• Keine Ergebnisse gefunden

Literarische Kompetenz

Der Begriff der literarischen Kompetenz war in der schulischen Deutschdidaktik bereits vor den PISA-Tests bekannt und in Gebrauch (vgl. Frederking 2010: 332).

Der bemerkenswerte Anstieg der Zahl der Veröffentlichungen dazu seit ca. 2005 (vgl. Abraham 2005, Spinner 2006, Kammler 2006 und 2010, Eggert 2009, Winter-steiner 2010, Frederking 2010, Froidevaux 2012) zeigt allerdings, dass er erst mit der im Anschluss an PISA erfolgenden Umstellung auf einen kompetenzorientier-ten Deutschunterricht zu einem prominenkompetenzorientier-ten Thema der literaturdidaktischen Reflexion geworden ist.3 Die Motive dafür sind vielschichtig. Zunächst einmal spiegelt sich in dieser Zunahme der Publikationen zum Gegenstand Literarische Kompetenz im Sinne der oben erläuterten Zielsetzung, die Effektivität von Unter-richt zu erhöhen, das Bemühen der Literaturdidaktik wider, „klarer zu sehen, was Kernkompetenzen des literarischen Verstehens sind und wie man sie vermitteln kann“ (Abraham; Kepser 2009: 74).4 Im Hintergrund stand und steht aber auch die Sorge, dass

das, was sich nicht als Kompetenz beschreiben, in Bildungsstandards for-mulieren und in Testaufgaben erfassen lässt, […] zumindest mittelfristig aus dem Fokus der Lehrenden zu verschwinden und aus dem Zentrum des Un-terrichts an dessen Rand gedrängt zu werden [droht; MD/RR] (Frederking 2008: 7).

3 Ähnliches lässt sich für die schulische Fremdsprachendidaktik konstatieren (vgl. Hallet 2010, Röss-ler 2010, Surkamp 2012).

4 Vgl. auch Spinner 2006: 7, Surkamp 2012: 88f.

Und genau das ist ja der Fall in Bezug auf das Lesen von Literatur, deren Rezepti-on sich – darin sind sich die Literaturdidaktiker/innen weitgehend einig – „einer gradlinigen Skalierung oder einfachen Bewertung entzieh[t]“ (Burwitz-Melzer 2008:

5). Nach Bonnet; Breidbach (vgl. 2013: 30) führte dies aber nicht zu einer Proble-matisierung der Kompetenzorientierung als solcher, sondern zu einer Problemati-sierung ihres Verhältnisses zur StandardiProblemati-sierung; demnach bemüht sich die eine Richtung der Literaturdidaktik um eine Modellierung der literarischen Kompetenz, die sie operationalisierbar macht; die andere Richtung lehnt dies ab und fordert,

„neben dem Kompetenzdiskurs einem Bildungsdiskurs gleichberechtigte Geltung zu verschaffen“ (ebd.). Ein Beispiel für die erste Richtung ist das Projekt Literari-sche Rezeptionskompetenz als literarästhetiLiterari-sche Urteilskompetenz (LUK). Dieses Projekt versucht das Grundproblem, dass die konstitutive Mehrdeutigkeit des literarischen Textes eine „kompetenztheoretische Modellierung und empirische Erfassung äs-thetischen Verstehens […] schwierig“ (Frederking 2008: 52) macht, im Rückgriff auf Ecos semiotische Ästhetik und insbesondere seinen Begriff der intentio operis zu lösen; denn dieser erlaube es, bestimmte Interpretationen als inadäquat abzuweisen und somit die (Kompetenz-)Dimension des semantischen literarästhetischen Urtei-lens, die auf die Feststellung des Sinns eines literarischen Textes zielt, einer Be-stimmung und Beurteilung zugänglich zu machen (vgl. ebd.).5 Problematisch an diesem Ansatz ist die fehlende Begründung für die Wahl seiner literaturtheoreti-schen Grundlage. Dabei ist die Unterscheidung zwiliteraturtheoreti-schen intentio auctoris, intentio lectoris und intentio operis diskutabel, weil sie die essentialistische Vorstellung eines leserunabhängigen Textsinns nahelegt. Möglicherweise macht aber gerade diese Implikation die Attraktivität von Ecos Modell für LUK aus. Denn das Konstrukt einer intentio operis ermöglicht es, auf eine literaturtheoretisch bzw. -wissenschaftlich (vermeintlich) abgesicherte Weise die konstitutive Mehrdeutigkeit des literarischen Textes zwar grundsätzlich anzuerkennen, sie aber zugleich auch wieder zu begren-zen und letztlich zu neutralisieren – als Voraussetzung dafür, dass die Ergebnisse literarischen Lernens skalier- und messbar gemacht und objektiv bewertet werden können.

Solchen Versuchen steht Kaspar H. Spinner erkennbar skeptisch gegenüber. In seinem vielbeachteten Aufsatz zum literarischen Lernen von 2006 betont er, dass sich „literarisches Lernen von dem unterscheidet, was in der Regel in Lesetests abgeprüft wird“ (Spinner 2006: 12), denn Literatur sei von der „Unabschließbarkeit der Sinnbildung“ und von „Mehrdeutigkeit“ (ebd.) gekennzeichnet. Insofern kann er als ein Vertreter der zweiten Position gelten, zumal er die Kompetenzorientie-rung grundsätzlich gutheißt und literarische Kompetenz ausdrücklich als „Ziel“

5 Weitere Dimensionen, die von dem Modell berücksichtigt werden, sind die des ideolektalen literaräs-thetischen Urteilens, bei der es darum geht, die formalen Spezifika eines literarischen Textes zu erfassen, sowie die Dimension des kontextuellen literarästhetischen Urteilens, womit die Verarbeitung von textexternen Informationen wie historische, epochenspezifische, gattungsgeschichtliche usw. Aspekte gemeint ist; auf diese Dimensionen können wir im Rahmen dieses Aufsatzes jedoch nicht weiter eingehen.

(ebd.: 7) literarischen Lernens bezeichnet. Schaut man genauer hin, enthält sein Text allerdings Hinweise, die sein Bekenntnis zur Mehrdeutigkeit und unab-schließbarer Sinnbildung relativieren. So ordnet er sprachlichen Gestaltungsmitteln eindeutige ästhetische Wirkungen und Funktionen zu (vgl. ebd.: 9), seine Empfeh-lung, „Perspektivenübernahme“ (ebd.) zu üben, impliziert die Annahme, man kön-ne diese Perspektiven zweifelsfrei identifizieren; er ordkön-net Texte nach Schwierig-keitsgraden (vgl. ebd.: 12), ohne darauf einzugehen, dass auf diese Weise Deutun-gen vorgegeben und Deutungsspielräume eingeschränkt werden. Damit rückt Spinner näher an LUK heran, als ihm lieb sein dürfte. Deutlich wird an diesen beiden Beispielen, dass in der Debatte um den Begriff der literarischen Kompetenz neben dem Begriffsbestandteil Kompetenz (und dem damit gegebenen Bezug auf Standardisierung, die je nach Standort entweder akzeptiert oder abgelehnt wird) auch der erste Begriffsbestandteil zu berücksichtigen ist, was in der literaturdidakti-schen Diskussion indes kaum geschieht: Kritisch wird in der Regel nur auf den Kompetenzbegriff Bezug genommen, der (meist rezeptionsästhetisch modellierte) Literaturbegriff wird dagegen als unproblematisch vorausgesetzt.6

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf den Ursprung von Konzept und Begriff der literarischen Kompetenz zu werfen. Das Konzept geht auf die von der strukturalen Linguistik beeinflusste Poetikdiskussion der sechziger Jahre zurück (vgl. Barsch 2013); der Begriff wurde von Jonathan Culler in seinem 1975 veröffentlichten Buch Structuralist Poetics, das ein eigenes Kapitel zur „Literary Competence“ enthält, profiliert (vgl. Hallet 2010). Literarische Kompetenz be-schreibt demnach die Kenntnis und die Beherrschung der spezifischen (wenn auch historisch variablen) Konventionen für die Rezeption und die Produktion literari-scher Texte (vgl. Culler 1975: 117f.). Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine angemessene Interpretation des einzelnen, konkreten Textes (vgl. ebd.: 118). Es geht vielmehr darum, sich mit den – konventionsgeregelten – Bedingungen literarischer Bedeutungsproduktion auszukennen; also mit dem „how literature works“ (ebd.:

119). Damit ist zweierlei impliziert: Der literarische Text ist, wie rätselhaft und opak er sich im Konkreten – als einzelnes literarisches Werk – auch darbieten mag, in seiner Funktionsweise grundsätzlich transparent; und ein kompetenter Umgang mit diesem Text lässt sich von einem weniger kompetenten Umgang klar unterschei-den (vgl. ebd.: 121). Diese doppelte Transparenz – die der literarischen Funkti-onsweise eines Textes und die des kompetenten Umgangs mit ihm – könnte ein Grund für die intensive Rezeption sein, die der Begriff der literarischen

6 Wenn Bonnet; Breidbach darauf hinweisen, dass es „lohnend sein (könnte), die Debatte von der Rekonstruktion des Gegenstandes ‚Literatur‘ her aufzurollen“ (2013: 35), dann machen sie insofern auf ein Desiderat der literaturdidaktischen Kompetenzdebatte aufmerksam. So liegt ein Problem der Kompetenzkataloge von – beispielsweise – Burwitz-Melzer 2008, Hallet 2009 und Surkamp 2012 nicht zuletzt darin, dass das ihnen zugrundeliegende Verständnis vom literarischen Text – oder an-ders formuliert: die ihnen implizite Literaturtheorie – kaum transparent gemacht, nicht systematisch reflektiert und schon gar nicht begründet wird.

tenz in der Literaturdidaktik nach PISA erfahren hat.7 Nun gesteht Culler am Ende des Kapitels allerdings zu, dass das Lesen von Literatur bisweilen an die Grenze zwischen dem „comprehensible“ (ebd.: 129) und dem „incomprehensible“ (ebd.) führe und damit an einen Punkt, wo die interpretativen Modelle, „which inform oneʼs culture“ (ebd.: 130), brüchig würden. Dies bedeutet aber, dass literarische Kompetenz schlussendlich doch nicht im Befolgen von Regeln und Konventionen aufgeht. Denn diese können dort keine Orientierung mehr bieten, wo jene Zone des Literarischen betreten ist, in der unsere „procedures for making sense“ (ebd.) grundlegend subvertiert und unterminiert werden. Um sich in dieser Zone bewe-gen zu können, reicht die Kenntnis der literarischen Konventionen nicht aus; sie muss ergänzt – und d.h. auf eine paradoxe Weise relativiert und transzendiert – werden durch kreative und im Wortsinn unkonventionelle Fähigkeiten zur Rezeption und Produktion von Bedeutung. Damit ist der von Culler eingeführte Begriff der literarischen Kompetenz gesprengt, und zwar von innen heraus. Sein Grundprob-lem hat Terry Eagleton sehr treffend folgendermaßen umschrieben:

Ein kompetenter Leser ist der, der bestimmte Regeln auf den Text anwen-den kann; aber welches sind die Regeln, nach anwen-denen man Regeln anwendet?

[…] Die Regel mag beispielsweise sein, Parallelismen im Gedicht aufzuspü-ren, aber was zählt als Parallelismus? Wenn Sie mit dem, was für mich als Parallelismus zählt, nicht einverstanden sind, haben Sie mit keiner Regel ge-brochen [...]. Und wenn Sie mich fragen, warum ich gerade diese Regel überhaupt anwende, kann ich mich abermals nur auf die Autorität der litera-rischen Institution berufen und sagen: „So machen wir das eben.“ Worauf Sie immer erwidern können: „Dann machen Sie doch mal etwas anderes“

(Eagleton 1997: 109).

Diese Aufforderung kann sich auf ein Verständnis von Literatur berufen, demzu-folge diese die Konventionen in einer unvorhersehbaren und nicht-antizipierbaren Weise bricht und verschiebt. Verschiebt sich damit aber nicht zugleich auch der Begriff der literarischen Kompetenz, anstatt – wie es Eagleton mit seinem Diktum beabsichtigt – des Scheiterns überführt zu werden? Könnte man es nicht als einen Aspekt des Literarischen auffassen, dass es auch die Spielregeln des eigenen Dis-kurses permanent in Frage zu stellen und zu verändern vermag? Als literarisch kompetent würde dann nicht mehr der- oder diejenige gelten, der/die den literari-schen Konventionen gemäß rezeptiv oder produktiv Sinn bildet, sondern der/die sich in der von der Literatur aufgerissenen Lücke zwischen den Konventionen zu bewegen und ihnen damit sogar tendenziell voraus zu sein vermag. Der Begriff der literarischen Kompetenz, so verstanden, stünde dann aber nicht nur in Opposition zum standardorientierten Kompetenzdiskurs (vgl. Bonnet; Breidbach 2013: 33,

7 Im Lichte dieser Vermutung zeigen sich Berührungspunkte zwischen Ecos intentio operis – dem zentralen Baustein in der Theoriearchitektur von LUK – und Cullers „conventions of plausibility“

(Culler 1975: 127).

Hallet 2009, Hallet 2010), sondern auch zu einem Literaturdiskurs, der die Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur; zwischen sog. literarischer und sog. Alltags-sprache immer schon kennt (auch wenn er – wie Culler – durchaus anerkennt, dass sich diese Grenzen bisweilen ändern und verschieben).

Dieser Punkt führt zu der Frage, was der Begriff der literarischen Kompetenz für das Fach Deutsch als Fremdsprache leisten kann. Von seinem Ursprung her ist der Begriff auf Gegenstände und Ziele bezogen, die für das Fach Deutsch als Fremdsprache, dessen Gegenstand nicht die Literatur in einem traditionellen Sinne ist, nicht relevant sind. Hinzu kommt, dass der Begriff – wie wir am Beispiel von LUK gesehen haben – sowohl zum Literarischen als auch zum (standardorientier-ten) Kompetenzdiskurs ein ambivalentes und uneindeutiges Verhältnis aufweist.

Auf der anderen Seite lenkt der Begriff – und zwar schon bei Culler – den Blick weg von den Ergebnissen literarischer Sinnproduktion – dem einzelnen literari-schen Text – hin zu (den Bedingungen) ihrer Entstehung. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, literarische Kompetenz als eine erweiterte Sprachkompetenz im Sinne von Claire Kramsch aufzufassen, nämlich als die Fähigkeit, „to understand the practice of meaning making itself“ (Kramsch 2006: 251). Voraussetzung dafür ist aber ein unkonventionelles und keineswegs selbstverständliches Verständnis des Lite-rarischen, das es aus der konventionellen Bindung an den literarischen Text und die Sprache der Literatur löst und es als Aspekt und Dimension der Sprache selbst begreift. Wie sich der Begriff unter einer solchen Perspektive konkretisieren kann, hat Dobstadt (2010) aufgezeigt.