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Zum didaktischen Potential des Bilderbuchs

Bühne frei für große Gefühle: Ästhetisches und theatrales Lernen im DaF-/DaZ-Unterricht am

3 Zum didaktischen Potential des Bilderbuchs

implizit zu performativen Tendenzen der Gegenwartskunst. Das Geschehen im Publikum nähert sich in seiner Bedeutsamkeit dem Bühnengeschehen an, die In-teraktion zwischen Schauspielern/innen und Zuschauern/innen wird zum Gegen-stand der künstlerischen Darstellung. Daraus ergibt sich nun die reizvollste Neue-rung, die Peter Schössow hinzuerfindet. Der Liebestragödie der Bühnenhandlung wird eine zarte Romanze zwischen Darsteller und Zuschauerin zur Seite gestellt.

Die junge Theaterbesucherin der Eingangsvignette hat offensichtlich ein Auge auf den Hauptdarsteller geworfen. Ob es die Liebe zu Büchern und Literatur ist, die sie verbindet? Als sie ihr Ticket an der Kasse zeigt, schlendert der Peter-Darsteller gerade recht locker von links ins Bild (blondes Haar, gelber Schal). Das Mädchen hat in der ersten Reihe Platz genommen (dritter Platz von links, von der Bühne aus gesehen) und verfolgt die Handlung des Stückes von Anfang an fasziniert. Als Peter die Trauung seiner Liebsten mit dem offensichtlich gut situierten Hans mit ansehen muss, hält es die kleine Zuschauerin nicht mehr auf ihrem Platz. Auch als er das jung vermählte Paar malen muss, erstarrt sie förmlich vor Schrecken. Das Mitfiebern hält an, bis sich am Ende des Spiels der Peter-Darsteller verbeugt. Jetzt endlich darf das Mädchen zur Bühnenrampe laufen und ihn anhimmeln. Auf dem Schlussbild der Bilderzählung sieht man die bezopfte Zuschauerin neben dem Peter- und dem Hans-Darsteller einhergehen, vertieft in ein lebhaftes Gespräch.

Der Hans-Schauspieler telefoniert allerdings nebenbei, und zwar vermutlich mit dem großen Mädchen mit Pagenkopf und weiß-gelber Schiebermütze, die er auch schon in der Garderobe per Mobiltelefon kontaktiert hatte, und die im Stück eine der drei Brautjungfern/Nonnen/Schafe/Engel/Jungfräulein gemimt hat. In Wirk-lichkeit ist also alles ganz anders – und es stellt sich nur die Frage, woher die bei-den Sträuße mit weißen Rosen kommen – auf der Bühne spielte nur einer eine Rolle, jetzt trägt der Peter-Darsteller auch einen Strauß. Zuhause bei der jungen Theaterbesucherin blüht indessen eine einzelne Rose im Topf. So gestaltet Schössow in seinem Bilderbuch nicht nur die für einen Theaterbesuch typische Anschlusskommunikation, sondern es gelingt ihm auch, die intensive Wirkung einer Theateraufführung bildkünstlerisch festzuhalten.

bemühen, Bilderbücher ausfindig zu machen, die doppelsinnig konzipiert sind bzw. auch Jugendliche und Erwachsene interessieren (vgl. Weinkauff; Glasenapp:

170f.). Mit dem Bilderbuch Der arme Peter ist ein solches Medium gegeben. Das universelle Thema Liebe spricht Lernende unterschiedlicher Kulturen und Alters-gruppen an.

Heines Gedicht Der arme Peter erzählt eine gut nachvollziehbare (Alltags-)Ge-schichte; gleichwohl handelt es sich um lyrisch verdichtete Sprache. Es liegen Überstrukturierungen auf lautlicher, lexikalischer, semantischer, syntaktischer und textueller Ebene vor. Diese typischen Elemente poetischer Sprache können auch im DaF-/DaZ-Unterricht erfahrbar gemacht werden. In seiner Kürze und stilisier-ten sprachlichen Einfachheit (vom Irrealis in V. 11/12 abgesehen) kommt der Text DaF-/DaZ-Lerndenden entgegen. Peter Schössows Bilderbuchadaption erweitert den literarischen Text von Heinrich Heine zu einem hochkomplexen ästhetischen Gebilde, dem es sich verstehend anzunähern gilt; das schließt die Artikulation von Nichtverstehen bewusst mit ein. Es ist außerdem ein Beispiel dafür, wie Bilderbü-cher auch eine eigene, vom Text abweichende Geschichte erzählen können. Der historische Text von Heinrich Heine wird so in einen Gegenwartskontext gerückt.

Dies dürfte den Textzugang erheblich erleichtern und schließt eine Betrachtung unter literarhistorischen Fragestellungen dennoch nicht aus. Heinrich Heine gilt als einer der bekanntesten deutschen Dichter weltweit. Die Beschäftigung mit seinem Werk im Fremdsprachenunterricht ist auch im Hinblick auf kulturelles Lernen leicht zu rechtfertigen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Erfahrungen die Lerngruppe bereits mit Gedichten, Bilderbüchern, aber auch mit der Rezeption und Produktion von Theateraufführungen gemacht hat. Das Thema unglückliche Liebe wird ab einem Alter von neun oder zehn Jahren für Kinder relevant. Die Figur des unglücklichen Peter stellt fraglos Empathie-, vielleicht auch Identifikati-onsmöglichkeiten bereit und bedient so die personale Lernebene (vgl. Rösch 2011:

107). Auf sozialer Ebene bietet das Bilderbuch Anlass für Gespräche vor, während und nach der Rezeption. Entsprechend der Anschlusskommunikation nach einem Theaterbesuch können inhaltliche und aufführungs- bzw. bildbezogene Fragen diskutiert werden. Auf der Methodenebene ist zu überlegen, welche Lesarten das Bilderbuch ermöglicht. Ist der arme Peter existenziell und/oder materiell unterle-gen? Soll der Blick auf die Handlung des Bühnenstücks und/oder auf dessen In-szenierung bzw. Inszeniertheit und Wirkungsdimension gerichtet werden? Welche Rolle spielt dabei die Historizität des Textes? Wie positioniert sich Peter Schössow zu seinem Gegenstand? Auf Sachebene geht es darum, die vorliegende intermedia-le Bild-Text-Kombination mit ihren spezifischen Merkmaintermedia-len zu erkennen und zu nutzen. Das bedeutet in diesem Fall die genaue Wahrnehmung des Gedichttextes einschließlich seiner poetisch und historisch bedingten Fremdheitssignale wie auch ein aufmerksames Bildlesen sowie die Blickschärfung für die intermediale Bezug-nahme des Bilderbuchs auf ästhetische Merkmale einer Theateraufführung. Für manche DaF-/DaZ-Lernende wird auch die kulturspezifische Darstellung eines traditionellen mitteleuropäischen Theaters und erst recht die Nutzung dieser

öf-fentlichen Institution durch Kinderschauspieler/innen fremd sein. Hier kann (in-ter)kulturelles Lernen ansetzen.

3.2 Ästhetisches und theatrales Lernen in der DaF-/DaZ-Perspektive Wenn auch gilt, dass unter der Zielsetzung von Spracherwerb grundsätzlich jede Literatur als Lerngegenstand in Frage kommt (vgl. Rösch 2011: 107), so stellt sich die Sachlage anders dar, wenn neben dem Sprachlernen ästhetische Lernprozesse ins Spiel kommen sollen. Thomas Zabka definiert ästhetische Bildung auf der Grundlage der Aisthesis und Ästhetik als Sinneserfahrung und als Erfahrung des

„ästhetisch gelungenen Kulturprodukts“ (Zabka 2013: 472). Es gehe um den „Er-werb ästhetisch genannter Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen“ (ebd.: 471) sowie um die „Enkulturation in ästhetisch genannte Objekte des Alltagslebens, der Massenmedien und der Künste“ (ebd.). Hierbei komme sowohl der Ausbildung des ästhetischen Werturteils als auch der ästhetischen Praxis, die Vermittlung, Auf-führung und Gestaltung umfasst, besondere Bedeutung zu. Als zentrale Ziele äs-thetischer Bildung formuliert Zabka „Wahrnehmungsfähigkeit, Genussfähigkeit, individuell-lebensgeschichtliche Symbolbildung, Denken in Ähnlichkeiten und ein Interpretieren ohne Nötigung zur abschließenden begrifflichen Fixierung“ (ebd.:

483). Ästhetische Bildung als Gesamtkonzept in den DaF-/DaZ-Unterricht zu integrieren, ist grundsätzlich ein gewagtes Unterfangen und bedarf ganz sicher der flankierenden sprachlichen Unterstützung. Bei der ästhetischen Erfahrung handelt es sich zwar um eine anthropologische Grundkonstante, die sich allenfalls kulturell unterschiedlich ausdifferenziert. Beachtet werden muss allerdings, dass das Spre-chen über ästhetische Erfahrung für DaF-/DaZ-Lernende eine ungleich höhere Hürde darstellt als für L1-Lernende. Es müssen also Redemittel bereitgestellt wer-den, die es ermöglichen, Wertungen, Empfindungen sowie die Funktionsweise medienspezifischer Gestaltungsmittel zu versprachlichen. Es wäre zu erproben, inwiefern sich zu dem Bilderbuch von Heine/Schössow Aufgabenstellungen im Sinne der oben genannten Bildungsziele entwickeln ließen.

Betrachtet man Schössows Bilderbuch als eine konzeptionelle Theaterauffüh-rung, stellen sich Fragen nach den Möglichkeiten theatralen Lernens. Gabriele Paule sieht die Theaterdidaktik im Kontext kultureller Sozialisation (vgl. Paule 2013). Ziel müsse die Heranbildung von Theatergänger/innen sein, die sensibel geworden sind für theatrale Ästhetik und die über entsprechendes Wissen verfü-gen, um theatrale Kunstwerke kompetent rezipieren zu können. Anders als der eindimensional codierte Lesetext eines Dramas ist die fertige Inszenierung eines Theaterstücks ein äußerst komplexer und vielschichtiger Text, bei dem das Zu-sammenwirken verschiedenster Zeichen simultan wahrgenommen wird. Wenn eine konkrete Theateraufführung (hier: eine ins bildkünstlerische Medium transferierte Aufführung) zum Unterrichtsgegenstand wird, stellen sich zunächst Probleme der Aufführungsbeschreibung und Aufführungsanalyse. Als didaktische Aufgabenfel-der und Ziele nennt Paule zusammenfassend und teilweise in Übereinstimmung

mit Zabka die Wahrnehmungsschulung, das Kennen- und Lesenlernen der Ele-mente verschiedener theatraler Zeichensysteme und ihres wechselseitigen Zusam-menwirkens sowie die Äußerungskompetenz, d.h. das Redenlernen über Kunst.

Zuschauen lernen, verstehen lernen, genießen lernen – auf diese drei Säulen müsse die Theaterdidaktik aufbauen (vgl. Paule 2013). Auch für Prozesse theatralen Ler-nens im DaF-/DaZ-Unterricht müssen spezifische Redemittel zur Verfügung ge-stellt werden, die die Entwicklung der geforderten Äußerungskompetenz erst er-möglichen. Diese betreffen z.B. den theaterspezifischen Wortschatz einschließlich eines Vokabulars zur Aufführungsbeschreibung und -analyse. Hinzu kommen Redemittel, die die Wirkungsdimension des Dargebotenen betreffen. Wie das Bil-derbuch Der arme Peter zum Ausgangspunkt für DaF-/DaZ-spezifisches, d.h.

sprachgestütztes theatrales Lernens werden kann, soll im Folgenden gezeigt wer-den.

4 DaF-/DaZ-spezifische Aufgabenstellungen: Ästhetisches