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4. Die Legislativ- und Exekutivgewalt in den Verfassungen der unabhängig

4.3 Politische Parteien

4.5.1 Die parlamentarische Entwicklung von 1959 – 2011

In der Verfassung, die von Habib Bourguiba am 1. Juni 1959 verkündet wurde, war als Legis-lativorgan die Assemblée (Nationalversammlung) vorgesehen. Diese Verfassung sollte, mit eingigen Revisionen, bis zum 11. Dezember 2011 in Geltung stehen. In der Fassung aus 1959 fand sich noch keine Regelung über eine Auflösung des Parlaments. Ab 1976 wird die Parla-mentsauflösung indirekt von Art 46 geregelt, indem dieser festlegt, dass im Falle eines Not-standes der Präsident nicht zur Auflösung der Nationalversammlung ermächtigt war. Der Umkehrschluss legt also die Konsequenz nahe, dass außerhalb einer Notstandssituation die Parlamentsauflösung in den Kompetenzbereich des Präsidenten fiel. Da die Verfassung von 1959 der Exekutive, genauer gesagt dem Präsidenten, derart weitreichende gesetzgeberische

Kompetenzen einräumte, konnte von einer Machtaufteilung zwischen Legislative und Exeku-tive keineswegs die Rede sein.110 Die wichtigsten Gesetzesmaterien oblagen der Regierung zur Regelung über Verordnungen in autonomer Weise. Diejenigen Bereiche, deren Initiative zur Regelung dem Parlament überantwortet waren, fanden sich, gleich wie in den Verfassun-gen Marokkos und Algeriens dieser Zeit, in einer überschaubaren Positivliste. Parlament und Präsident teilten sich das Recht zur Gesetzesinitiative, wobei die sogenannten projets de loi des Präsidenten selbstverständlich priorisiert zu behandeln waren. Art 28 der Verfassung von 1959 erlaubte es dem Präsidenten zusätzlich, wenn auch aufgrund einer Ermächtigung des Parlaments, im Hinblick auf bestimmte Gesetzesvorhaben zeitlich begrenzt im Wege von Ver-ordnungen mit Gesetzescharakter zu regieren. Diese Form der Gesetzgebung durch den Präsi-denten, décret-lois genannt, ähnelte dem Recht zur Gesetzgebung mittels Ordonnanzen durch den Präsidenten in der algerischen Verfassung im Vergleichszeitraum. Bei einer Ordonnanz handelt es sich um ein Notverordnungsrecht des Staatsoberhauptes wie es auch in europäi-schen Verfassungen vorgesehen ist.111 Auf diesem Weg entstandene Verordnungen waren nach Ablauf der im Voraus zu bestimmenden Frist der Nationalversammlung vorzulegen und von dieser zu genehmigen. Für unliebsame Gesetzesprojekte, die aufgrund der Kompetenzvertei-lung vom Parlament verabschiedet wurden, sah Art 44 der Verfassung von 1959 – später Art 52 Abs 2 – vor, dass der Präsident deren wiederholte Behandlung im Parlament verlangen konnte. Zur endgültigen Verabschiedung war dann eine weitere Abstimmung erforderlich.

Diesfalls war jedoch eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments erforderlich. Wie im unabhängi-gen Marokko und in Algerien räumte auch die Verfassung Tunesiens in Art 32 dem Präsiden-ten weitreichende GesetzeskompePräsiden-tenzen im Kriegsfall ein. Die Verfassungsreform von 1976 erlaubte es dem Präsidenten zudem in Art 47, Gesetzesvorhaben, die sich auf institutionelle Einrichtungen des Staates auswirken, unmittelbar dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Die Kontrollbefugnisse des Parlaments gegenüber der Regierung waren innerhalb der Verfassung von 1959 eher marginal. Sehr rudimentär regelte Art 62 der Verfassung 1959 diesbezüglich, dass das Parlament „die Umsetzung der Politik der Regierung“ zu kontrollieren habe. Diese Regelung war in der Realität nicht mehr als eine leere Floskel, zumal die Regierung als solche nicht vom Parlament eingesetzt war. Diese Machtstrukturen innerhalb der tunesischen Verfas-sungen ab der Unabhängigkeit hatten bis ins Jahr 2011 weitestgehend unverändert Bestand.

110 Sigrid Faath, Anspruch und Grenzen der Demokratisierungsbestrebungen in Tunesien unter Präsident Ben Ali, in: Hanspeter Mattes Hrsg., Demokratie und Menschenrechte in Nordafrika, Hamburg 1992, 493f

111 Anmerkung d. d. V.

Bis zur Verfassungsreform im Jahr 1976 hatte der Präsident, nach dem bis dahin geltenden Art 32, nicht einmal Rechenschaft über Verordnungen gegenüber dem Parlament abzulegen. Erst seit der Reform 1976 ermöglichte es Art 61 den Parlamentsabgeordneten, schriftliche und mündliche Anfragen an die Regierung zu stellen. Ebenso seit der Verfassungsreform 1976 besteht ein Recht auf Einbringung eines Misstrauensantrages des Parlaments gegen die Regie-rung. Wurde der Misstrauensantrag von zwei Dritteln der Abgeordneten des Hauses unter-stützt, hatte der Premierminister beim Staatspräsidenten den Rücktritt der Regierung bekannt-zugeben. Der Staatspräsident konnte dann nach Auflösung der Regierung Neuwahlen anberau-men. Kam es gegenüber der neuen Regierung seitens des Parlaments erneut zu einem erfolg-reichen Misstrauensvotum, hatte dies formell den Rücktritt des Präsidenten zur Folge. Hierzu ist es jedoch zwischen 1959 und 2011 nicht gekommen.112

Zu einer, wenn auch eher formellen, Aufwertung der Volksversammlung, wie gegen Ende der 1980er Jahre in Algerien oder Marokko, kam es in Tunesien nicht. Die Verfassungsreform von 1988 brachte lediglich die Neuerung, dass im Falle des Todes des Staatspräsidenten oder des-sen zeitweilige Amtsunfähigkeit, nicht wie bis dahin der Premierminister das Präsidentenamt übernahm, sondern der Präsident der Volksversammlung. Ein etwaiger Interimspräsident hatte jedoch keineswegs die Befugnisse des Staatspräsidenten. Vor allem hatte er nicht die Befug-nis, Notstandsverordnungen zu erlassen, die Regierung aufzulösen oder, aus seinem kom-missarisch zu führenden Präsidentenamt heraus, als Staatspräsident bei den nächsten Wahlen zu kandidieren. Nach Art 57 der Verfassung von 1988 waren im Falle des Todes des Staatsprä-sidenten innerhalb einer Frist von maximal 60 Tagen Präsidentschaftswahlen durchzuführen.

Zu einer minimalen Erweiterung der Gesetzgebungskompetenzen des Parlaments kam es im Zuge einer Verfassungsreform im Oktober 1997. Dem Parlament fielen einige Kompetenzen im Hinblick auf die wirtschaftliche Öffnung des Staates zu. Mit der Änderung der Verfassung von 2002 kam es zur Neugestaltung der Quorenerfordernisse im Gesetzgebungsprozess. Auf-grund des neuen Art 28 war die absolute Mehrheit aller Parlamentsmitglieder fortan nur noch im Hinblick auf sogenannte Organgesetze notwendig. Zur Gruppe der Organgesetze zählten, ähnlich wie dies auch mit den Reformen der 1980er Jahre in Algerien der Fall war, all jene Gesetze, die den institutionellen Staatsaufbau mit samt seiner ausführenden Organe betrafen.

Für alle übrigen Gesetzesvorhaben genügte fortan eine einfache Mehrheit im Parlament. Es bestand dafür ein Anwesenheitserfordernis von zumindest einem Drittel der Abgeordneten.

112 Faath, Anspruch und Grenzen der Demokratisierungsbestrebungen in Tunesien unter Präsident Ben Ali, 493

Darüber hinaus kam es im Zuge der Reform von 2002 zur Einführung einer zweiten Parla-mentskammer. Diese ähnelte dem Oberhaus des algerischen Parlamentssystems.113

Hinsichtlich der spärlich ausgestatteten Kontrollrechte, die dem Parlament gegenüber der Regierung zukamen, kam es mit dem Amtsantritt von Zine El Abidine Ben Ali zum Staatsprä-sidenten zu einer, rein symbolischen, Neuerung. Mit Inkrafttreten der Reform vom 25. Juli 1988 war für die Abhaltung eines Misstrauensvotums gegen die Regierung nicht mehr wie bisher, die absolute Stimmenmehrheit der Volksversammlung nötig. Es reichte eine Stimme weniger, nämlich die Hälfte der Abgeordneten der Deputiertenkammer. Im Zuge eines erfolg-reichen Misstrauensantrags hatte der Staatspräsident ab 1988 verpflichtend den Rücktritt der Regierung anzunehmen. Jedoch entfiel die damit bislang einhergehende automatische Auflö-sung des Parlaments, diese blieb jedoch theoretisch gemäß den Art 62f eine verfasAuflö-sungsrecht- verfassungsrecht-lich mögverfassungsrecht-liche Konsequenz. Mit der Verfassungsänderung von 1988 wurde allerdings zugleich die Regelung entfernt, dass der Staatspräsident bei zwei aufeinanderfolgenden erfolgreichen Misstrauensvoten zurückzutreten hatte. Der Präsident hatte lediglich die Wahl zu treffen: ent-weder nahm er den Rücktritt der Regierung an, oder er veranlasste die gänzliche Auflösung des Parlaments. Erneut erleichtert wurde die Misstrauensantragsstellung mit der Reform der Verfassung aus 2002. Zur Einbringung eines Misstrauensantrages waren ab Juni 2002 nur mehr die Stimmen von zwei Drittel der Parlamentsabgeordneten erforderlich. Ebenfalls ermöglichte es die Verfassungsreform von 2002 jedem einzelnen Parlamentsabgeordneten, Anfragen an die Regierung zu richten, wobei die Regierung in regelmäßigen Abständen im Zuge der Parlamentssitzungen die Auskünfte zu den angefragten Themen zu erteilen hatte.114 Insgesamt kann gesagt werden, dass Tunesien bis zum Umbruch im Jänner 2011 tendenziell von allen drei Maghrebstaaten über den am geringsten ausgeprägten Parlamentarismus ver-fügte. Und obwohl Tunesien seit dem Jahr 1994 in formeller Hinsicht eine repräsentative Republik war, war die Staatsmacht, angeführt vom Langzeitpräsidenten Ben Ali, stark autori-tär geprägt. Die regelmäßig abgehaltenen Parlamentswahlen können kaum als frei und fair bezeichnet werden, die Einheitspartei RCD erreichte stets um 90 Prozent der Stimmen.

Wie in Algerien war auch das parlamentarische System Tunesiens seit der Erlangung der Unabhängigkeit für lange Zeit als Einkammersystem ausgestaltet. Erst im Zuge einiger, von Präsident Ben Ali im Jahre 2001 initiierter Verfassungsänderungen, kam es zur Etablierung

113 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 132f 114 Axtmann, Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika, 132

einer zweiten Parlamentskammer in Form der sogenannten „Rätekammer“. Das Verhältnis der Zusammensetzung der Rätekammer divergierte dabei von dem des algerischen Oberhauses. In Tunesien bestand nur ein Drittel der Senatoren aus Abgeordneten der regionalen Volksvertre-tungsorganen. Das zweite Drittel der Abgeordneten zum Oberhaus bestand aus Vertretern, die aus den verschiedenen beruflichen Interessensvertretungen stammten. Die Ernennung eines weiteren Drittels der Senatoren oblag, wie auch in Algerien, dem Staatspräsidenten.115

Die formale Austattung der Kompetenzen der Rätekammer war vergleichsweise schwach aus-geprägt. Ihr kamen keinerlei parlamentarische Kontrollrechte zu und auch im Gesetzgebungs-verfahren verfügte sie nicht über derart weitreichende Einflussmöglichkeiten, wie es im Ver-gleichszeitraum in Algerien der Fall gewesen ist. Der tunesischen Rätekammer fehlte es vor allem an der Möglichkeit, Gesetzesentwürfe, die von der Deputiertenkammer (1. Kammer) verabschiedet wurden, durch eigenes Gegenvotum zu blockieren. Die Rätekammer hatte lediglich die Möglichkeit, Änderungswünsche anzubringen, die jedoch für die Deputierten-kammer nicht verbindlich waren.116

Nach der kompetenzrechtlichen Austattung der tunesischen Rätekammer war diese kaum dazu geeignet, eine Kontrollinstanz des Parlaments darzustellen. Doch im Unterschied zu Algerien war dies wohl auch nie wirklich die Intention des tunesischen Präsidenten. Dieser konnte sich nämlich während seiner gesamten Amtszeit auf eine klare Mehrheit der Regierungspartei RCD in der Deputiertenkammer verlassen. Aus Sicht Ben Alis gab es also keinen Bedarf einer weiteren Kontrollinstanz, und so diente die Etablierung einer zweiten Parlamentskam-mer, mehr als in Algerien, der Erzeugung des Anscheins einer demokratischen Staatsstruktur nach dem Vorbild der französischen Verfassung von 1958.117