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3. Von der Kolonisation zur Unabhängigkeit

3.3 Marokko

Auch in Marokko, dem zweitgrößten Land des Maghreb stellen Berber mit 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung eine Minderheit dar. Wie im Rest Nordafrikas stellt der Islam auch in Algerien die Gemeinsamkeit der verschiedenen Völker dar. Mit dem 16. Jahrhundert etablier-ten sich die Alawietablier-ten in der Herrscherfunktion, diese gehen ursprünglich auf den Kalifen Ali zurück. Die Alawiten lebten hauptsächlich von der Piraterie, doch schon früh wurden ihnen von den Europäern Handelskonzessionen abgezwungen was dazu führte, dass dem Sultan erhebliche Einkünfte verloren gingen und dieser mehr und mehr dazu überging, Steuern im eigenen Land einzuheben. Dies verlangte die Verzeichnung des Landbesitzes in

Steuerkatas-51 Azzedine G. Massour, Rassemblement pour la Culture et la Démocratie, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of the Modern Middle East & North Africa, Bd. 3, 2. Auflage, Detoit/New York/San Francisco 2004, 1905

52 Laribi, L'Algérie des Généraux, 49ff

53 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 233

ter, doch die Zuweisung kollektiven Eigentums zu privaten Individuen widersprach der Jahr-hunderte alten Tradition der Berber. Diese begehrten gegen das Sultanat auf, dies führte zur ständigen Konfrontation des Sultans mit den Berbern. Modernere Militärtechnik im 19. Jahr-hundert ermöglichte eine Machtstabilisierung des Sultans. Doch dafür benötigte man erhebli-che Geldmittel, die man durch Auslandskredite aufbrachte, die kreditgebenden Länder erlang-ten im Gegenzug zur Sicherstellung weitere Handelskonzessionen.54 Ab 1880 gelang es den Franzosen, das Einverständnis des Sultans zum Landerwerb durch Franzosen zu erlangen.55 Da sich viele Stämme der Politik des Sultans widersetzten, kam es nie zu einer stabilen zen-tralen Führungsmacht des Sultanats. Vor allem Städte an den Handelsrouten sowie die Ulama fügten sich der Politik des Sultans nicht und begehrten immer wieder gegen den Sultan auf.56 Das Protektorat

Seit den 1880er Jahren eigneten sich die europäischen Großmächte immer mehr afrikanische Gebiete in Form von Kolonien an. Frankreich drängte das Sultanat in einen Protektoratsver-trag, was im Ende der Kolonisation gleich kam. Nachdem die Macht des Sultans im Inneren äußerst instabil war, erreichten Frankreich und Spanien letztlich auch ihr Ziel. Nachdem die Engländer sehr daran interessiert waren, im östlichen Mittelmeerraum freie Hand zu haben, nahm London wohlwollend zur Kenntnis, dass sich Frankreich im nordwestafrikanischen Marokko mehr und mehr etablierte. England und Frankreich einigten sich im Streit um Marokko und Ägypten. Frankreich einigte sich alsbald auch mit Spanien über die Aufteilung Marokkos in eine spanische sowie eine französische Zone. Eine Einigung mit Deutschland stellte sich zwar als weitaus komplizierter dar, letztlich stand Marokko jedoch ab 1914 unter spanischem und französischem Protektorat, wobei der flächenmäßig größte und wirtschaftlich wertvollste Teil den Franzosen zufiel. Fortan war es für den Sultan einfacher, gegen rebellie-rende Stämme vorzugehen, schließlich hatte er nun die französischen Kolonialtruppen hinter sich, was die Berberstämme jedoch nicht davon abhielt, sich weiterhin nicht dem Sultan zu unterwerfen. Die Machtkämpfe nahmen erst mit Beginn des zweiten Weltkrieges ein Ende, und auch wenn Frankreich ausschließlich aus eigenem Interesse eine einheitliche Staatsmacht etablierte, gereichte dies auch dem Sultan zum politischen Vorteil und Überleben. Das Land der nunmehr besiegten Berberstämme wurde enteignet und den getreuen Stammesführern zum Erwerb angeboten, dies bereicherte die Stämme ungemein und festigten die Loyalität

54 Mohammed Khallouk, Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas, Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden 2008, 99ff 55 Werner Ruf, Marokko, in: Dieter Nohlen und Franz Nuscheler Hrsg., Handbuch der Dritten Welt, Bd. 6, Hamburg 1983, 143f

56 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 236

dem König gegenüber. Die Stammesführer dienten dem König als Befehlsmittler zur Erfül-lung der Anweisungen der Kolonialmacht. Die Stammesführer ihrerseits konnten dafür ihre Angehörigen mit Ämtern und Arbeitsplätzen in der Administration versorgen. Eine derartige Entwicklung konnte in Algerien nicht stattfinden, da das enteignete Land dort französischen Siedlern zufiel. Die Protektoratspolitik unterschied sich grundlegend vom Vorgehen der Fran-zosen in Algerien: Hubert Lyautey sollte die Berberaufstände als erster Generalresident nie-derschlagen. Lyautey sah es als seine Aufgabe an, die historisch gewachsenen Herrschaftss-trukturen zu belassen, er wollte in Marokko die Ordnung und finanzielle Gebarung aufrechter-halten. Gleichzeitig verfolgte er das Ziel, das Land vor einer Kolonialisierung zu schützen. Er strebte damit die Selbstverwaltung Marokkos unter seiner Aufsicht an. Die militärische

„Befriedung“ des Landes sollte dennoch zielstrebig vonstatten gehen57 Konflikte mit den wei-terhin selbstbewussten Berberstämmen waren an der Tagesordnung. Angeführt von Abd el-Krim rebellierten 1921 die Stämme des Rif. Abd el-el-Krim stellte, ganz nach europäischem Vorbild, eine Streitmacht zusammen und vertrieb mit diesen in den Jahren darauf mittelfristig die spanischen Truppen. Aufgrund seiner Erfolge schlossen sich ihm immer mehr Stämme der Region an, zeitweilig entstand dadurch sogar ein Rif-Staat. Man schwächte sogar die Truppen auf französischem Gebiet in Marokko, doch war der politische Zusammenhalt der Rif-Stämme zu lose, als dass sich die Gruppierungen um el-Krim als einheitliches Machtgefüge zu etablieren vermochten.58 El-Krim kämpfte jedoch mit großer Verbissenheit gegen das Pro-tektorat, sodass es Spanien und Frankreich nur gemeinsam, unter Einsatz von Luftwaffe und Giftgas, gelang, die Rebellion niederzuschlagen, zum Teil dauerte dies bis 1934.59

In 40 Jahren Protektorat erlangte Marokko einen erheblichen Wirtschaftsaufschwung, franzö-sische Investoren wurden durch günstiges Land angelockt, Infrastruktureinrichtungen wurden geschaffen. Dies diente zwar hauptsächlich dem effizienteren Abtransport der Wirtschaftsgü-ter und Rohstoffe in Richtung Frankreich, ermöglichte aber auch das Entstehen eines wohlha-benden Mittelstandes in den Hafenstädten Marokkos. Doch auch diese Modernisierung auf vielen Ebenen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Marokko unter kolonialer Herrschaft befand. Die Nachfolger Lyauteys eine Zeit des forscheren Vorgehens in Marokko ein, französische Interessen wurden rücksichtsloser verfolgt. Dies äußerte sich vor allem darin, dass es französischen Siedlern sehr einfach gemacht wurde, Land zu erwerben.60 Und

57 Franz Ansprenger, Die Auflösung der Kolonialreiche, dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 13, München 1966, 90f 58 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 237

59 C. R. Pennell, Khattabi, Muhammad Ibn Abd al-Karim, in: Philip Mattar Hrsg., Encyclopaedia of Modern Middle East & North Africa, 2. Auflage, Detroit 2004, 1394ff.

60 Ansprenger, Die Auflösung der Kolonialreiche, 92

so kam es zu Entwicklungen, die geradezu typisch für Länder, die sich unter Protektoratsherr-schaft befanden, waren. Es bildeten sich kulturell heterogene oppositionelle Gruppierungen.

Die kulturelle Vielfalt kam der Kolonialmacht gelegen, die verschiedenen politischen Aus-richtungen verhinderten, da dieser Umstand eine breite gemeinsame Opposition verhinderte.

Doch es war weniger der französische Lebensstil, den die breite Masse ablehnte, sondern viel-mehr die Zwangsverwaltung und deren kulturellen und ökonomischen Benachteiligungen für die Einheimischen.

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde das Land zum strategischen Ausgangspunkt zur Planung der Vertreibung der Achsenmächte aus dem nördlichen Afrika.61 Das Protektorat wurde nach und nach zur Kolonie. Um diesen Entwicklungen entgegenzutreten, formierte sich 1944 die Einheitspartei Istiqlal. Sie vereinte Intelektuelle Linke wie Rechte mit der Forde-rung, das Protektorat zu beenden. Der Sultan, Mohammed V, der die Geschehnisse in den Kolonialgebieten sensibel beobachtete, stellte sich ab 1952 aktiv auf die Seite der anti-kolo-nialen Opposition. Zunächst begegnete die Kolonialführung diesen Entwicklungen mit aller Härte: Den Sultan wurde samt Familie ins Zwangsexil geschickt. Doch war die anti-koloniale Bewegung bereits zu stark, als dass man sie von Seiten der Kolonialmacht hätte einfach igno-rieren können. Der Sultan galt als Leitfigur der Freiheitsbewegung, die Ereignisse überschlu-gen sich und der Freiheitskampf hatte begonnen. In Frankreich gelangte man unweigerlich zum Schluss, dass man Marokko aus dem Protektorat entlassen müsse, um nicht in ein weite-res algerisches Debakel zu laufen. Man holte den Sultan aus dem Exil zurück, um mit ihm die Bedingungen für das Ende des Protektorats auszuhandeln. Im Jahr 1956 erlangte Marokko seine Unabhängigkeit, der Sultan Mohammed der V. nahm den Königstitel an.62

3.3.1 Die marokkanische Monarchie

Als die französischen Verwaltungsbeamten und Kolonialtruppen aus dem Land 1956 abzogen, wurden ihre Plätze in der Landesverwaltung durch Marokkaner gefüllt, die sich an die Spra-che und Kultur der Franzosen angepasst hatten und dadurch der Bildungsschicht angehörten.

Der König wusste stets die Balance zwischen den Bevölkerungsschichten zu halten, die unter-schiedlicher nicht sein konnten. Die Monarchie in Marokko schafft bis heute den Zusammen-halt eines Landes, das nicht zuletzt durch große Stadt-Land-Unterschiede geprägt ist. Europäi-sche Modernität prallt auf ländlichen Traditionalismus, und doch konnte sich Marokko als

61 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 238 62 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 239

einheitlicher Staat bis heute erhalten, dem König kommt dabei bis heute die wichtigste politi-sche und kulturelle Führungsrolle zu.

Mit dem Abzug der Franzosen gingen auch die Machtstrukturen verloren. Fortan musste sich der König seine Macht und Legitimation verdienen, indem er den Stämmen materielle Vor-teile zukommen ließ. Von den in den Städten organisierten Parteien und Gewerkschaftsver-bänden wurde der König respektiert und toleriert, doch gab es durchaus auch anti-monarchi-sche Strömungen, ein Teil der politianti-monarchi-schen Landschaft sah die Monarchie als nicht mehr zeitge-mäßes überkommenes Relikt an. Politisch am bedeutsamsten war die Antikolonialpartei Isti-qlal, deren Ziel, die Unabhängigkeit Marokkos mit 1956 eingetreten war. Fortan näherte sie sich stark dem Palast an, was vom linken Rand der Partei keineswegs begrüßt worden war, man verlangte mehr wirtschaftliche Aktivität des Staates und – dem Zeitgeist entsprechend – eine klare Distanz zur amerikanischen Außenpolitik. Es kam zur Spaltung und Gründung der Partei UNFP, die von Hassan II. kompromisslos aufgelöst wurde. Mit ausschlaggebend für die strikte Negierung jeglicher politischer Opposition war die Nachbarschaft zu Algerien, das sich nach der Unabhängigkeit dem Sozialismus der Zeit anschloss. Der Palast ließ ganz im Stil der Sowjetunion das gesamte Land bespitzeln um oppositionelle Bewegungen im Keim zu ersti-cken. Die Machtstrukturen ähnelten zu dieser Zeit sehr stark den algerischen Verhältnissen.

Der Monarch hielt sich mit großer Mühe und Hilfe des Militärapparats an der Macht. Wie in Algerien zu dieser Zeit kam es aus Machtstreben wiederholt zu Putschversuchen aus den eige-nen Reihen. Der spektakulärste Putschversuch war jener des Ineige-nenministers Mohammed Ouf-kir im Jahre 1972.63

1975 machte König Hassan II. einen wichtigen strategischen Zug. Um weitere Staatsstreiche zu verhindern, ließ er das Gebiet der Westsahara, das seit Abzug der spanischen Truppen in das marokkanische Staatsgebiet eingegliedert ist, vom Militär besetzen. Auf diese Weise sollte ein Gefühl des nationalen zusammenhangs erreicht werden. Das Gebiet der Westsahara ist seit jeher durch Kleinkriege umkämpft, die Wüstenbewohner fordern Autonomie, das Problem ist bis zum heutigen Tage nicht abschließend gelöst. Als sich zu Beginn der 1990er Jahre die gesamte Weltpolitik im Umbruch befand, drängten die westlichen Partnerländer Marokkos auf demokratische Strukturreformen. 1996 stimmte der König einer Verfassung zu, die zu einer sanften Parlamentarisierung führte. Realpolitisch bleibt der König bis heute das zentrale poli-tische Element. Dabei ist der König in Marokko anderen orientalischen Führern deshalb unge-mein im Vorteil, weil er seine Legitimation auf die behauptete Abstammung aus der Familie

63 Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika, 240

des Propheten stützt. Zum ersten Mal wurde die Regierung 1998 von Parlamentsabgeordneten gebildet. Die Besetzung der für den Monarchen heiklen Ministerien, wie dem Innen-, Jusitz-, Außen- und Religionsministerium, behielt sich Hassan II. selbst vor.64 Die Zusammensetzung der Regierung aus den unterschiedlichen politischen Strömungen spiegelt die Präferenzen des Königs wieder. Der König lässt von Zeit zu Zeit die Regierung umbesetzen, sofern der Palast es für nötig erachtet, um seine Interessen gewahrt zu sehen. Dabei wird im Grunde keine Par-tei in der Besetzung benachPar-teiligt, solange sie sich an die vom König ausgegebenen politi-schen Spielregeln hält. Auch eine moderat-islamische Partei wie die PJD gehört heute zum politischen Spektrum des Landes. Eine radikalere politische Gruppierung für Gerechtigkeit rund um Abd al-Salam Yassin, die auch offiziell gegen die Monarchie auftritt, hat bislang nicht um die Zulassung als offizielle politische Partei angesucht.65

3.3.2 Die kulturelle Vielfalt im alltäglichen Leben

Im Unterschied zum benachbarten Algerien spielt der kulturelle und sprachliche Unterschiede zwischen Muslimen und Berbern in Marokko keine dominierende Rolle. Da die Berber in Marokko ohnehin nicht einen derartigen Bildungsstand wie die Kabylen in Algerien vorzu-weisen hatten, und zudem im abgelegenen Bergland beheimatet waren, kamen sie nicht ein-mal in die „Verlegenheit“ hochrangige Ämter in Anspruch zu nehmen.66 Die Sprachpolitik des Regimes ist relativ tolerant, wenngleich auch hier Hocharabisch wie in Algerien die Sprache des Schul- und Universitätssystems darstellt. Dies ist auch als symbolischer Akt des Monar-chen an die muslimische Bevölkerungsschicht zu werten, schließlich leitet der König seine Legitimation von der Abstammung aus der Familie des Propheten ab. Die Perspektivlosigkeit vieler Marokkaner der jüngeren Generation eröffnet den islamistischen Parteien und Vereinen sowie den Muslimbrüder auch in Marokko gute Möglichkeiten zur Rekrutierung von Mitglie-dern. Sie bieten Perspektiven, die mit einer fundamentalen Islamisierung einhergehen. Im Zuge des Palästinenserkonflikts musste das Land wohl oder übel der Islamisierung im öffent-lichen Leben Raum geben. Seit Ende der 1990er Jahre versucht man auch, ein dem westöffent-lichen nachempfundenes Familienrecht zu etablieren. Im Jahr 2004 kam es zu einer umfassenden Familienrechtsreform, die von heftigen Protesten begleitet wurde. Insgesamt sind die realpoli-tischen Auswirkungen dieser Gesetzesänderungen bislang überschaubar.67 Der Übergang vom

64 Gregory White, The „End of the Era of Leniency“ in Morocco, in: Yahia A: Zoubir und Haizam Amirah-Fernandéz Hrsg., North Africa: Politics, Region, and the Limits of Transformation, London/New York 2008, 90ff

65 White, The „End of the Era of Leniency“ in Morocco, 94

66 Michael J. Willis, The Politics of Berber (Amazigh) Idenity, in: Yahia A. Zubir und Haizam Amirah-Fernandez Hrsg., North Africa: Politics, Region and the Limits of Transformation, London 2008, 233f

67 White, The „End of Leniency“ in Morocco, 99

Protektorat in die Unabhängigkeit gestaltete sich weitaus unproblematischer als in Algerien.

Das Königreich Marokko zeigt, dass orientalische Monarchien in der heutigen Zeit durchaus bestandsfähig sein können. Dazu bedarf es einer sorgfältigen Politik des Königs, einer Politik der Balance zwischen den Bevölkerungsgruppen, den traditionellen und modernen Sektoren, ohne diese gegeneinander aufzubringen. Es bedarf jedenfalls auch stetiger parlamentarischer Reformen und einer sorgsamen Beobachtung der Entwicklung und Reaktion auf die Gesell-schaft.68