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61Zum Subjekt von Imperativen

2. Zur Forschung

Die oben genannten Beispielsätze zeigen, daß die Interpretation eines Satzes in bezug auf die Lokalisation im wesentlichen an Verben und Nomen hängt. Explizite Lokalisa- tionsmarker wie Adverben des Typs часто/вдруг und Pronomen wie каж дый/этот sind offensichtlich nicht die alleinigen Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, was durch ihre relativ geringe Vorkommenshäufigkeit bestätigt wird. Im folgenden möchte ich kurz zusammenfassen, was in der einschlägigen Forschung zu dieser Fragestellung gesagt worden ist.

Bondarko führt in seiner Klassifikation nichtepisodischer Aussagen (Bondarko 1987, 217-226) die drei Typen ״einfache Wiederholtheit“, ״Gewohnheit“ und ״zeitliche Ver- allgemeinerung“ an. Mit dem Anteil der beteiligten sprachlichen Mittel befaßt er sich dabei jedoch nicht. Er weist lediglich darauf hin, daß der Referenzstatus des Subjekts je- weils ein anderer ist. Auf den Beitrag von Tempus und Aspekt geht der Autor nicht weiter ein, obwohl er an anderer Stelle (Bondarko 1971, 62) die Grundeinstellungen in bezug auf Episodizität beschreibt, die den Tempus-Aspektformen des Russischen eigen sind. So weist die perfektive Präteritumform ständig das Merkmal ״episodisch“ auf.

Bondarko gibt keinerlei Hinweise auf die Herkunft der von ihm genannten Lokalisa- tions-typen.

Schauen wir uns nun eine weitere umfassende Monographie zum Thema Lokalisa- tion, die Doktorarbeit Smirnovs, an. die den Titel Типы временнбй локализованное־™

действия в русском языке trägt. Der Autor differenziert hier die von Bondarko ge- nannten Typen nichtlokalisierter Handlungen weiter aus. Die einzelnen Subtypen erge- ben sich hier aus solchen Merkmalen wie Erfahrungsbereich des Sprechers oder die Fra- ge, inwieweit ein genanntes Prädikat charakteristisch für den Handlungsträger ist. Mit Merkmalen dieser Art kommt der Autor zu einer enormen Vielzahl an Subtypen wie

Björn Hansen: Lokalisation: Testverfahren und Modellierung In: Dippong, H. (ed): Linguistische Beiträge zur Slavistik.

München: Sagner 1995. S. 7 Ì S 7

собственно рекомендательны е ситуации oder ситуации категорической невоз- м ож ности действия. Wie man sieht, bewegt sich der Autor auf einer sehr hohen sprachlichen Ebene, da er nicht nur auf satzsemantischer Ebene argumentiert, sondern sogar Sprechakte, also die Pragm atik, in seine Beschreibung der Lokalisation miteinbezieht. Doch auch hier erfahrt man nichts über die einzelnen sprachlichen Mittel, die an der Lokalisation beteiligt sind.

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Ähnlich geht es uns, wenn wir die anderen einschlägigen Arbeiten zum Thema (Ко- zinceva 1991, Mehlig 1983) zu Rate ziehen. Eine Ausnahme in dieser Beziehung bildet der Aufsatz Bulygina/Šm elev (1989). Er bietet einige wichtige Hinweise und zielt ebenfalls auf die Auflösung des Lokalisationsrätsels, indem einige sprachliche Faktoren genannt werden, die sich auf die Lokalisation auswirken. Die Autoren zeigen, daß es Prädikate gibt, die inhärent episodisch (бы т ь пьяны м ) bzw. nichtepisodisch (бы т ь п ьяни ц ей) denotieren.

Diesen Weg möchte ich im folgenden ebenfalls beschreiten. Bevor ich meine Heran- gehensw eise an Satzbedeutungen darlege, möchte ich ein Prüfverfahren zur Be- Stimmung des Lokalisationsstatus eines sprachlichen Elements entwickeln.

3. D er E rin n eru n g stest

Bei der Beschäftigung mit Referenz und Episodizität stellt sich die Frage, wie man am konkreten Sprachmaterial erkennen kann, welcher Lokalisationsstatus vorliegt. Wie be- stimmen wir, daß ein Verb episodisch oder ein Nomen spezifisch aufzufassen ist? Wir benötigen ein unabhängiges Kriterium, mit dessen Hilfe reale Sätze analysiert werden können. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß kaum einer der Autoren, die sich mit der Lokalisation befassen, sein Kriterium oder Testverfahren zur Einordnung konkreten Sprachmaterials nennt. Zum Teil drängt sich der Verdacht einer rein intui- tiven Zuordnung auf. So möchte ich im folgenden ein eigenes Kriterium entwickeln.

Hierbei versuche ich, eine Brücke zu schlagen zwischen den Ergebnissen der Ge- dächtnisforschung und der Linguistik.

Der kanadische Gedächtnisforscher Tulving stellt 1972 die These auf, das menschli- che Langzeitgedächtnis bestehe aus zwei komplementären Subsystemen: dem episodi- sehen und dem semantischen. Beide Systeme interagieren ständig miteinander, sind je- doch prinzipiell diskret. Der Autor (Tulving 1983, 1-58) definiert das episodische Ge- dächtnis als dasjenige System, das Informationen über zeitlich datierte Episoden oder Ereignisse und deren zeitlich-räumliche Beziehungen aufnimmt und speichert. Das se- mantische Gedächtnis hingegen enthält das in der Art eines mentalen Thesaurus organi- sierte W issen des Menschen über Wörter, deren Beziehungen untereinander, sowie die Regeln ihrer Verwendung. Wie die weiteren Ausführungen Tulvings zeigen, ist hier je- doch weniger das Wissen über Sprache als das Weltwissen gemeint, weshalb, wie der Autor zugibt, der Terminus ״ generisches Gedächtnis“, das ״ Weltwissen“ speichert, vor- zuziehen wäre. Die Gedächtniskonzeption Tulvings zeigt, daß Referenz und Episodizi- tat eine gewisse psychologische Realität aufweisen. Wie man sich die Korrelation der sprachlichen Kategorie der Lokalisation mit Gedächtnisstrukturen jedoch konkret vor- zustellen hat, ist bis jetzt noch nicht untersucht worden.

Tulving untermauert die von ihm postulierte Distinktion der Gedächtnissysteme mit dem Hinweis, daß es für die Aktivierung von Einheiten zwei unterschiedliche sprachli­

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che Bezeichnungen gibt. Aktiviert ein Sprecher eine Episode, gebraucht er gewöhnlich das Verb ״ sich erinnern“ , während er bei der Aktivierung des semantischen Gedächtnis- ses das Verb ״ wissen“ gebraucht. Auf dieser Basis schlage ich ein Testverfahren vor, das unter Verwendung des Lexems ״ sich erinnern“ , russisch пом нит ь die von uns ge- stellten Aufgaben erfüllt. Beginnen wir mit dem Referenzstatus der Nomen. Dieser läßt sich mit folgendem Satz, der sich auf den zu analysierenden bezieht, feststellen:

Test 1: X помнит этот Z

Für X sind je nach Sinn verschiedene Personen (я, т ы, он/она) einsetzbar. Z steht für das zu prüfende Nomen. Wenn sich eine prinzipiell sinnvolle Aussage über die an der Situation beteiligten Partizipanten ergibt, referiert das getestete Nomen spezifisch. An- dem falls haben wir es mit einem allgemein referierenden Nomen zu tun; vgl.:

Малыш плачет. —» Я помню этого малыша.

К оры то стоит в углу. —» Я помню это корыто.

Малыши любят сладости. —» *Я помню этих малышей.

Коры та теперь не выпускаются. —» *Я помню эти корыта.

Aufgrund dieses Testes können wir den Nomen м а лы ш , und к о р ы т о in den ersten beiden Sätzen den Status ״ spezifisch“ zuschreiben. Da die Testphrasen zu den Sachver- halten des dritten und vierten Satzes keinen Sinn ergeben, haben wir es mit allgemeiner Referenz zu tun. Der Test zielt nicht auf die Möglichkeit eines direkten Anschlusses im Diskurs. Es geht vielmehr um die Frage, ob über den Partizipanten Z der versprachlich- ten Situation prinzipiell gesagt werden kann, man erinnere sich an ihn. Der Testsatz muß sich also auf das konzeptuelle Abbild beziehen, das von dem zu prüfenden Satz etabliert wird, und darf kein neues Abbild schaffen. Da Partizipanten im Gegensatz zu Handlungen über eine gewisse Zeitstabilität im Sinne G ivóns' verfügen, kann über einen Partizipanten, der im Ausgangssatz im Präsens versprachlicht ist, auch im Präsens gesagt werden, man erinnere sich an ihn. Aus diesem Grunde können, wie oben ge- sehen, auch Sätze im Präsens getestet werden. Der Test funktioniert, da das Verb ״ sich erinnern“ die kognitive Prozedur der Lokalisation versprachlicht. Nur spezifische Refe- renten enthalten eine Art Lokalisationsindex, der sie ״ erinnerbar“ macht.

Nun mag man ein wenden, daß zur Feststellung des Referenzstatus eines Nomens ein solch komplizierter, ein einen ganzen Satz umfassender Test unnötig sei, da eine ana- phorische Wiederaufnahme des Referenten ausreiche. Man könnte die These aufstellen, daß man nur spezifische Partizipanten im Text wiederaufnehmen kann. Daß dies nicht der Fall ist, möchte ich an einem Beispielsatz erläutern. Wenn in der Literatur von refe- rentieller Ambiguität gesprochen wird, führt man Sätze der folgenden Art an:

Лена хочет выйти замуж за актера.

Einerseits könnte hierbei gemeint sein, daß Lena diesen Schauspieler bereits kennt und konkrete Heiratsabsichten verfolgt (spezifische Lesart); andererseits kann es sich auch um einen allgemeinen Wunsch Lenas handeln, wobei kein bestimmter Mann gemeint ist (allgemeine Lesart), ln beiden Interpretationen des Nomens акт ера ist eine anaphori- sehe Wiederaufnahme durch das Pronomen он möglich:

1 Givón 1979 (320) definiert Zeitstabilität in folgender Weise: ״ An entity (x) is identical to itself if it is identical only to itself but not to any other identity (y) at time a and also at time b which direcüy follows time a.“

Он работает в БДТ. (spez.)

Он должнен знать иностранные языки и иметь кучу денег, (allg.)

Daraus folgt, daß die Anwendung eines anaphorischen Pronomens allein nicht zur Fest- Stellung des Referenzstatus taugt.

Als nächstes muß ein Weg gefunden werden, das Lexem помнит ь auch zur Bestim- mung des Episodizitätsstatus von Verben nutzbar zu machen. Handlungen können jedoch nicht ohne weiteres anaphorisch wiederaufgenommen werden. Aus diesem Grund fehlt ihnen ein Pendant zum Pronomen эт о т . Daher schlage ich für den Test einen Rückbezug durch Nominalisierung vor. Im Russischen geschieht dies durch das Nomen случай, das wir in den Testsatz zur Referenzbestimmung einfügen können. Wir erhalten als Grundform:

Test 2: X помнит этот случай/эти случаи.

Лев ушел в джунгли. —» Я помню этот случай.

Cauia каждый день заходил. —» *Я помню этот случай.

Da bei der Handlung die zeitliche Dimension eine größere Rolle spielt als bei den Parti- zipanten, muß beim Testverfahren eine zeitliche Verschiebung vorgenommen werden.

Handlungen weisen im Gegensatz zu den Partizipanten keine Zeitstabilität auf. Das Verb пом нит ь wird dabei jeweils um eine Stufe in Richtung Nachzeitigkeit verscho- ben; d .h . ist der Ausgangssatz im Präteritum, steht der Testsatz im Präsens. Bei einem Satz im Präsens muß das Testverb im Futur stehen:

Малыш плачет. —» Я буду помнить этот случай.

Малыши любят сладости. —> *Я буду помнить эти случаи.

Ein großer Vorteil dieses Episodizitätstests gegenüber der Datierbarkeit liegt darin, daß er auf fast alle Verben gleichermaßen anwendbar ist. Ich spiele hiermit auf das von Marszk 1994 untersuchte Problem der Granularität von Verben an. Danach gibt es

״ grobkörnige“ Verben wie эмигрировать und ״ feinkörnige“ wie каш лянут ь.

Довлатов эмигрировал в Штаты.

Чиновник кашлянул.

W ollte man diese Verben mit dem Kriterium der Datierbarkeit auf Episodizität prüfen, brauchte man unterschiedliche Zeitmaße; vgl.:

Довлатов в 1978г./*сегодня в три часа эмигрировал в Штаты.

Чиновник *в 1978г./сегодня в три часа кашлянул.

Der von mir vorgeschlagene Test 2 ist hingegen in bezug auf Granularität weniger fest- gelegt und dadurch auf eine größere Anzahl von Verben anwendbar.

An dieser Stelle soll auf ein Problem verwiesen werden, das das zweite Testver- fahren nicht zu lösen vermag. Es handelt sich um Sätze, die allgemein referierende Nomen und ein episodisches Verb enthalten, Sätze, die schon den meisten Referenz- forschem Kopfschmerzen bereitet haben. Es geht um Aussagen über ganze Klassen wie

Коры та как домашняя утварь давно ушли из обихода.

Obwohl wir es hier allem Anschein nach mit einem episodischen Verb zu tun haben (уш ли ), gibt Test 2 eine negative Anwort: d h . er indiziert Nichtepisodizität: —» *Я помню эт от случай. Dies hängt damit zusammen, daß Test 2 Test 1 impliziert. Wenn ich sage, ich erinnere mich an den Fall Y, impliziert dies, daß sich die Partizipanten ebenso wie die Handlung im psychischen Jetzt befinden.

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