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MORGENSTERNS »DIE BLUTSÄULE«

Im Dokument VISUALISIERUNGEN VON KULT (Seite 97-108)

Gerhard Langer

Der jüdische Autor Soma Morgenstern ( 1890–1976 ) ist dank der Neuausgabe seiner Werke durch Ingolf Schule in den 1990er-Jahren ein wenig bekannter geworden , sein Œuvre hat jedoch leider immer noch nicht jene Breitenwirkung erzielt , die ihm zukom-men sollte. Sein Werk ist geprägt von der jüdischen Tradition , der chassidischen Mys-tik und seinen persönlichen Lebenserinnerungen. Der Roman »Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth« , an dem Morgenstern zwischen 1948 und 1953 schrieb – er er-schien zuerst auf Englisch im Jahre 1955 – , wurde als ein Werk gepriesen , das »sich in seiner tiefen Religiosität der literarischen Kritik«1 entziehe und in seiner Art ein ein-zigartiges Dokument der Schoah-Literatur darstelle. Schon Abraham J. Heschel , der Morgenstern sehr verehrte , bezeichnete das Werk als »Midrasch« und stellt es damit in die Linie der großen Kommentarwerke zur Bibel.

Der Mord an den Juden eines kleinen Dorfes am Sereth , die Befreiung durch die Rote Armee , das Gericht an den Schuldigen ist nur ein äußerer Rahmen für die Be-handlung vieler Themen , die von Schuld und Umkehr , Gerechtigkeit und Theodizee bis zur messianischen Erlösung reichen.2 Ein Element , das gerade in Anbetracht der gern strapazierten Rede vom »jüdischen Bilderverbot« besonders interessant erscheint , ist Morgensterns Verweis auf Bilder , die im Fortgang der Erzählung Schlüsselpositio-nen einnehmen. Der Roman ist voll von Metaphern und Bildsymbolik , weshalb ich mich hier auf wenige wichtige Beispiele beschränke. Ein zentrales Motiv sind Spottbil-der in Spottbil-der »Schul« , Spottbil-der Synagoge :

»Inmitten der Nordwand , wo oben der Betraum der Frauen war , hatte jene ruchlo-se aber kundige Hand zwei Bilder aufgemalt : Das eine , große , darstellend die Ge-stalt des Gekreuzigten als polnischen Kaftanjuden , mit Schläfenlocken , die samtene Sabbatmütze mit den dreizehn Marderschwänzchen auf dem Haupt voll Blut und Wunden , die Figur in Kreide von roter Farbe , mit einem roten Sowjetstern als Herz.

Zur linken Seite des Gekreuzigten , das kleinere , al fresco , stellte einen

Judenjun-1 Vgl. Oelze ( 2006 ) 2.

2 Zur Literatur vgl. Dąbrowska ( 2008 ); Haidvogel ( o. J. ); Krick Aigner ( 2002 ) 76–88 ; Kriegleder ( 2004 ) 236–247 ; Langer ( 2010 ); Marquardt ( 2006 ) 41–61 ; Marquardt ( 2007 ) 317–322 ; Müller ( 2004 ); Oelze ( 2006 ); Palmer ( 2000 ) 193–210.

gen von etwa dreizehn Jahren dar , auch dieser kindlich dürftige Leib im Kaftan , mit gleichfalls gedrehten , überlangen Schläfenlocken , die samtene Sabbatmütze mit den dreizehn Marderschwänzchen tief und schief überm kindlichen Gesicht. Auch die jüngere Gestalt in der Positur der Kreuzigung , doch nicht an ein Kreuz genagelt , son-dern deutlich an der Stirne , an den Händen wie an den gefalteten Füßen mit Ku-geln an die Wand geschossen. Diese Figur in blauer Kreide , mit einem roten Sow-jetstern als Herz.

Die zwei Bildnisse der zwei Gekreuzigten waren rundherum umkränzt mit Gruppen

-bildern , darstellend Frauen und Männer in zuchtlosem Reigentanz , die Frauen augen scheinlich jüdischen Geblüts , nackt in obszöner Haltung und lüsternen Gebär-den , die Männer in mittelalterlicher Kleidung , augenscheinlich germanischen Ge-blüts , mit höhnischen Grimassen , Peitschen und Feuerwaffen in den Händen. Über dem farbenbunten Gemälde stand in schwarzer Schrift in gotischen Zeichen zu le-sen : Die Bluthochzeit am Sereth. Unten , in abwechselnd roten und schwarzen Zei-chen , stand der Name des Künstlers sowie die Nummer der Schutzstaffel , der er also mit Herz und Hand diente.«3

Diese Darstellung ist extrem dicht und spielt mit einer Fülle von Assoziationen. Die Nordwand etwa erinnert an das Symbol des Nordens als Bedrohung , das bereits bib-lisch mehrfach belegt ist , wo der Feind aus dem Norden kommt ( so Joel 2 , 20 ; beson-ders im Jeremiabuch : 1 , 13 f.; 4 , 6 ; 6 , 1. 22 ; 46 , 20. 24 etc. ).

Auf einem Gemälde werden zwei Gekreuzigte dargestellt. Der »polnische Kaftan-jude« ist durch Sabbatmütze und Schläfenlocken gekennzeichnet und mit jenen drei-zehn Marderschwänzchen , die wiederum mehrere Assoziationen wecken. Dreidrei-zehn ist die Anzahl der Binnenkapitel in der »Blutsäule« , dreizehn das Alter jüdischer Jungen , in dem sie durch die Bar-Mizwa rituell zu Erwachsenen werden. Dies ist auch das Alter , in dem Jochanaan , eine der für den Roman zentralen Figuren , der Zwilling von Nehe-mia , von einem Soldaten getötet wird.

Nehemia und Jochanaan spiegeln zwei Formen der messianischen Erlösung wider.

In ihren Namen erkennt man biblische Figuren. Der biblische Nehemia ist einer der Politiker , der Judäa nach dem Ende des babylonischen Exils neu zu etablieren hilft.

Möglicherweise spielt der Name auch »wegen der gemeinsamen Wurzel nhm [ … ] an den Namen des Messias ben Joseph an , nämlich Menahem , der auf Deutsch ›Tröster‹

heißt« , schreibt Oelze4 unter Berufung auf die rabbinische Tradition vom leidenden Messias , der auch den Beinamen ben Josef tragen kann. Die Verbindung mit Mena-chem ist jedoch noch komplexer.

3 Morgenstern ( 1997 ) 25 f.

4 Oelze ( 2006 ) 126.

In der rabbinischen Literatur , jBerakhot 2 , 4 , 12–14 und Klagelieder Rabba 1. 16 , wird Menachem als Name des Messias genannt. R. Judan erzählt eine Geschichte von einem Menachem ben Hiskija , dessen Geburt in Betlehem von einer muhenden Kuh angekündigt wird. Diese Geburt fällt zeitlich mit der Zerstörung des Jerusalemer Tem-pels im Jahr 70 zusammen , weshalb seine Mutter den Tod des Jungen will , es aber schließlich doch nicht übers Herz bringt , ihn zu ermorden. Peter Schäfer deutet diese Erzählung wohl zu Recht als Reflex auf die christliche Geburtsgeschichte.5 Noch deut-licher ist der Anklang an den Sefer Serubbabel , eine Schrift , welche die byzantinische Eroberung Jerusalems im 7. Jahrhundert reflektiert und von zwei Messiassen spricht , einem davidischen und einem Messias aus dem Hause Ephraim namens Nehemia , der in der Stadt Tiberias verborgen lebt , schließlich Israel versammelt , gemeinsam mit der Mutter des davidischen Messias namens Menachem ben Ammiel , Hefziba , kämpft und von Armilos , dem Anti-Messias , getötet wird.6

Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Morgenstern diese Erzählungen im Hinter-kopf , als er an der »Blutsäule« schrieb. Sicher treten die Kinder in messianischer Funk-tion auf , dies vor allem durch ihr Leid. Das gekreuzigte Kind ist demnach unschwer als Hinweis auf den getöteten Jochanaan zu deuten. Die Darstellung der erwachse-nen Figur spielt hingegen auf Jesu Kreuzigung an ; der »Gekreuzigte« , das »Haupt von Blut und Wunden« sind deutliche Marker dafür. Während die Kleidung ihn als ortho-doxen Juden ausweist , verweisen der Sowjetstern und die rote Kreide auf seine politi-sche Einstellung. Hier wird Jesus als jüdipoliti-scher Sowjet dargestellt , denn der rote Stern steht bei Morgenstern weniger für den Kommunismus als Ideologie als für den sowje-tischen Staat , der als Befreier von den Nazis fungiert.

Der Roman erwähnt nicht nur die Art der Darstellung , sondern auch die Methode.

Er spricht von einem »al fresco« , redet von einer Kreidezeichnung und benennt die Far-ben. Unter al fresco versteht man eigentlich eine Verfahrensweise , bei der Farbpigmen-te auf den feuchFarbpigmen-ten Kalkputz aufgetragen werden. Allerdings spricht der Erzähler von blauer Kreide , was zum Fresko keineswegs passen würde. Es ist kaum zu entscheiden , ob Morgenstern diesen Widerspruch bewusst präsentiert oder allgemein jede Form von Wandmalerei als Fresko bezeichnen will. Es wäre auch durchaus möglich , dass mit dem al fresco eine Assoziation an berühmte Darstellungen der Kreuzigung Jesu in Fres-kenform geweckt werden soll , so – um nur ein Beispiel zu nennen – etwa an die Bilder Fra Angelicos im Dominikanerkloster San Marco in Florenz.

Der »Künstler« verewigt sich auf dem Gemälde , kommt aber nicht mit Namen vor.

Der Erzähler sieht ihn als Beispiel , als Symbol für die Gräuel der SS. Er spricht auch von einer »ruchlosen aber kundigen Hand« , was wohl weniger auf die künstlerische 5 Schäfer ( 2010 ) 1–31.

6 Vgl. Sivertsev ( 2011 ) 118.

Stärke als auf die Verbindung der Figuren mit Symbolen des Judentums und des Sow-jetstaates verweist.

Schwieriger aufzulösen ist das »Gruppenbild« , das jüdische Frauen in lasziven Po-sen und deutsche Männer mit Symbolen der Macht und der Gewalt , aber auch mit ei-nem höhnischen Lächeln zeigt. Würde man nur diese Bildbeschreibung kennen , könn-te man an eine sadomasochistisch aufgeladene Sexorgie denken. Erst der Fortgang des Romans lässt weitere Deutungen zu. So verweist der Erzähler darauf , dass in der Syna-goge von den Nazis ein »Lusthaus für Frontsoldaten« ( 110 ) eingerichtet wurde.

In der »Blutsäule« geschehen alle Verbrechen , Mord , Hurerei und die Schändung Gottes durch die beiden Bilder , die sich nicht abwaschen lassen , ehe das Gericht an sein Ende kommt , in der Synagoge :

»In jedem Winkel des großen Betraums waren Spuren der mordbrennenden Hand sichtbar und ruchbar , der mordbrennenden wie der schändenden , der schändenden wie der obszönen Hand.« ( 25 )

Auch die Thorarollen werden nach dem großen Morden als Ausschmückung für das Bordell verwendet , das die Nazis »Großtempel am Sereth« ( 110 ) nennen. Wenigstens vermag einer der Helden der Erzählung , Mechzio , noch eine Thorarolle zu retten , ehe das »Lusthaus« eröffnet wird ( 112 ). Nachdem ein höherer Nazioffizier an den Bildern Anstoß nimmt , versucht man sie abzuwaschen , was jedoch nicht gelingt. Dies führt aber schließlich dazu , dass das Bordell aufgegeben und in Brand gesteckt wird.

Der Titel »Bluthochzeit am Sereth« , den der Maler dem Bild gibt , weist über die dar-gestellte Motivik hinaus auf die Symbolebene. Die geschändeten jüdischen Frauen , deren Lüsternheit nur der Fantasie des Künstlers entspricht , erhalten hier ebenso ein »Denk-mal« wie die getöteten Kinder und Männer. Das Bild selbst wird von einem magisch-reli-giösen Geheimnis umgeben. Es lässt sich nicht abwaschen , erscheint nach jedem der von einem SS-Offizier und einem Priester durchgeführten insgesamt sechs Versuche erneut.

Gegen Ende der Erzählung wird ein Überlebender verschiedener Konzentrations-lager namens Awrejml eingeführt , der sich in einer Nische hinter den aufgemalten Bil-dern versteckt hat. Er wird befreit , weil der »Rote Kommissar« der Roten Armee eine Tür dadurch öffnet , dass er »mit treffender Zielsicherheit der Figur des Gekreuzigten mitten ins Herz , in den roten Stern« ( 158 ) schießt.

»Im Halbdämmer des nun entblößten Toreinschnittes stand wie ein Bildnis in einer Wandnische ein totbleicher Mann in abgerissenen Kleidern , verschmutzt , mit Spu-ren von Blut und Eiter an der Brust und an den Armen. Der Mann hielt sich kaum auf seinen dünnen schlotternden Beinen. Er sah aus , als hinge er , die hochgehobe-nen Ellbogen seitwärts in das Gemäuer eingeklemmt , leblos in der Nische. Sein

Ge-sicht war eingeschrumpft , von verschorften Bluträndern zerrissen , die geschlossenen Augen waren weiß und wie bei einem Toten.« ( 158 )

Awrejml ist der Mensch , der durch die KZs ging. Er ist aber auch ein Symbol für Abraham , den Stammvater Israels , der nun stellvertretend für sein Volk in der Maschi-nerie der Schoah steht.

Mit der »Befreiung« Awrejmls , der letztlich an Erschöpfung stirbt , verschwinden die Bilder. Der Priester will nun das Geschehene durch den Vatikan untersuchen lassen , der allein Wunder entscheiden könne , der General hingegen befiehlt dem Kommissar , alles nach Moskau zu melden , denn »Moskau wird entscheiden , ob es ein Wunder war« ( 161 ).

Der Schuss ins Herz des Gekreuzigten , der in gewissem Sinne »auferstandene« über-lebende Awrejml , die verschwundenen Bilder an der Wand , dies alles sind Symbole und Anspielungen an Bilderverbot , Götzendienst und Christusverehrung , aber auch an den Antijudaismus der Christen , die den Juden auch jetzt noch misstrauen. Erwähnt wer-den muss auch die fast ironische – zumindest partielle – Gleichsetzung von Vatikan und Sowjetunion ( 159 ff. ).

Dem Bild an der Wand der Synagoge steht ein zweites großes Bildsymbol gegen-über. Gleich zu Beginn des Romans ( 19 ) wird berichtet , dass auf dem Bahnhof des Or-tes von drei christlichen Zöllnern eine Kiste gefunden wurde. Im Laufe der Erzählung erfährt man , dass Hitler diese Kiste an die SS No. 27 als Weihnachtsgeschenk schicken ließ. Wundersam war sie jedoch »den rechten Weg« gegangen und an den »rechten Ort«

( 124 ) gekommen und nicht von Niederlage zu Niederlage der Staffel gefolgt. Die drei Zöllner bringen sie mit göttlicher Hilfe vom Bahnhof zur Synagoge. In der Beschreibung der Kiste schwingt deutlich die Erinnerung an die Bundeslade mit. Die Größe der Kiste erinnert an sie ( eineinhalb Ellen hoch – Ex 25 , 10 ) ebenso wie an den Altar in der Wüs-te ( fünf Ellen lang – Ex 27 , 1 ) sowie den vom PropheWüs-ten Ezechiel beschriebenen Altar aus Holz ( zwei Ellen breit – Ez 41 , 22 ). Im Hebräischen heißt die Bundeslade ’aron ( be-rit )–YHWH. ’Aron ha-qodesch wiederum ist der Ausdruck für den Thoraschrein in der Synagoge. Der ’aron , die Lade oder auch der Kasten , beherbergte nach jüdischer An-sicht einst die Tafeln mit den Zehn Geboten ( Dtn 10 , 2 ) und war der Schemel Gottes.

Die wundersame Kiste bringt Soldaten zu Fall , die sich ihrer bemächtigen wollen , um sie und ihren Inhalt zu verbrennen ( 44 f. ). Priester identifizieren ihren Inhalt »rö-misch« als »corpus corporum« oder griechisch als »to soma ton somaton« ( 58 ). Auch dies zeugt von der feinsinnigen Symbolik , mit der Morgenstern arbeitet. Diese Kiste , mehrfach in ihrer Besonderheit ( Reinheit , spezifischer Geruch etc. ) – als »Schrein« – hervorgehoben , trägt die Aufschrift »Garantiert echte Figurenseife. Für die Helden der SS No. 27. Mit dem Dank des Führers. Weihnachten 1943« ( 126 ). Hitler und Göring hatten nach Auskunft des 17. Kapitels beschlossen , alle jüdischen Kinder zu ermor-den , um die Zukunft des Juermor-dentums zu verhindern. Gemeinsam mit Goebbels

ent-scheiden sie sich , aus den Toten Seife herzustellen. Der Inhalt der angelieferten Kis-te ist also nicht irgendeine Seife , sondern Seife , die aus jüdischen Kindern hergesKis-tellt wurde. Es heißt :

»In der Kiste stand die Figur eines Knaben von dreizehn Jahren. Von dem kränkli-chen Gelb des Wachses erschien die Figur als eine plastische Wiederholung der klei-neren Gestalt des Gekreuzigten.« ( 126 )

Die Figur wird von einem jüdischen Wasserträger namens Senderl – der hier nicht wei-ter behandelt wird – als Jochanaan erkannt , als getötewei-ter Bruder Nehemias. Dreimal wiederholt Senderl diese Erkenntnis und macht sie damit besonders anschaulich und religiös aufgeladen. An dieser Stelle klingt deutlich die Repräsentanz der Thora im Kind an. Der Wasserträger hebt die Figur »mit behutsamen und zärtlichen Händen , wie ein Frommer die Thora aus dem Schreine hebt« ( 127 ). Hier wird ein bekanntes Bild evo-ziert : das Herausnehmen der Thora aus dem ’Aron ha-qodesch , der sich üblicherweise an der nach Jerusalem orientierten Vorderwand der Synagoge befindet. Die Thora ist oft mit einem Mantel und einer Krone bedeckt. Implizit wird dabei auch das christ-liche Bild der Inkarnation des »Logos« in Jesus in kritischer Weise adaptiert. Wie Je-sus das Fleisch gewordene »Wort Gottes« ist , so ist die Figur von der Thora durchdrun-gen , ist ihr Stellvertreter.

Nehemia schließlich begeht eine entscheidende Symbolhandlung , über die gegen Ende des Romans berichtet wird. Hier steht man vor dem großen Gericht und dessen Vorsitzendem , dem Ab Bet-Din :

»Nehemia sah sich nach dem Ab Bet-Din um , der mit der geretteten Tora neben ihm stand. Angesichts der Tora ermannte sich Nehemia , und seine Augen erstrahlten wieder in Zuversicht. Und ohne sich der Zustimmung des Ab Bet-Din zu vergewis-sern , griff er nach der silbernen Krone , nahm sie von der Tora ab , setzte sie zur au-genscheinlichen Bestürzung aller Richter der Figur auf , und er sprach :

›Ihr Boten in der Nähe , ihr Boten in der Ferne , tretet zurück vor dieser unserer Majestät ! Tretet zurück und gebt den Weg frei , nicht mir , sondern meinem Bruder Jochanaan , der mit meiner Stimme spricht. Gebt ihm den Weg frei , daß er diese unsere Gebete hintrage vor das Obere Gericht , unsere Gebete und unsere Fragen , die mit der Wür-de dieser unserer Majestät würdig geworWür-den sind Wür-der höchsten Antwort.

So ihr aber den Weg nicht freigeben wollt meinem Bruder , geh’ ich zu dir , du Bote in der Nähe , und sage dir mit meiner Stimme : Gib uns die Antwort ! Sag uns die Bot-schaft ! Sonst geh’ ich hin und setze die Figur dir vor die Füße ab und sage : Das ist unser letztes Blut , das ist unser letztes Gebet , das ist unser letztes Wort , das ist unser letztes Aufgebot. Mehr haben wir nicht.‹

Und nun geschah es , daß der Bote seine Stimme erhob und Nehemia in großer Mil-de antwortete , und er sprach : ›Nehemia ben Zacharia Hakohen , du hast mit Mil- dei-ner Stimme angesagt , daß du hier und heute eine Antwort erbeten , erflehen , ertrot-zen willst. Sieh , du hast mit der Stimme deines Bruders , die dein Vater zeit seines Lebens nicht von deiner Stimme zu unterscheiden vermochte , die Antwort erbeten , erfleht , ertrotzt.‹« ( 144 )

Erst jetzt ist das Bild vollständig. Die Figur in der Kiste , modelliert nach dem Bild des getöteten Jochanaan , bekommt die Krone der Thora auf seinen Kopf gesetzt und fun-giert als Zeichen der Funktion der jüdischen Kinder für die Ankunft der messiani-schen Erlösung.

Die Bilder in der »Blutsäule« ergeben somit eigentlich ein großes Symbol der mes-sianischen Erlösung bzw. der Vorbereitung dieser Erlösung durch das Leid der Kinder.

Dabei wird ganz bewusst auf jüdische Motive verwiesen , so zum Beispiel auf die Funk-tion der Thora , auf die Bundeslade , aber auch auf die besondere Rolle der Kinder als

»Bürgen« für die Thora. Dieses Motiv etwa erscheint an einer Reihe von rabbinischen Stellen ( u. a. in Midrasch Tehillim 8. 4 ), wo davon die Rede ist , dass Gott die Thora am Sinai erst gibt , als Israel die Kinder als Bürgen für die Einhaltung der Thora »zur Ver fügung stellt«. In der Blutsäule wird darauf extra verwiesen :

»Es geschah in der großen Stunde der Offenbarung , da unser Volk am Sinai stand , bereit , die Tora zu empfangen. Da sprach der Schöpfer der Welt zu dem Volk : ›Ich will euch die Tora geben. Könnt ihr mir aber Bürgen stellen dafür , daß ihr die Tora auch hüten und erfüllen werdet ?‹ – ›Ja !‹ schrie das Volk , ›unsere drei Erzväter : Abra-ham , Isaak und Jakob mögen unsere Zeugen sein.‹ Der Schöpfer der Welt aber sag-te : ›Nein , eure Erzväsag-ter haben so manches getan , das mir nicht zu Gefallen war. Ssag-tellt mir andere Bürgen.‹

›Die Propheten sollen die Bürgen sein für uns‹ , schrie das Volk. ›Nimm , Herr , das Wort unserer Propheten als Bürgschaft für uns !‹ – ›Nein‹ , sprach der Schöpfer der Welt. ›Die Propheten werden in dem Brand ihrer Menschenliebe , in dem Feuer ihres Wortes der Lehre so manches hinzutun und also ihre späten Nachtreter und Nach-ahmer ermutigen , von der Lehre manches wegzutun. Stellt mir andere Bürgen.‹

›Unsere Kinder‹ , schrie das Volk , ›laß unsere Kinder für uns einstehen ! Nimm un sere Kinder als Bürgschaft !‹ – ›Eure Kinder‹ , sprach der Herr , ›ja , eure Kinder sind mir als Bürgen gut. Um eurer Kinder willen werde ich euch die Tora geben.‹ Du hast gut gefragt , Nehemia , du hast im Namen unserer Kinder gefragt.« ( 148 )

Neben den jüdischen sind es erneut christliche Motive , die aufgegriffen werden. Da ist einmal das Jesuskind , das in der christlichen Volkskunst nicht selten begegnet. Zu

den-ken ist an die sogenannte »Gratiosus Jesulus«-Figur , wie sie in Prag in einer Darstel-lung des kleinen Jesus aus Wachs mit der Krone verehrt wird ( Abb. 1 ). Die Tradi tion , Wachskinder für Weihnachtskrippen herzustellen , findet sich zudem beispielsweise in

den-ken ist an die sogenannte »Gratiosus Jesulus«-Figur , wie sie in Prag in einer Darstel-lung des kleinen Jesus aus Wachs mit der Krone verehrt wird ( Abb. 1 ). Die Tradi tion , Wachskinder für Weihnachtskrippen herzustellen , findet sich zudem beispielsweise in

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