppositionellen Diskurs pflegt, andererseits jedoch im Kern auf Regierungslinie bleibt.165

Mit dem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen im Mai 2002 und der Übernahme des Präsiden-tenamtes durch Abdelaziz Bouteflika, übernahm der FLN wieder das Machtmonopol vom Koalitionspartner RND. Dies verdeutlicht auch, dass die ehemalige Einheitspartei des FLN auch heute noch über die besten Organisationsstrukturen, das größte Budget und dadurch über das größte politische Potential verfügt. Die Wähler werden durch Klientelpolitik an sich gebunden. Vor den Parlamentswahlen des Jahres 2004 kam es zu einer Spaltung innerhalb des FLN. Dies verdeutlicht, dass es sich bei der Regierung durchaus um ein fragiles Konstrukt aus verschiedenen Fraktionen handelt. Gerade vor Wahlen birgt das ein gewisses Maß an politi-scher Sprengkraft. Doch auch in den kleineren algerischen Parteien bieten interne Machtbe-gehrlichkeiten immer wieder Zündstoff. Dies zeigt sich am Zerfall des gemäßigt islamisti-schen MN anlässlich der Präsidentschaftswahlen 1999.166

6.1.2 Tunesien

Die tunesische Verfassung vom 1. Juni 1959 konzipierte, im Gegensatz zu den algerischen Verfassungen von 1963 bzw. 1976, den tunesischen Staat nicht als Einparteienstaat. Zum fak-tischen Einparteienregime kam es erst mit dem Verbot der Parti Communiste Tunesien am 8.

Jänner 1963. Anfang der 1970er Jahre gab es seitens der Regimepartei des PSD Forderungen, das politische System in Richtung eines pluralistischen Systems zu öffnen. 1973 bildete sich aus dieser Bewegung heraus eine politische Gruppierung. Sie konstituierte sich 1978 als Mou-vement des Démocrates Socialistes. Diese, kurz MDS genannte Gruppe um den ehemaligen Innenminister und um Mohamed Moadda und Ismail Boulehya, blieb vorerst ohne staatliche Legitimation. Schließlich wurde das MDS im Rahmen einer Welle der Liberalisierung unter Premierminister Mohamed Mzali, zu Beginn der 1980er Jahre, politisch aufgewertet. Durch diese Öffnung des Systems, zumindest im Hinblick auf die aus der Regierungspartei hervor-gegangene, moderate Oppositionspartei, versuchte die Staatsführung dem politischen Ein-fluss, der im Zuge der sozialen Unruhen Ende der 1970er Jahre an Rückhalt gewonnenen Gewerkschaften und islamistischen Bewegungen, zu begegnen.167

Erstmals ließ die Regierung zu den Parlamentswahlen imNovember 1981 neben der Staatspar-tei des PSD weitere ParStaatspar-teien auf eigenen Listen zur Wahl zu. Die Regierung stellte den

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pierungen, die bei den Wahlen 1981 eine Hürde von 5 Prozent erreichten, die offizielle Lega-lisierung in Aussicht. Eine Ausnahme von dieser formellen Hürde erhielt der kommunistische PCT. Dies aufgrund seiner tragenden Rolle im Unabhängigkeitskampf. Bei den Parlaments-wahlen im November 1981 kandidierten neben dem PSD auf eigenen Listen der kommunisti-sche PCT, der MDS sowie der Inlandsflügel des Mouvement Unioniste Populaire. Da die Opposition nicht über ausreichend organisatorische Strukturen verfügte, und dadurch in der Bevölkerung kaum verankert war, war es den Oppositionellen faktisch unmöglich, die Fünf-prozenthürde zu erreichen und damit Regierungsmandate zu erlangen. Ungeachtet dessen legalisierte das tunesische Innenministerium im November 1983 den MDS und die Parti d'U-nité Populaire (PUP). Dies diente dazu, zumindest äußerlich den Schein eines pluralistischen Staates zu erzeugen. Die Regierung verweigerte jedoch den Gruppierungen, von denen sie annahm, von ihnen gehe eine Gefahr für die Stabilität des Regimes aus, die Teilnahme an den Parlamentswahlen 1981. Das Regime war stets darauf bedacht, sich die Opposition durch selektive Auswahl einzurichten.168

Mit der Präsidentschaft von Zine El Abidine Ben Ali, beginnend am 7. November 1987, pro-klamierte die Staatsführung in mehreren öffentlichen Verlautbarungen, von nun an der politi-schen Opposition mehr Mitgestaltungsrechte zukommen lassen zu wollen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Gründung politischer Parteien stellte das Organgesetz Nr. 88-32 von 1988 dar. Dieses Gesetz war einmalig in der bisherigen Verfassungsgeschichte des tunesi-schen Staates seit Erlangung der Unabhängigkeit. Es ähnelte in seiner Tendenz sehr stark den algerischen Parteiengesetzen aus den Jahren 1989 bzw. 1996. Die Art 2 und 5 des Parteienge-setzes setzen Folgendes voraus: eine demokratische Binnenorganisation, die Achtung der Demokratie, der Verfassung, der Volkssouveränität, der arabisch-islamischen Identität sowie der republikanischen Staatsform; weiters fordert es das Respektieren sogenannter „Errungen-schaften der Nation“ ein. Damit meint das Gesetz etwa das tunesische Personalstatut von 1956, das Frauen einen bis heute in der arabischen Welt unerreichten Rechtsstatus gewährt.

Das Parteiengesetz untersagt politischen Parteien jegliche Form von fanatischen Aktivitäten, die geeignet sind, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit zu gefährden. Art 3 stellt zusätzlich klar, dass es Parteien untersagt ist, sich in ihren Programmen und Aktivitäten im „Kern“ auf eine Religion, auf ein Geschlecht oder auf regionalistische Elemente zu

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zen. Art 6 normiert, dass sich Parteien, die sich neu legalisieren lassen möchten, programma-tisch von bereits bestehenden Parteien zu unterscheiden haben.169

Der mit der Verfassungsreform 1997 ergänzte Art 8 der Verfassung brachte eine neuerliche Aufwertung der oppositionellen Parteien. Die neu eingefügten Absätze 3 – 7 beauftragten die Parteien, die Bürger an der Teilnahme am politischen Leben zu unterstützen. Weiters schreibt Art 8 seit der Reform 1997 vor, dass politische Parteien sich intern demokratisch zu organisie-ren haben. Allgemein haben Parteien unter Beachtung der Werte der Republik und der Men-schenrechte zu agieren.170

Im Vergleich zur äußerst liberalen Handhabung des Parteiengesetzes durch das algerische Innenministerium im Vergleichszeitraum, verhielt sich die tunesische Regierung zurückhal-tend. Es kam bei weitem nicht zu einer derartigen Legalisierungswelle, wie dies aus politi-schem Kalkül in Algerien der Fall war. Die tunesischen Behörden verweigerten vielmehr einer erheblichen Anzahl an Oppositionsparteien eine offizielle Parteilizenz. Bis zum Ende der 1980er Jahre legalisierte die Staatsverwaltung noch drei oppositionelle Gruppierungen, die das Regime als politisch unbedenklich einstufte. Dies führte, ähnlich wie in der algerischen Politlandschaft der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, zu einem durch restriktive Selektion beschränkten Pluralismus. Die Regierung ist seither recht erfolgreich darin, die Opposition

Im Vergleich zur äußerst liberalen Handhabung des Parteiengesetzes durch das algerische Innenministerium im Vergleichszeitraum, verhielt sich die tunesische Regierung zurückhal-tend. Es kam bei weitem nicht zu einer derartigen Legalisierungswelle, wie dies aus politi-schem Kalkül in Algerien der Fall war. Die tunesischen Behörden verweigerten vielmehr einer erheblichen Anzahl an Oppositionsparteien eine offizielle Parteilizenz. Bis zum Ende der 1980er Jahre legalisierte die Staatsverwaltung noch drei oppositionelle Gruppierungen, die das Regime als politisch unbedenklich einstufte. Dies führte, ähnlich wie in der algerischen Politlandschaft der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, zu einem durch restriktive Selektion beschränkten Pluralismus. Die Regierung ist seither recht erfolgreich darin, die Opposition