• Keine Ergebnisse gefunden

Zwischen Realität und Fiktion

Im Dokument VISUALISIERUNGEN VON KULT (Seite 194-197)

ANNA STAINER-KNITTEL UND DIE GEIER-WALLY

2. Zwischen Realität und Fiktion

In den Lebenserinnerungen der Malerin findet sich eine starke Reaktion auf die Publi-kation Steubs , die sich jedoch weniger auf dessen Text , sondern vielmehr auf die beige-fügte Illustration bezieht : Der Tiroler Maler Matthias Schmid , ein Freund der Künst-lerin und ein Bekannter Steubs , fügte der Publikation eine Illustration bei , die Anna Stainer-Knittel bei ihrer waghalsigen Tat am Berg darstellt. Diese wurde jedoch von den Zeitgenossen mit großem Spott aufgenommen , da die Protagonistin dem Betrachter ihre sehr umfangreich dargestellte Rückseite zuwendet – basierend auf der Überliefe-rung , dass Anna Stainer-Knittel sich für die Bergtour eine Hose über den voluminösen Rock ihrer Tracht gezogen hatte4 ( Taf. 3 , Abb. 1 ). Die Illustration wurde ihr , versehen mit folgender Zeile , von Bekannten zugespielt : »Schmid malt fleissig Bauern , Mön-che und auch Büttel , nicht siMön-cher war der Arsch der kühnen Fräulein Knittel«. Die spöttischen Worte finden Nachhall in der Autobiografie der Künstlerin : »Denn als die Illustration von Schmid so ungeschickt aufgefasst war , murrte ich in einem fort. Wa-rum hat er’s nicht so gemacht , mit dem Gesicht gegen den Beschauer , setzte mich hin und zeichnete es , wie ich meinte , dass man’s hätte machen sollen. Die Idee gefiel mir immer besser und so entstand dann das große Ungetüm [ … ], welches mir soviel Stra-pazen , Kosten und Sorge verursachte.«5 In Form einer bildlichen ›Gegendarstellung‹

machte sich die Künstlerin also kurz darauf an die Komposition eines großformatigen Gemäldes , um ihre eigene Sicht der Ereignisse zu dokumentieren ( Taf. 3 , Abb. 2 ).6 Der Großteil der Bildfläche wird von einer nahsichtig gegebenen Felswand eingenommen , die sich zu einer kleinen Nische öffnet. Der Boden ist mit Reisig und Laub bedeckt , das am unteren Bildrand bereits über den Rand der Nische in den Abgrund ragt. Gesichert durch ein Seil , kniet die Protagonistin im Nest , während sich links hinter ihr der

Aus-den Begriff der »Sommerfrische«. Aufgrund seiner Erzählungen über die Bewohner des Alpen-raums und deren Sitten wird er auch als »Entdecker Tirols« für den Tourismus bezeichnet. Vgl.

Paulin ( 1951 ) 18.

4 Vgl. Stainer-Knittel ( 1910 ) 37.

5 Stainer-Knittel ( 1910 ) 39.

6 Format : 165 × 215 cm mit Rahmen , 123 × 176 cm ohne Rahmen , Privatbesitz.

blick auf in der Ferne gelegene Berggipfel öffnet. Die schwindelerregende Höhe wird durch die Winzigkeit der Staffagefigur am linken unteren Bildrand verdeutlicht , einem Beobachter , der die Szene von einem tiefer gelegenen Punkt aus verfolgt. Die Protago-nistin ist leicht nach links aus der Bildmitte gerückt , die Mittelachse verläuft zwischen ihrem Gesicht und dem Kopf des jungen Adlers. Während sie das Tier auf ihrem rech-ten Arm balanciert , legt sie mit der Linken einen Leinenbeutel für den Transport zu-recht. Getreu ihrer eigenen Schilderung zeigt sie sich in Tracht , von der die weiße Bluse mit Puffärmeln sowie das bestickte Mieder sichtbar sind , während über den Rock eine grobe Hose gezogen wurde , die vom Volumen des Kleides aufgebauscht wird. Im Kon-trast zur Darstellung von Matthias Schmid legt die Künstlerin Wert darauf , sich dem Betrachter frontal zu präsentieren , nimmt allerdings keinen Blickkontakt auf , sondern scheint ganz auf ihre Tätigkeit konzentriert zu sein. Bei genauer Betrachtung scheint ihr Blick jedoch nicht auf das Adlerjunge in ihren Händen zu fallen , sondern geht ins Leere , was möglicherweise auf die Arbeit vor einem Spiegel zurückzuführen ist.

Das großformatige Gemälde wird durch einen geschnitzten und vergoldeten Rah-men komplettiert , den die Künstlerin und ihr Vater gemeinsam anfertigten. In Anleh-nung an die Materialität des Adlerhorstes rankt sich unregelmäßiges Astwerk um die Leinwand , das am oberen Bildrand durch einen geschnitzten Adler unterbrochen wird , der den Bildinhalt ergänzt und die drohende Gefahr suggeriert. Die symbolische Erwei-terung des Bildinhaltes durch das Adlermotiv im geschnitzten Rahmen überschreitet in ähnlicher Weise die Bildgrenzen wie die Signatur der Künstlerin , die mit roter Far-be in Augenhöhe der Protagonistin auf der Felswand rechts platziert ist : In ihren Auf-zeichnungen schildert Anna Stainer-Knittel wie sie , nach erfolgreicher Ausnahme des Nests , ihren Namen und die Jahreszahl an einer Wand der Felsnische verewigte : »Un-terdessen sah ich mich noch weiter im Neste um und fand bald eine saubere Platte , wo ich mit dem mitgebrachten Rötel meinen Namen und die Jahreszahl unsers Heils hin-schreiben konnte.«7 Der Namenszug fungiert also nicht nur als die Signatur der Künst-lerin , sondern ist vielmehr selbst ein Teil der Geschichte.

Trotz einer schadhaften , notdürftig reparierten Stelle in der Leinwand , die durch den Transport von Elbigenalp nach Innsbruck verursacht wurde , war das Gemälde für kurze Zeit privat in einem Innsbrucker Schaufenster ausgestellt , wodurch auch die deutsche Schriftstellerin Wilhelmine von Hillern auf die Episode aufmerksam wurde und die Künstlerin persönlich kontaktierte.8 Die Malerin selbst verliert jedoch in ihren

»Lebenserinnerungen« kein Wort über von Hillern , wodurch das Ausmaß der persönli-chen Bekanntschaft der beiden Frauen infrage gestellt wird. Im Jahr 1875 wurde die ers-te Auflage des Romans mit dem Tiers-tel »Die Geier-Wally. Eine Geschichers-te aus den Ty-7 Paulin ( 1951 ) 33.

8 Vgl. Reichart ( 1991 ) 23.

roler Alpen«9 publiziert und erfreute sich innerhalb kürzester Zeit großer Beliebtheit , worauf von Hillern den Stoff auch in eine Bühnenfassung umarbeitete. Somit bot in erster Linie das auffallende Gemälde und nicht die Publikation von Ludwig Steub den Anstoß für den Roman.

Das Gemälde nimmt im Schaffen der Künstlerin eine Sonderstellung ein , die sich aus unterschiedlichen Komponenten ergibt : Ihr Œuvre umfasst eine Vielzahl an Ge-mälden verschiedener Gattungen , namentlich Porträts , Landschafts- und Genredar-stellungen sowie eine große Zahl an Blumenbildern und botanischen Studien. Zusam-menfassend fällt auf , dass sich der Schwerpunkt im Œuvre Anna Stainer-Knittels im Laufe ihres Lebens immer wieder verlagerte : Die Anfänge ihres Schaffens dominierte die durch die Ausbildung fundierte Porträtmalerei. Sukzessive verstärkte sich die Aus-einandersetzung mit der Landschaftsmalerei und in diesem Zuge auch mit dem Bereich der Genredarstellungen , beide Gattungen blieben jedoch in Qualität wie auch Quan-tität der Porträtmalerei untergeordnet. Im Laufe der 1870er-Jahre war die Künstlerin durch den Niedergang der Bildnismalerei zu einer Umorientierung gezwungen , wo-durch sie sich der Blumenmalerei zuwandte und diese in verschiedenen Ausformun-gen – von der botanischen Studie bis hin zu dekorativer Porzellanmalerei – betrieb. Eine wesentliche , wenn auch rein formale Eigenheit des Selbstporträts im Adlerhorst ist die Größe des Gemäldes , das mit seinem Rahmen ca. 165 × 215 cm misst. Ein solch monu-mentales Format ist für die spätbiedermeierliche bürgerliche Malerei äußerst unüblich und findet sich in dieser Ausprägung im Schaffen der Malerin auch kein zweites Mal.

Warum die Entscheidung für ein so groß dimensioniertes Gemälde fiel , bleibt offen.

Das Schaffen Anna Stainer-Knittels war stets auch wirtschaftlichen Faktoren unter-worfen , da sie zu Beginn ihrer Karriere allein von der Porträtmalerei abhängig war und auch nach ihrer Eheschließung das Familieneinkommen zumindest zur Hälfte bestritt , was bei der wissenschaftlichen Betrachtung ihres Werkes immer berücksichtigt werden muss. Wenn sich auch der Schwerpunkt in ihrem Werk je nach Auftragslage veränder-te , bewegveränder-te sich die Künstlerin sveränder-tets im Einklang mit den vorherrschenden Strömun-gen. Sowohl stilistisch als auch inhaltlich präsentiert sich ihr Œuvre dem Betrachter sehr homogen und zeigt beispielsweise auch in der »geschützten« Sphäre ihrer Skizzen-bücher keine Ansätze , die vorgegebenen Wege zu verlassen. Sogar die for male Umset-zung der Skizzen Anna Stainer-Knittels vermittelt den Eindruck einer aufgabengebun-denen Kunstausübung. Während der Grundstein für die großen Rahmenbedingungen und Einflüsse auf die stilistische Entwicklung der Künstlerin im Zuge ihrer Ausbildung in München gelegt wurde , fand die Ausprägung ihrer künstlerischen Fähigkeiten und Gewohnheiten in Tirol statt , wohin die junge Malerin nach dem Ende ihrer Studienzeit zurückkehrte und wo sie auch den Großteil ihres Lebens verbrachte. Das Selbstporträt 9 von Hillern ( 1875 ).

im Adlerhorst wurde aufgrund der Beschädigung nicht zum Verkauf freigegeben. Hier stellt sich allerdings die Frage , welches Zielpublikum das Gemälde hätte ansprechen können. Die Motivation für die Wahl des Sujets erklärt sich aus der persönlichen Ge-schichte der Künstlerin. Die Popularität des Themas schien wohl für gewisse Zeit gege-ben , das große Format dürfte allerdings eher ein Hindernis denn ein Anreiz für einen privaten Käufer gewesen sein. Zuletzt ist es auch die Komposition des Selbstporträts an sich , die in dieser Weise im Werk der Künstlerin einzigartig bleibt. Ein Blick auf die weiteren Selbstbildnisse Anna Stainer-Knittels – insgesamt sind sechs davon erhalten – vermittelt ein Gefühl für die besondere Position , die das Bildnis im Adlerhorst in ih-rem Œuvre einnimmt.

Im Dokument VISUALISIERUNGEN VON KULT (Seite 194-197)