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3 Blau farbentheoretisch und farbenpsychologisch gesehen

blau. Heute blau und morgen blau, und übermorgen wieder. Blauer Montag (Wolf 2003: 25).

Christa Wolfs Text enthält an die 80 phraseologische Ausdrücke im semantischen Feld des Wortes blau und kann auszugsweise zur Erweiterung des Wortschatzes, des Gebrauchs von Redewendungen und zur Entdeckung von Zitaten und inter-textuellen Bezügen innerhalb der literarischen Tradition der deutschsprachigen Länder dienen. So kann die Farbe Blau ein Ausgangspunkt sein zur Erweiterung des Wortschatzes und der Redewendungen im Deutschen. Das gilt natürlich auch für alle anderen Farben und für eine große Anzahl von Wörtern und Begriffen, von denen aus sich große lexikalische und semantische Felder erschließen lassen.

Aber kommen wir zurück in die Gegenwart.

In einem Aufsatz über die physikalischen Eigenschaften der Farbe Blau er-wähnt der Ingenieur und Maler Harald Küppers, dass es drei theoretische Perspek-tiven, drei wissenschaftliche Lager gibt, um die Farbe Blau zu betrachten: „das phy-sikalisch orientierte, das materialorientierte und das physiologisch orientierte La-ger“ (Küppers 1990: 26). Dazu kommt als vierte Perspektive die

ästhetische Betrachtungsweise [die aber] mit Farbenlehre genaugenommen nichts zu tun hat. Es handelt sich bei ihr vielmehr um individuelles Ermes-sen und um Geschmacksfragen (ebd.: 26).

Physikalisch gesehen,

[entsteht] eine blaue Farbempfindung also grundsätzlich dann, wenn im Buntwert einer Farbnuance die Teilmenge einer der beiden blauen Grund-farben, also entweder die von Violettblau oder die von Cyanblau, dominiert.

Durch diese Ausführungen wird deutlich, dass der Farbname Blau – wie alle anderen Farbnamen aus der Umgangssprache auch – keine bestimmte Farbe bezeichnen kann. Vielmehr ist damit eine riesige Anzahl von Farbnuancen gemeint, die etwa einen Drittelbereich des gesamten Farbenraums ausfüllen.

Um in diesem großen Blau-Bereich durch sprachliche Differenzierung zu einer etwas genaueren Aussage zu gelangen, werden alle möglichen Wort-verbindungen praktiziert: Himmel-, Wasser-, Preußisch-, Ultramarin-, Blass-, Cölin-, Kobalt-, Echt-, Türkis-, Marine- oder Orientblau oder Grünblau, um nur einige zu nennen (ebd.: 30).

Sogar auf den Ausdruck Bodensee-Blau kann man stoßen.

Harald Küppers hat versucht, die vielen Variationen von Blau in einem von ihm entworfenen Gemälde festzuhalten, dem er den Titel Nachbarschaft zu Blau gab (vgl. ebd.: 29). Das Bild kann im DaF-Unterricht ein Sprechanlass sein, um über die Farbbeobachtungen und Farbempfindungen der Teilnehmer zu diskutieren, durchaus auch mit interkultureller Perspektive. Denn was in einer Kultur als Blau erkannt wird, kann in einer anderen als Grün bezeichnet werden. Die alten Grie-chen sahen das Meer oder den Himmel noch weinrot oder schwarz.

Immer wieder wurden neue Namen für eine ganz bestimmte Blautönung ent-wickelt, wie z.B. im 18. Jahrhundert das Berliner Blau, dem man im Laufe der Jahr-hunderte noch ingesamt 61 andere Namen gab (vgl. Becker 1990: 49). Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte der französische Maler Yves Klein sein Blau, inspiriert vom Himmel der Côte d’Azur, der Blauen Küste, und nannte es International-Klein-Blue (IKB), mit dem er gegen Ende seines Lebens (1962) ausschließlich malte.

Das IKB, dieses unnachahmliche Blau, das sich wie keine andere Farbe mit einem bestimmten Künstler [des 20. Jahrhunderts] verbindet, steht für die vollkommene Symbiose zwischen Künstler und Medium (Schuth 1990:

426).

Bei Kleins Fixierung auf sein Blau haben wir es mit einem Übergang zu tun von der physikalisch oder physiologisch orientierten Analyse von blau zur ästhetischen Betrachtungsweise der Farbe Blau. In einer Unterrichtseinheit über die Farben ließen sich mit dieser Zusammenstellung von Werken von Yves Klein interessante und auch kritische Kommentare von Kursteilnehmern über den Zusammenhang von Farben und Emotionen provozieren.

Pierre Restany schreibt,

Für mich, der ich Schritt für Schritt Yves Kleins Abenteuer der Monochro-mie verfolgt habe und Zeuge seiner entscheidenden Entwicklungsphase war, ist Blau in erster Linie ein einzigartiger Katalysator von Sensibilität, das sichtbare Zeichen des Unendlichen in seiner inneren Unermesslichkeit. Mit Blau verbinden wir Offenbarung: blau erscheint uns der Himmel (Restany 1990: 15).

Die Sehnsucht und die Obsession, das Unerreichbare zu finden, das Ideal, verbin-det sich oft mit der Farbe Blau, wie bei Yves Klein, wie in Anna Seghers Erzählung Das wirkliche Blau, wie in der blauen Blume von Novalis.

Bei Künstlern und Dichtern wird man schnell fündig, wenn man nach den emotionalen Reaktionen auf die Farbe Blau sucht. Für Goethe ist Blau „eine Farbe der Energie“ (Goethe zit. nach Gercke 1990b: 20), und seine Farbenlehre ist voll von physiologischen und möglichen psychologischen Reaktionen auf die Farbe Blau:

Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blau gerne an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht (ebd.).

Thomas Mann, der sich als geistiger Erbe von Goethe betrachtete, hat unter ande-rem in Der Zauberberg das Motiv der Bläue variiert. Rolf Renner hat dieses Thema ausführlich interpretiert in seinem Artikel Beschriebenes und erschriebenes Blau. Die Farbe Blau in literarischen Texten. Hier sei nur kurz darauf verwiesen. Im Kapitel Schnee des Zauberberg wird geschildert, wie sich Hans Castorp auf einer Skitour ver-irrt, wie er vor Erschöpfung an einer Hütte zusammensinkt und in dieser Grenzsi-tuation zwischen Leben und Tod im Halbschlaf zu träumen beginnt. Rolf Renner schreibt:

Die Phantasie der Entgrenzung, die in Castorps Schneetraum mit der Farbe Blau verbunden ist, findet sich noch an einer anderen Stelle des Romans, auch dort ist sie Teil einer synästhetischen Empfindung, die mit einer inten-siven Wahrnehmung von Musik verknüpft ist [...] Die Farbe Blau ist in die-sem Zusammenhang mehr als das Zeichen für eine Entgrenzung, eine be-wusste Entfernung von der Welt. Sie erschließt einen Bereich, der sich der Vernunft und Selbstkontrolle entzieht (Renner 2000: 221).

Aus der Zeit, in der Der Zauberberg entstand, stammt das Gemälde Mondnacht im Winter (1918/1919) von Ernst Ludwig Kirchner, der sich lange in Davos aufhielt und die blauen Berge in seiner Malerei festhielt.

Für den Maler Wassily Kandinsky, der mit seinem Gemälde Der blaue Reiter (1903) der gleichnamigen expressionistischen Malergruppe ihren Namen gab, wird das Blau „zur Farbe des ‚Geistigen in der Kunst‘, [es erinnere den Menschen an das] Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Über-sinnlichem“ (Gercke 1990b: 20). Seine Zeitgenossen Else Lasker-Schüler (Mein blaues Klavier), Oskar Loerke (Blauer Abend in Berlin), Gottfried Benn (Blaue Stunde) und Rainer Maria Rilke evozierten mehrfach in ihren Gedichten die Farbe Blau. In Rilkes Gedicht Blaue Hortensie heißt es:

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen In einer von den Dolden, und man sieht

Ein rührend Blaues sich vor Grün zu freuen (Rilke zit. nach Linder 2001: 57).

Rilke wusste aber auch, dass das Thema so unendlich ist, wie der uns blau erschei-nende Äther, als er schrieb: „Es ließe sich denken, dass jemand eine Monographie des Blaus schriebe“ (an Clara Rilke, 08.10.1907; zit. nach Linder 2001: 17). Eine einzige Monographie reicht sicher nicht aus. Das Gefühl des Unermesslichen und der Unendlichkeit, das immer wieder mit der Farbe Blau assoziiert wird, zieht sich wie ein Leitfaden durch die Literatur und Malerei, und das Thema Farbe Blau mit seinen vielen Motiven bietet in der Germanistik durchaus die Möglichkeit, auch einmal von hier aus sowohl Literatur- und Kulturwissenschaft als auch Kompara-tistik zu betreiben.