• Keine Ergebnisse gefunden

Zur autogr afischen Visualisierung kleiner Tr anszendenzen

Im Dokument VISUALISIERUNGEN VON KULT (Seite 61-66)

Herbert Nikitsch

»›Jena vor uns im lieblichen Tale‹ schrieb meine Mutter von einer Tour / Auf einer Karte vom Ufer der Saale , sie war in Kösen im Sommer zur Kur ; / nun längst vergessen , erloschen die Ahne , selbst ihre Handschrift , Graphologie , / Jahre des Werdens , Jahre der

Wah-ne , nur diese Worte vergesse ich nie. / / Es war kein berühmtes Bild , keiWah-ne Klasse , für lieblich sah man wenig blühn ; / schlechtes Papier , keine holzfreie Masse , auch waren die Berge nicht rebengrün , / doch kam man vom Lande , von kleinen Hütten , so waren die Täler wohl lieblich und schön , / man brauchte nicht Farbdruck , man brauchte nicht Bütten , man glaubte , auch andere würden es sehn. / / Es war wohl ein Wort von hoher Warte , ein Ausruf hatte die Hand geführt – / sie bat den Kellner um eine Karte , so hatte die Landschaft sie berührt [ … ].«1 In diesem Beitrag soll es um »Visualisierungen« gehen – und wenn ich dennoch mit einem Wort-Bild als Motto beginne , so deshalb , weil das Folgende ja auch nur eine Art Vor-Wort , eine Vorbemerkung zur Beschäftigung mit autografischen Zeugnissen sein kann. Zudem illustriert das zitierte Gedicht Gottfried Benns deutlich genug , was Aus-gangspunkt meines Interesses an Autografischem ist : Ob auf Postkarten , ob in Besu-cherbüchern von Ausflugsstätten , Museen oder Kirchen ( aus denen mein hier auszugs-weise vorgestelltes Quellenmaterial stammt ) – zum einen ist da stets die Authentizität suggerierende Anmutung ( der Produkte ) des Schreibens , des handschriftlichen Schrei-bens , des »magischen Spiegels der Schrift« , von dem Stefan Zweig gesprochen hat.2 Und zum anderen beeindrucken solche autografischen »Lebensspuren«3 umso mehr , wenn sie als Reaktion auf eine wenn nicht notwendig außergewöhnliche , so doch als außergewöhnlich erlebte Situation gesehen werden , als handschriftliche Deklamierung und Deklaration einer besonderen Befindlichkeit : Schreiben ist dann mehr als nüch-ternes Festhalten von Information , Geschriebenes mehr als deren grafische Fixierung :

1 Benn ( 1956 ) 136.

2 Zweig ( 2005 ) 138.

3 Ebd. 137.

Schrift spiegelt hier Erfahrung , die »eindringliche Geste des Schreibens«4 ist spontaner Ausdruck eindrücklicher Stimmungslagen.

1. Handschrift

Das Faszinosum des handschriftlichen Schreibens ist freilich theoretisch nicht gestützt – und auch sein Gegenstand wissenschaftlich kaum kartiert : Durchquert man die Lite-ratur , in der von ›Schrift‹ gehandelt wird , findet man sich , wenn nicht gleich auf dem Steilgrat Derrida’scher Überlegungen zur Zeichentheorie , so doch auf dem Hochpla-teau »grammatologischer«5 Beschreibungen verschiedener Schrifttypen bzw. verglei-chend-historischer Theorien über Schriftsysteme und deren Entwicklung6 – und auf das eigentliche Fundament des Autografischen kommt man erst , wo , neben der Remi-niszenz an »Blüte und Zerfall« der Kulturtechnik des »Schön Schreibens«7 , dann doch wieder der Aufstieg zu textgenetischen Interpretationen im Sinne einer Critique Géné-tique bevorsteht , die »anhand von überlieferten Schreibspuren den schriftlichen Ent-stehungsprozeß literarischer Werke zu rekonstruieren sucht«.8 Aber mir geht es nicht um Schriftsysteme , nicht um handschriftliche Schreibspuren von Sprachkunstwerken , auch nicht um kalligrafische Schrift als ästhetisches Objekt – hier soll »Schrift« beim Wort genommen sein als individuelles Schreiben in konkreter Materialität , als Tätig-keit , als Praxis , »deren Sinn nicht außerhalb ihrer selbst liegt«9 , als Ausdruck eines jen-seits ästhetisch-literarischen Anspruchs zu begreifenden »vernacular writing« – und so-mit letztlich als Gegenstand einer »Anthropology of Writing« , in der allgemein »literacy [ is used ] as an entry or as a lens to study broader cultural phenomena«.10

Schrift , Schreiben also als intentional sich selbst genügendes Kulturphänomen , das dennoch Einblick in darüber Hinausgehendes gewährt – das soll hier Thema sein. Und das , ohne jener Authentizität suggerierenden Anmutung von Autografischem naiv zu folgen und dabei etwa zu vergessen , dass diese sich nicht zuletzt der technischen Ent-wicklung der Schreibmedien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdankt , die

»die schreibende Hand durch immer neue Vermittlungen zunehmend von der auf dem 4 Flusser ( 1994 ) 32.

5 Grammatologie bzw. Schriftwissenschaft hier verstanden in der allgemeinen Bedeutung des Be-griffs , wie er von dem polnisch-amerikanischen Orientalisten Ignace Jay Gelb eingeführt wor-den ist ; Gelb ( 1958 ) ( Orig. : A Study of Writing. The Foundations of Grammatology. Chicago 1952 ).

6 Etwa Coulmas ( 1981 ); Stein ( 2006 ); Lyons ( 2010 ).

7 Hugger ( 2010 ).

8 Grésillon ( 1999 ) 115.

9 Fetz ( 1999 ) 87.

10 Barton – Papen ( 2010 ) 10 und 6.

Papier erzeugten Schrift entfernt« hat11 – dass also diese Anmutung , wie so mancher Eindruck von ›Authentizität‹ , vor allem auf einer Verfremdungs- oder Alteritätserfah-rung beruht. Auch soll bei der Beschäftigung mit der Frage , wieweit Handschrift »sich selbst mitteilen« kann , ob »es eine Semantik der Handschrift gleichsam diesseits oder jenseits der Graphologie« gibt ,12 weder einem Enthusiasmus à la Stefan Zweig , der den Menschen »in seiner Schrift unlösbar an die innerste Wahrheit seines Wesens ge-bunden« sieht ,13 entsprochen noch dem »deutungslustigen Gewerbe«14 der Grafologie nachgegangen werden. Denn die Antwort dieser Grafologie ist ja – abgesehen von ihrer oft »willkürlichen und zirkulären Ausdeutungspraxis«15 – schon darum nicht befrie-digend , weil sie in den Schriftzügen eines Menschen eben das »Wesen der Persönlich-keit« ( Ludwig Klages ) sehen zu können glaubt – und somit als konstant und gesichert voraussetzt , was man ungeachtet all der jeweils situationsbedingten Schwankungen und Aufeinanderfolgen von Überzeugungen , Vorstellungen , Einstellungen , Haltun-gen oder auch StimmungslaHaltun-gen gemeinhin euphemistisch die kontinuierliche ›Identi-tät‹ einer Person nennt. Wo diese Prämisse nicht eingezogen ist , wird Schrift als »ein Symptom psychischer und physiologischer Funktionen und Dysfunktionen« zu sehen sein , in dem sich »intentionaler Akt und absichtslose Hinterlassenschaft unauflöslich mit einander verbinden.«16 Und gerade in dieser unauflöslichen Verbindung von Ge-wolltem und Unwillkürlichem , auf anderer Ebene gedacht : von Bewusstem und Un-bewusstem , liegt ja auch die Schwierigkeit ( vielleicht letztendlich Unmöglichkeit ), die Schriftzüge eines Menschen interpretierend zu lesen und lesend zu verstehen.

Bedenkt man , was alles die Schrift eines Menschen affiziert , liest man Handschrift zudem nicht nur als Ausdruck jeweiliger physischer und psychischer Befindlichkeit , son-dern auch als vom Kontext der Schreibsituation beeinflusst. Dazu gehört ja bereits das Werkzeug , das Schreibzeug17 : Welches wird verwendet – der langsam-eingravierende Bleistift , der rasch-oberflächlich gleitende Kugelschreiber , die feierlich-bedächtige Füll-feder ? Oft sicher auch ganz einfach , was eben gerade zuhanden ist – bei meinen Quel-len ist das wohl größtenteils der Fall. Und bei diesen gehört neben den Schreibuten silien auch schon das Eintragungsangebot selbst zu den kontextuellen Randbedingungen : Al-lein die Tatsache , dass da ein ›Gästebuch‹ zum Gebrauch vorliegt , mag nicht nur der

11 Burdorf ( 1997 ) 41 ; zur Entwicklung und »Technisierung« der Schreibgeräte s. etwa Stein ( 2006 ) 280–281.

12 Hemecker ( 1999 ) 8.

13 Zweig ( 2005 ) 139.

14 Haberlandt ( 1900 ) 164.

15 Knobloch ( 1994 ) 991.

16 Wittmann ( 2009 ) 7.

17 S. dazu auch Stingelin ( 1999 ) und ( 2004 ).

Auslöser zu schriftlichem Eintrag sein , sondern auch dessen Form und Inhalt mitbestim-men – wobei das Geschriebene in seiner optischen Gestaltung oft sicher auch dem jewei-ligen ( mehr oder minder repräsentativen ) Aussehen des Eintragbuches entsprechen will.

Doch wird der Akt des Schreibens , vor allem was seinen semantischen Gehalt an-langt , auch vom Aufforderungscharakter der jeweiligen Situation geprägt sein. Dieser Aufforderungscharakter ist nicht zuletzt dem geschuldet , was man die Atmosphäre des jeweiligen Ortes nennen könnte , also jenes ( in phänomenologischer Diktion ) »unbe-stimmt in die Weite ergossene Gefühl« , das in »affektive[ r ] Betroffenheit«18 erfahren wird. Und deutlicher lässt sich derlei Vages , wenngleich »durchaus Alltägliches«19 und alltagssprachlich Vertrautes , wohl auch kaum bestimmen – es kann nur insofern kon-kretisiert werden , als es gerade die Atmosphäre eines Ortes ist , die ein bestimmtes Ver-halten , bestimmte »Anschlusspraxen«20 , nicht nur erwarten lässt , sondern auch jene Erfahrungen präformiert , die an diesem Ort gemacht werden können. Wobei es sich freilich nicht nur um einen rein passiven Vorgang handeln muss – es gibt schließlich nicht nur »Prozesse der Erzeugung , Aufrechterhaltung und Weitergabe , [ sondern ] auch der Wandlung oder Zerstörung von Stimmung , Atmosphäre und Milieu«.21 Doch wird man umso bereiter sein , sich an Orten und in Situationen »in Stimmung bringen«22 zu lassen , die das Potenzial zum Erleben von als außergewöhnlich empfundenen Be-findlichkeiten haben , jener »kleinen Transzendenzen« also , in denen vordem Banal-Vertrautes »in seinem Bedeutungsreichtum vertieft wahrgenommen wird«23 – und die sich zuweilen ganz unspektakulären Anlässen verdanken : einem Ausflug , einem Muse-umsgang , einem Kirchenbesuch.

2. »When writing is doing«24 …

Wenn es stimmt , dass man , ohne zu schreiben , »strenggenommen nicht denken kann«

( denn »ungeschriebene Gedanken zu haben , heißt eigentlich , nichts zu haben« )25 , dann gilt wohl auch , dass der Akt , sich in einem bereitliegenden Medium einzuschrei-ben , die Wahrnehmung , das Erleeinzuschrei-ben an jenem Ort , an dem man sich eeinzuschrei-ben befin-det , zumindest zu vertiefen vermag. Der Inhalt solchen Schreibens erhält dann freilich

18 Böhme ( 2006 ) 139–140.

19 Böhme ( 1998 ) 7.

20 Patzelt ( 2007 ) 196.

21 Ebd. 197.

22 Hörisch ( 2011 ).

23 Bendrath ( 2003 ) 5.

24 Fraenkel ( 2010 ).

25 Flusser ( 1994 ) 39.

einen völlig anderen Wert : »The value of an utterance« liegt dann »not only in what it says but in the fact that it is written«26 , und der Schreibakt ist dann zu verstehen »as a meaningful act in itself«.27 Dies umso mehr , als das handschriftliche Schreiben im Be-griff ist , eine »archaische Geste zu werden , durch die sich eine Seinsweise äußert , die durch die technische Entwicklung überholt ist«.28 Denn eben als solche »archaische Geste« erhält das Autograf seine performative Kraft – und wird so übrigens auch kei-neswegs durch all die online gestellten virtuellen Formate ( in meinem Fall also all die elektronischen Gäste- , Hütten- , Besucher- , Stamm- oder Anliegenbücher29 ) konkur-renziert. Im Gegenteil : »The mere fact that the inscription is durable [ … ] gives it a par-ticular persuasive power.«30 Und während etwa ein online gestellter Text zugleich mit seiner »Situationsentbindung«31 den »materiellen Charakter jeder Äußerung tilgt , ›han-delt‹ die Handschrift nicht nur von ihrem Inhalt , sondern auch immer von der Weise ihrer Hervorbringung«.32

Im Blick auf solche »Hervorbringungen« soll im Folgenden »vom Schriftbild auf den emotionalen Einsatz , der hinter der Handschrift steht«33 , geschlossen werden – wo-bei dieser Versuch freilich immer wieder Gefahr läuft , seinen auf das Visuelle gerichte-ten Fokus zu verfehlen : »Die meisgerichte-ten Leute« , meint Paul Valéry , »nehmen viel häufiger mit dem Verstand als mit den Augen wahr«34 – und so werden hier die vorgestellten Autografen auch unter inhaltlichem Aspekt betrachtet. Der Gehalt des Geschriebenen reicht dabei von rein säkularer über sakraler Semantik entliehener bis zu explizit religi-öser Bedeutung – womit freilich eine Unterteilung getroffen ist , die der Vielfalt der von je unterschiedlicher ( und unterschiedlich wahrgenommener ) Lokal atmosphäre diktier-ten Schreibanlässe nicht genügt. Wie ja angesichts dieser Vielfalt auch jeder Versuch , eine ordnende Grundstruktur in dieser Art des Schriftgebrauchs auszunehmen , schei-tern muss : Ihr Zweck , ihre formale Gestaltung , ihre Adressaten ( so es solche gibt ) va-riieren ebenso wie die gesellschaftliche Zugehörigkeit ihrer Produzenten ( und deren Offenlegung bzw. Wahrung von Anonymität ). Eine entsprechende interpretatorische Zurückhaltung erfordern so bereits – um zum ersten lokalatmosphärisch bestimmten Schreibanlass zu kommen – die Eintragungen eines sogenannten ›Hüttenbuches‹ an ei-ner Ausflugsstätte in der näheren Umgebung Wiens.

26 Fraenkel ( 2010 ) 36.

Im Dokument VISUALISIERUNGEN VON KULT (Seite 61-66)