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Für einen sehr interessanten Forschungsgegenstand halte ich die Überprüfung der Existenz von einzelsprachlichen Präferenzen für bestimmte Bildungsmodelle, was na- türlich größere Korpora und zielgerichtete Detailuntersuchungen durch die verschieden- sten Fachgebiete voraussetzt. Die strukturelle und semantische Heterogenität dieser the- matischen Gruppe, die die Beispiele m.E. ausreichend belegt haben, bietet in dieser Hinsicht die besten Voraussetzungen.

Welche Bedeutung u .a. dem soziokulturellen bzw. kulturhistorischen Hintergrund bei der Interpretation der Etymologien einzelner Phraseologismen zukommt, soll im fol- genden an наговорить, наврат ь, нарассказать с т ри короба/сорок бочек арес- т ант ов mit der Bedeutung ״ очень много“ bzw. auch ״ очень много небылиц“ , ״ не- правдоподобного наговорить“ usw. demonstriert werden.

Für beide Phraseologismen existieren nicht wenige Deutungsversuche, die sich meiner Ansicht nach weniger auf linguistische Fakten als auf die Darstellung ihrer Ver- Wendungsbedingungen und -Situationen begründen. Ob dies die Händler, die soge- nannten коробейники, sind, die ihre Waren in besagten Körben feilbieten und dabei sehr viel reden, erzählen (Felycin/Mokienko 1985, 75) usw., oder ob das die Fischer sind, die über einen vermeintlich großen Fang berichten (Mokienko 1973, 153; 1980,

140).

Die Anwendung des von Eckert formulierten Leitsatzes, daß ״ die Komponentenkette selbst (Hervorh. von mir, A.L.-S.) die präphraseologische Wendung repräsentiert“

(Eckert 1991, 20), führt bei diesen Wendungen zu folgenden Erkenntnissen:

Erstens: Der Phraseologismus с т ри короба наговорить steht im unmittelbaren Zu- sammenhang mit der Wendung три короба, die die gleiche Bedeutung ausweist, aller- dings vorrangig mit abstrakten Substantiven verbindbar ist: три короба известий, но-востей usw. Die syntagmatischen Beziehungen zeugen in diesem Fall vom Wirken der ersten Phraseologisierungs- bzw. Abstraktionsstufe, bei der sich die denotative Gerich- tetheit vom Konkreten zum Abstrakten vollzogen hat. Auf dieser Grundlage basiert der Vergleich с т ри короба, dh., das ״ reale Maß“ von konkreten Gegenständen hat sich über das von abstrakten Dingen zum Maß bestimmter Handlungen entwickelt. Im Er- gebnis dieser nochmaligen Metaphorisierung ist diese Spracheinheit zum Kreis der Idio- me getreten.

Zweitens: Сорок бочек арестантов. Der Zankapfel ist bekanntlich die Komponente арестант, die entweder auf das auch uns geläufige Arrestant zurückzuführen ist oder auf die nur in einem nordrussischen Dialekt bekannte Bezeichnung eines kleinen Dörrfi- sches. Die Verbindung von сорок бочек, eine im alten Rußland gebräuchliche Maßan- gäbe, mit der Bedeutung ״ sehr viel“ gilt in der einschlägigen Literatur als unbestritten.

Überprüfen wir deshalb die Wortgruppe im ganzen, einschließlich der Verbalkompo- nente. Wenn наговорить сорок бочек арестантов übersetzbar sein soll mit ״ über 40 Fässer Dörrfisch, d.h. über einen sehr großen Fang reden“ , dann fällt zunächst der Ge- brauch des Akkusativ nach dieser semantischen Klasse von Verben auf, der laut Vino- gradov und Potebnja bis ins 19. Jahrhundert hinein Anwendung fand (Vinogradov 1972, 547), also durchaus die These von Mokienko bestätigt. Das Problem und die Zweifel liegen wohl eher darin - und hier kann ich der Ansicht von Šunejko (1991, 147f.) nur zustimmen -, daß арестант in der Bedeutung ״ малая сушёная рыба“ in die Volks- spräche überhaupt eindringen und sich über das russische Sprachgebiet bis ins polnische

hinein durchsetzen konnte. Wörterbucheinträge verweisen weder auf diesen Wortge- brauch noch auf den entsprechenden Phraseologismus, d .h ., seine Existenz beruht vor- wiegend auf mündlicher Überlieferung, die aus bestimmten Gründen sehr stark moti- viert gewesen sein muß.

Ein derartiger Motivationsschub ist m .E. nur mit einem dem phraseologischen Bild zugrundeliegenden Alogismus, d.h. mit etwas Ungewöhnlichem, Unnatürlichem, zu begründen, was laut Šunejko seine Tradition in der Spottkultur des russischen Volkes hat. Parallele Bildungen wie сорок кадушек солёных лягуш ек, сорок ш ест ов соба•

чьих хвост ок usw. (148) lassen die Herkunft von сорок бочек арест ант ов (арес- т ант —» ״ заключённый“) in diesem Sinne plötzlich in einem ganz anderen Licht er- scheinen. Diese Argumente scheinen auch Mokienko unsicher gemacht zu haben, denn er verzichtet in der 2. überarbeiteten Auflage seines Werkes auf die bisherige Interpreta- tionsweise (1989, 179), konnte sich allerdings auch nicht für eine andere Darstellung entschließen.

Aus semantischer Sicht bleibt zu klären, in welchem Verhältnis das quantitative Sem zu dem Sem ״ неправдоподобное“ bzw. ״ небылица“ steht, ob letzteres situationsbe- dingt hinzutritt oder immer expliziert wird usw. Diese Informationen sind unabdingbar für eine adäquate lexikographische Bearbeitung und Beschreibung dieser und seman- tisch ähnlich strukturierter phraseologischer Vergleiche, deren Bedeutung sich oft in mehrere Sembündel aufspalten läßt, vgl.:

есть, съедать за двоих -» ״ sehr viel (und gierig) essen“

кълна кат о мащеха —» ״ sehr viel und bösartig fluchen“

струваме, събираме се кат о —> ״ sich in großer Zahl und in freudiger

Er-кот ки на сирене Wartung versammeln“

rosnąć ja k grzyby po deszczu —» ״ sehr zahlreich und schnell wachsen“

128 Anke Levin-Steinmann

Zur Ergebnissicherung auf semantischer Ebene wäre dabei sehr hilfreich, ergänzende Untersuchungen auf dem Gebiet der semantisch-paradigmatischen Beziehungen zwi- sehen den Phraseologismen durchzuführen, denn Tests zur Eruierung synonymischer und antonymischer Verhältnisse sind bestens geeignet, Rückschlüsse auf die Mikro- struktur einer Spracheinheit zu ziehen.

Die theoretischen Grundlagen für diesbezügliche Analysen sind im großen und gan- zen gelegt, nun geht es um die praktische Umsetzung, die selbstverständlich nur schritt- weise erfolgen kann. Die zielgerichtete Bearbeitung von phraseologischen thematischen Gruppen scheint mir in diesem Zusammenhang die erfolgversprechendste Methode, weil diese überschaubar bleiben.

Die Medaille hat natürlich auch eine - in diesem Fall sehr nützliche - Kehrseite.

Die Ermittlung von antonymischen und synonymischen Beziehungen kann ebenso Ziel entsprechender Untersuchungen sein, deren Relevanz für das Wissen über Sprache inzwischen allgemein erkannt wurde, was sich allmählich auch im Erscheinen phraseo- logischer Synonymwörterbücher niederschlägt. Im slawischen Sprachraum ist mir nur für das Russische ein solches Werk bekannt, das 1987 unter der Leitung von Žukov herausgegeben wurde.

Bei allen Vorzügen dieses Wörterbuchs muß in bezug auf das vorliegende Thema kritisch angemerkt werden, daß die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Phraseologismen nicht genügend Beachtung fanden, sonst wären Elemente der zu dis- kutierenden phraseologischen Gruppe nicht an mehreren Stellen, manchmal ohne Ver- weis aufeinander, aufgefuhrt worden.

Die Herausarbeitung eines effizienten Verweissystems ist für diesen Wörterbuchtyp ein äußerst wichtiger Faktor, z. В . um die Relationen zwischen den Synonymgruppen einer Synonymreihe darzustellen oder auch auf antonymische Beziehungen zu verwei- sen. Der Oberbegriff ״ sehr viel“ hätte in Abhängigkeit von den syntagmatischen und syntaktischen Eigenschaften der Phraseologismen mindestens zwei Synoynmgruppen, und zwar:

adverbiell attributiv

ям за трима кииімя кишат

наговорить семь верст до небес несть числа полтора человек по ушиіро uszy

по горло!po gardło usw.

Zum Zwecke der Erreichung einer höchstmöglichen Benutzerfreundlichkeit, u.a. für die Zielgruppe Fremdsprachenlemer, ist es unbedingt notwendig, Angaben zur lexikali- sehen Verbindbarkeit zu machen. Der Benutzer muß erkennen können, daß к и ш м я кишат nur hinsichtlich bestimmter Lebewesen (Insekten usw.), полтора человек auf Personen und по уш и, по горло bzw. po gardło auf Abstrakta wie Sorgen, Arbeit etc.

anwendbar ist. Ebensowenig macht es Sinn, Vergleiche ohne tertium comparationis an- zugeben. Werden diese und andere Überlegungen konsequent beachtet, ist ein Syno- nymwörterbuch mit entsprechenden Registern, das evtl. nach onomasiologischem Ord- nungsprinzip gestaltet wurde, in der Lage, über alle paradigmatischen Beziehungen Auskunft zu erteilen. Ohne Schwierigkeit wird man unter diesen Voraussetzungen das Antonym zu ям за трима finden: ям като врабче sowie eine Vielzahl von Antony- men für die attributiv funktionierenden Phraseologismen.

Es ist natürlich zu fragen, ob diese speziellen Angaben überhaupt einen allgemeinen Nutzen über den linguistischen, d h . wissenschaftlichen, hinaus bringen, denn eins ist sicher, spezielle phraseologische Antonymenwörterbücher werden schon aus marktwirt- schaftlichen Gründen kaum veröffentlicht werden. Zwei Anwendungsbereiche seien an dieser Stelle genannt. Zum einen sind Antonyme hilfreich, sprachliches Wissen zu ord- nen bzw. zu systematisieren und zum anderen fördert die Arbeit mit Antonymen im Fremdsprachenunterricht die Behaltensquote von Spracheinheiten.

Eine optimale Basis für diesen Bereich würden m .E. thematische phraseologische Wörterbücher bilden, deren Aufbau nicht allein von Begriffen oder Begriffskomplexen bestimmt wird, also ״ reine“ Synonymwörterbücher darstellen, s. Jarancev 1976/78, Igli- kowska/Kurkowska 1963/66 und Schemann 1992, sondern von Synonymie- und Anto- nymierelationen der Phraseologismen, die diese Begriffe bezeichnen. Die Vorteile eines derartigen ״ Informationsspeichers“ zu solchen umfangreichen Themen wie ״ sehr viel“

und ״ sehr wenig“ sind offensichtlich. Leider handelt es sich hierbei momentan nur um eine Idee, d .h . um lexikographische Zukunftsmusik, deren Verwirklichung leider noch eine unbestimmte Zeit auf sich warten lassen muß.

Quantitative Phraseologismen 129

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Quantitative Phraseologismen 131

Il

G r a n u l a r i t ä t , W a h r n e h m u n g u n d s e n s u m o t o r i s c h e E r f a h r u n g

Doris Marszk, Hamburg

Einleitung

Granularität ist ein Phänomen, das oft erst dann bemerkt wird, wenn es in einem gestör- ten Zustand auftritt. Diese Störung wird dann meist als witzig empfunden, und daher wird sie auch gern bewußt herbeigeführt, um einen komischen Effekt zu erzielen wie z.B . in folgendem kleinen Dialog aus Hašeks ״ Osudy dobrého vojáka Švejka“ :

״ Tedy po válce, v šest hodin večer!“ kričel ze zdola Vodička.

״ Prijd’ radēji vo pul sedmÿ, kdybych se nëkde vopozdil,“ odpovidal Švejk. (Hašek 1962, 360)י

Witze dieser Art sind weder auf das Čechische noch überhaupt auf irgendeine Sprache beschränkt. Auch lassen sich diese Witze problemlos von einer Sprache in die andere übersetzen, was zeigt, daß das, was ihm zugrundeliegt, keine einzelsprachliche Eigen- heit ist. Überdies ist die Kombination von Uhrzeitangaben und großen Entitäten, ausge- drückt durch Substantive nicht das einzige Verfahren, um Witze dieser Art zu produzie- ren. Es ist zwar vermutlich recht beliebt,2 doch lassen sich diese Inkompatibilitätseffek- te genauso gut durch die Kombination zweier Prädikate verschiedener Granularität her- stellen, etwa

*The water boiled then World War II started. (Prince 1982, 150)

Die Inkompatibilität entsteht durch die Verknüpfung eines feinen Verbs (oder Prädi- kats), das eine ״ kleine“, detaillierte Handlung denotiert, mit einem groben Verb, das einen komplexen oder abstrakten Vorgang bezeichnet. Texte oder Sätze, die keine In- kompatibilität dieser Art aufweisen, haben eine homogene Körnigkeit oder Granularität, und solange diese Homogenität im großen und ganzen aufrechterhalten wird (was in der Regel der Fall ist), bleibt die Granularität ein unauffälliges Phänomen.

Bei meiner Beschäftigung mit der Granularität geht es mir vor allem um Verben und verbale Prädikate. Auf den beiden vorangegangenen Jungslavistentreffen habe ich das Phänomen bereits vorgestellt (vgl. Marszk 1994) und gezeigt, daß Granularität eine le- xikalische Kategorie sui generis ist und sich nicht mit bereits bekannten Kategorien wie etwa Aktionalität, Episodizität /Nichtepisodizität oder Dauer erfassen läßt (vgl. Marszk 1995). Nachdem geklärt ist, was Granularität nicht ist, soll jetzt eine Antwort auf die Frage versucht werden, was - positiv gewendet - Granularität eigentlich ist. Dabei

1 ,.Also nachm Krieg, um scchs Uhr abends!44 schrie Woditschka von unten.

״ Komm lieber um halb sieben, wenn ich mich irgendwo verspäten möcht,“ antwortete Schwejk.

(Deutsche Übersetzung von Grete Reiner in: Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Reinbek 1982, 398)

2 Eine ähnliche Konstruktion findet sich z.B. auch in Jostein Gaarder: Sophies Welt. München.

Wien 1993, 202: ״ ,Das Mittelalter fängt um vier Uhr an?' fragte Sophie verdutzt.“ (Hier wird jedoch anschließend der Bruch in der Granularität aufgehoben; die Uhrzciten 4.00 bis 14.00

werden zu einer Art Allegorie für die Epochen des Mittelalters (400 - 1400)).

Doris Marszk: Granularità/. Wahrnehmung und sensumotorische Erfahrung ln: Dippong. H. (ed): Linguistische Beiträge zur Šlavistik.

München: Sagner 1995. S. 133-146

möchte ich von der Annahme ausgehen, daß das Phänomen der Granularität eng mit un- seer Wahrnehmung und unserer sensumotorischen Erfahrung der Welt verknüpft ist.

In den folgenden drei Kapiteln sollen Ergebnisse aus der Forschung über die ver- schiedenen sensumotorischen Erfahrungen vorgestellt werden. Anschließend versuche ich zu zeigen, inwiefern ein Zusammenhang zwischen diesen sensumotorischen Erfah- rangen und der Granularität anzunehmen ist.

Sehen, Greifen, Bewegen

Die Forschung auf dem Gebiet des Sehens ist bis in die heutige Zeit von einer an den physikalischen und physiologischen Gegebenheiten orientierten Herangehensweise ge- prägt. D .h. man beschäftigt sich mit Bau und Funktion des menschlichen Auges oder um die physikalischen Gesetze der Lichtbrechung. Auch in der Wahmehmungspsycho- logie ist das Forschungsinteresse auf bestimmte Themen beschränkt; hier werden vor allem optische Täuschungen oder Wahmehmungsprinzipien wie Figur-Grund, Gleiches Schicksal u.ä. behandelt.

Erst in jüngster Zeit hat man begonnen, das Sehen unter einem anderen Gesichts- punkt zu untersuchen. Während bisher Sehen als etwas aufgefaßt wurde, das dem Men- sehen (oder dem Lebewesen) widerfährt3, wird nun das aktive Sehen, nämlich Sehen als intentionaler Vorgang, in den Vordergrund gerückt:

Da Sehen in Lebewesen nicht vom Verhalten getrennt werden kann, hat Sehen eine Aufgabe und ist sowohl willentlich und zweckbezogen als auch interagierend mit der physikalischen Welt an sich: Orientieren und Navigie- ren im Raum-Zeit-Kontinuum, Suchen von Nahrung, Auswahlen von Fort- pflanzungspartnem, Umgehen von Feinden, Auffinden von Gegenständen, Bestimmen von gegenständlichen Zielen, Planen von Routen durch das Ge- lande und Explorieren von mitunter unbekanntem Terrain. (Neumann/Stiehl 1993,652)

Die biologischen, vor allem die neuronalen Mechanismen des aktiven Sehens und damit auch des Handelns sind allerdings bisher nur ansatzweise bekannt. Zum Beispiel weiß man sehr wenig über die (un-)willkürlichen Bewegungen der bei den Augen zur Kon- zentration auf Ausschnitte des visuellen Feldes (vgl. Neumann/Stiehl 1993, 653). Gera- de letzteres dürfte aber für das Verstehen der Granularität recht bedeutsam sein. Ob man etwas oder jem anden von ganz nah, gewissermaßen in Großaufnahme, oder aus grö- ßerer Entfernung betrachtet, bringt Unterschiede in der Deutlichkeit des Details mit sich. Wenn man sich einem Detail zuwendet, verliert man den großen Zusammenhang meistens buchstäblich aus dem Auge. Von diesem Phänomen leben jene Rätselbilder in Zeitschriften, bei denen kleine Ausschnitte aus Gemälden abgebildet werden und der Leser aufgefordert wird, anzugeben, aus welchem berühmten Werk dieser Bildaus- schnitt stammt.

Da aber, wie gesagt, keine gesicherten Kenntnisse über die Möglichkeiten, Bildaus- schnitte auszuwählen und intensiver zu betrachten oder - umgekehrt - Details zu ver- nachlässigen, vorliegen, möchte ich es bei diesen Bemerkungen belassen und nur fest­

134 Doris Marszk

3 Es gab zwar bereits in den fünfziger Jahren die Theorie von J. Gibson (vgl. hierzu Gibson 1950), die die aktive Seite des Sehens betont, doch sie stellte damit für lange Zeit eine Ausnahme dar.

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