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Mimetisch-ästhetische Sprachförderung im Deutschunterricht – zwei Beispiele

Der is im Herzen müd – Mimetisch-ästhetisches Lernen im gemeinsamen Deutschunterricht mit

3 Mimetisch-ästhetische Sprachförderung im Deutschunterricht – zwei Beispiele

Der Begriff Sprachförderung spielt vornehmlich im Zusammenhang mit zweit-sprachdidaktischen Fragestellungen eine Rolle und wird im deutschdidaktischen Diskurs in erster Linie in pragmatischen, außerästhetischen Kontexten gebraucht.

Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Sprache unter funktionalen Aspekten be-trachtet wird. Ästhetische Spracherfahrungen und die poetische Funktion von Sprache (vgl. Jakobson 1972: 103ff.) bleiben dabei häufig zweitrangig.3 Ich möchte in Rekurs auf Barthesʼ Lust am Text (1974) von der Lust an der Sprache sprechen und dafür plädieren, einen erweiterten Begriff von Sprachförderung zu etablieren, der mimetisch-ästhetisches Lernen in Bezug auf Prozesse des Sprechen-, Zuhören-, Lesen- und Schreibenlernens einschließt und die Förderung sprachlicher Fähigkei-ten an ästhetisches Handeln knüpft, womit gleichrangig neben produktivem rezep-tives Handeln gemeint ist. Im Folgenden wird anhand zweier Ansätze – zum Spre-chen und zum Lesen –, die Formen mimetisch-ästhetisSpre-chen Lernens konzeptionell verankert haben, verdeutlicht, wie eine solche Sprachförderung im weiten Sinne aussehen kann. Im Rahmen der ersten Darstellung zum literarischen Gespräch soll an einem Transkriptauszug veranschaulicht werden, wie eine Ästhetisierung von Lernsituationen sich positiv auf das sprachliche Lernen von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache auswirkt und Sprachförderung auch dort vollzogen werden kann, wo sie nicht explizit im Vordergrund steht. Die zweite Darstellung soll aufzeigen, wie mimetisch-ästhetische Prozesse auch beim Lesen-lernen wirksam werden können.

2 Vgl. ebenfalls Kniffka; Siebert-Ott 2009: 9.

3 Vgl. aber Belkes z.B. 2012 vorrangig auf Zweitsprachlernende ausgerichtete Konzeption eines inte-grativen Sprachunterrichts, der starke mimetisch-ästhetische Elemente enthält.

3.1 Mimetisch-ästhetisches Lernen, Sprachförderung und Literatur: Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs

Im Zusammenhang mit literarischem Lernen kommt den Begriffen Mimesis und Ästhetik innerhalb der Deutschdidaktik immer wieder eine basale Rolle zu (z.B.

Abraham 1996: 173ff., Ortner 1996: 89). Die jüngste umfassende Einbettung mi-metisch-ästhetischen Lernens in konzeptionelle Überlegungen zum literarischen Lernen wird im Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs (vgl.

Härle; Steinbrenner 2010; Steinbrenner 2010a und 2010b, Steinbrenner; Mayer;

Rank 2011) geleistet. Mit dem Heidelberger Modell liegt ein literaturdidaktischer Ansatz vor, der auf der Grundlage verschiedener Bezugstheorien, u.a. der Herme-neutik, der Dekonstruktion, der Bruner’schen Spracherwerbstheorie und der The-menzentrierten Interaktion, eine Gesprächsform/-auffassung über Literatur4 ver-tritt, die u.a. (vgl. im Folgenden Steinbrenner; Wiprächtiger-Geppert 2010: 4ff.)

- eine Alternative zum traditionellen, stark gelenkten, fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch darstellt,

- die Verständigung über unterschiedliche Lesarten eines Textes fördert, - Verstehen als gesprächsförmigen Prozess, als „inneres Selbstgespräch, als

Gespräch mit einem Text und als Gespräch mit einem realen Gegenüber“

(ebd.: 2) begreift,

- Irritation und Nichtverstehen als literaturdidaktische Zielsetzungen etab-liert,

- Verstehens- bzw. Nichtverstehensprozesse als unabschließbar charakteri-siert (Kein endgültiges Wort5)

- den literarischen Text und seine Sprache mimetisch nachvollziehen lässt.

Im letzten Punkt werden mimetisch-ästhetische Angleichungsprozesse in Form des mimetischen Sprechens (vgl. ausführlich Steinbrenner 2009, 2011) betont. Mimeti-sches Sprechen wird unter anderem als expressiv, affektiv und sinnlich, also als aisthetisch, charakterisiert. Im mimetischen Sprechen werden also ästhetische Er-fahrungen zugleich kommuniziert und erzeugt. Steinbrenner betont, dass es dabei nicht um einen pragmatisch-instrumentellen Sprachgebrauch gehe (vgl. Steinbren-ner 2009: 657). Dieser Aspekt ist gerade für Lernende mit Deutsch als Zweitspra-che entsZweitspra-cheidend. MimetisZweitspra-ches SpreZweitspra-chen gibt die Möglichkeit, sich „suZweitspra-chend, fra-gend, tentativ“ (ebd.: 656) – das heißt auch, ohne Druck, ohne normative

4 Literarische Gespräche beschränken sich nicht auf die Auseinandersetzung mit gedruckten Texten.

Auch im Zusammenhang mit theatralen Texten spielt mimetisches Sprechen eine Rolle – vor allem im Rahmen von anschlusskommunikativen Prozessen (vgl. dazu Olsen 2010, 2011). Das scaffolding-Prinzip ist auch hier zentrales scaffolding-Prinzip, um Sprachförderprozesse zu initiieren und zu begleiten. Ein didaktisches Stufenmodell in Bezug auf rezeptive ästhetische Erfahrungen im Theater liegt mit Olsen;

Blöchle 2010 vor.

5 Kein endgültiges Wort (Härle; Steinbrenner 2010) ist der Titel des ersten Sammelbands, mit dem das Heidelberger Modell begründet wurde.

vorgaben – zu äußern und zugleich eine sprachliche Orientierung, ein Gerüst6 zu finden im Text und in den Äußerungen der anderen Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Beim mimetischen Sprechen fließen Elemente des literarischen Textes, über den gesprochen wird, in das eigene Sprechen einer Gesprächsteil-nehmerin/eines Gesprächsteilnehmers ein (vgl. Steinbrenner 2009: 656).

Dass das mimetische Sprechen eine Brücke für Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache darstellen kann, wird im folgenden Auszug7 einer Unter-richtsstunde gezeigt. Eine vierte Klasse bespricht mit einer studentischen Prakti-kantin das Gedicht Der Panther von Rainer Maria Rilke. Die Studentin bezieht sich in ihrer schriftlichen Unterrichtsplanung zwar auf das Heidelberger Modell, räumt dem Gespräch in der Stundenverlaufsskizze aus Unsicherheitsgründen in Bezug auf das Gelingen eines solchen Gesprächs aber nur zehn Minuten ein (die tatsäch-liche Zeit betrug dann 13,51 Minuten).8

L mich hat des gewundert als da das wort kraft stand . ging es euch auch so? maya S1 ja aber ein PANther .. der is . hat ja kraft der is ja . ähm ein STARkes tier [L: ja]

und ähm die kraft geht ja net weg

S2 nee aber sie meint weil der EINgesperrt is da im ZOO S1 ((genervt)) ich WEISS mann

L ((beruhigend)) tabea ..

S3 ((laut zu S4)) (ey) voll so gegen die STÄbe boxen . ich will RAUS!

S4 ((lacht)) (muskeln)

S5 ((zieht das [ae] theatralisch lang und verstellt seine Stimme)) STÄbe Gäbe .. ((sehr viel leiser)) stäbe gäbe . reim

L ok tahir

S5 für dem is langweilig da in sein käfig der will lieber rennen in die welt .. der is im herzen müd . traurig

L ja .. GUT .. maya

S1 der panther ist halt . also so MÜD geworden dass er nichts/ dass er die kraft nicht

6 Auch beim mimetischen Schreiben in Form von Nacherzählungen wirkt sich die Orientierung an einem Gerüst positiv auf die Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitspra-che aus. Dass dies nicht nur für den lexikalisZweitspra-chen, sondern u.a. auch für den flexionsmorphologi-schen und syntaktiflexionsmorphologi-schen Bereich gilt, wird in Hochstadt 2014 dargelegt.

7 Hinweise zur Transkription:

. - kurze Pause .. - längere Pause (5sec) - Pause von 5 Sekunden

fin/ - Wort- oder Konstruktionsabbruch STÄbe - betonte Silbe

(ey) - vermuteter Wortlaut (…) - unverständliche Äußerung ((…)) - Zusatzinformationen

[…] - Unterbrechung durch andere/n Gesprächsteilnehmer/in

8 Steinbrenner; Wiprächtiger 2010: 7 empfehlen in ihren Vorschlägen zum Gesprächsrahmen für ein literarisches Gespräch etwa 30 Minuten.

mehr halten kann und sein wille is wie betäubt und des is auch mit der kraft so S6 haja der will raus und der hat ge/ der denkt ich will RAUS und ich darf nich und es

gibt keine welt mehr hinter den stäben und . ähm . er hat nur so stille .. und stäbe vor sein gesicht er fin/ fühlt .. wie betäubt

L ja ihr habt tolle sachen gesagt . aber adnan du hast grad gesagt dass/ was denkst du was betäubt bedeuten könnte?

S6 halt betäubt halt .. keine AHnung . kein kraft tausend stäbe keine welt mehr .. so wie er wär tot

Mit ihrer Äußerung stellt die Lehrerin ein Element aus dem Text, das Wort Kraft, in den Mittelpunkt. Gleichzeitig verbalisiert sie ihre Irritation und fordert die Schü-lerinnen und Schüler indirekt auf, zu diesem expressivem Sprechakt Stellung zu nehmen. Sie provoziert damit eine Auseinandersetzung mit dem Text, deren mi-metischer Charakter zunehmend deutlich wird. Exemplarisch möchte ich das an den Äußerungen der Schüler 5 und 6 verdeutlichen:

Schüler 5, Tahir, der bis dahin keinen Gesprächsbeitrag geäußert hat, reagiert auf den Nebendialog zwischen den Schülern 3 und 4. Er spricht das Reimpaar Stäbe und gäbe spontan und scheint Gefallen daran zu haben. Nach einer kurzen Pause wiederholt er die Textelemente leise für sich. Offensichtlich tritt zur intuiti-ven Auseinandersetzung nun ein reflexives Moment: Der Schüler klassifiziert die Wörter, deren Klang für ihn offenbar eine ästhetische Erfahrung ist, für sich als Reimpaar. Die Studentin geht auf diese Äußerung nicht explizit ein, wird aber auf den Schüler aufmerksam und fordert ihn indirekt auf, weiterzusprechen. Zunächst antwortet der Schüler, was sich wie eine indirekte Begründung für die Äußerung von S3 liest. Dann formuliert er einen Gedanken, in dem er die Sprache des Textes zu seiner eigenen, einer neuen macht. Es gelingt ihm dadurch nicht nur, eine Äu-ßerung zu formulieren, in der er den Kasus flexionsmorphologisch richtig kenn-zeichnet (Herzen), sondern er bringt durch die Zusammenführung zweier Textaus-schnitte (Herzen, müd) und seiner Erweiterung durch das Attribut traurig eine neue Bedeutungsdimension ins Gespräch ein. Die Studentin verpasst es an dieser Stelle, das mimetische Sprechen des Schülers aufzunehmen, daran anzuknüpfen und Ta-hir darin weiter zu fördern. Sie hätte ihn auf mehreren Wegen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Text und seinem eigenen Gesprächsbeitrag motivie-ren können: zum Beispiel durch Nachfragen (Wie meinst du das? Was macht deiner Meinung nach sein Herz müde und traurig?), durch eigene Gesprächsbeiträge oder durch den Bezug auf Beiträge anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Hat das für dich etwas damit zu tun, was S1 vorhin gesagt hat – dass die Kraft nicht weggeht?). Darüber hin-aus hätte sie unterschiedliche Lesarten thematisieren können (Gibt es Textstellen, die deiner Auffassung widersprechen?).

Schüler 6, Adnan, ein Lerner mit Deutsch als Zweitsprache, übernimmt zu-nächst den Perspektivenwechsel, den Schüler 3 vollzogen hat (ich will raus), und wiederholt dessen Worte. Aus diesem Wechsel heraus baut er die Expressionen und Gedanken des Raubtieres in eigenen Worten aus und versucht, sie zu

verbali-sieren. Im zweiten Teil seiner Äußerung bezieht er sich stärker auf den Text, was sich vorrangig lexikalisch zeigt (Stille, Stäbe, betäubt). Als die Lehrerin ihn schließlich bittet, zu erklären, wie betäubt zu verstehen sei, greift der Schüler auch hier wieder auf den Text zurück, sozusagen als Brücke, bevor er eine eigene Paraphrase, näm-lich wie tot, hinzufügt. In seiner Äußerung zeigt sich aber noch etwas, was bereits in Tahirs Gesprächsbeiträgen deutlich wurde: Adnan bleibt dem Text nicht äußerlich, er verleibt ihn sich ein, geht mimetische Beziehungen zu ihm und darüber hinaus zu einem anderen Gesprächsteilnehmer (S3) ein. Die ästhetische Sprache des Tex-tes hat eine große Anziehungskraft, sodass sie gleichsam immer wieder hineinfließt in das Sprechen der Lernenden. Sie dient als Gerüst und zugleich als Möglichkeit, sich von ihr abzusetzen.

Steinbrenner; Wiprächtiger-Geppert (2010: 1) betonen, dass das Heidelberger Modell „für eine bestimmte Haltung gegenüber den Schülern, dem Text und dem Gespräch steht“. Von dieser Haltung können Lernende mit Deutsch als Zweit-sprache profitieren, ohne dass ein literarisches Gespräch auf eine Sprachförderme-thode beschränkt und ihm sein ästhetischer Charakter genommen wird.

3.2 Mimetisch-ästhetisches Lernen, Sprachförderung und Lesen:

Lautleseverfahren

Ein anderer Weg mimetisch-ästhetischen Lernens wird innerhalb der Lesedidaktik als Teil sogenannter Lautleseverfahren beschritten. Mit diesem Terminus werden Maßnahmen bezeichnet, die die Förderung der Leseflüssigkeit, der reading fluency, zum Ziel haben. Sogenannte hierarchieniedrige Leseprozesse, die die

Lesefähigkeit bei der Worterkennung, der Verbindung von Wortfolgen im Satzzusammenhang und bei der Herstellung von Relationen zwischen den einzelnen Sätzen (Rosebrock; Nix 2012: 27)

betreffen, stellen u.a. besonders für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache, die über einen vergleichsweise geringen aktiven und passiven Wortschatz verfügen, eine Schwierigkeit dar. Durch die Förderung der Leseflüssigkeit wird der Grund-stein für hierarchiehöhere Verstehensleistungen gelegt (z.B. Herstellung globaler Kohärenz, inhaltliche Gesamtvorstellung, Entschlüsselung rhetorischer, stilisti-scher und argumentativer Strategien, vgl. ebd.: 12ff.), die wiederum Voraussetzung sind für erfolgreiches Handeln in allen Schulfächern. Die Forschung hat zudem gezeigt, dass sich Vorlesen und damit auch die Lautleseverfahren positiv auf den Wortschatzerwerb9 auswirken (vgl. z.B. Elley 1989, Nix 2007, Nix 2011: 109, Birk-le 2012: 56ff.).

9 Ein spezifisch für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache konzipierter Ansatz zur Wortschatzför-derung ist das so genannte Robuste Wortschatztraining (vgl. Kurtz 2012), bei dem ebenfalls ästheti-sches Handeln (z.B. das laute Rufen zu lernender Wörter) ein Teil des Konzepts ist.

Inzwischen liegt eine große Anzahl an unterschiedlichen Lautleseverfahren vor, die sich jedoch zwei Grundformen zuordnen lassen: dem wiederholten Lautlesen und dem begleitenden Lautlesen.

Die Grundidee des wiederholten Lautlesens ist, dass

Schüler(innen), die nicht flüssig lesen können, […] einem Tutor einen kur-zen, für sie mittelschweren Text so lange immer wieder laut vor[lesen], bis sie einen zuvor festgelegten Standardwert an gelesenen Wörtern pro Minute erreicht haben (Rosenbrock; Nix 2012: 37).

Zahlreiche methodische Verfahren werden im Rahmen des wiederholten Lautle-sens vorgeschlagen, die möglicherweise ästhetische Erfahrungen begünstigen kön-nen. Hier sei neben Vorlesearrangements für jüngere Schülerinnen und Schüler oder der Erstellung eines Hörbuchs vor allem das Verfahren des Lesetheaters ge-nannt, wobei besonders auf die phonetische und expressive Seite des Vorlesens fokussiert wird. Beim Lesetheater werden aus epischen Vorlagen dramatische Lese-Scripts erstellt, die von den Lesenden wiederholt in der Gruppe geübt und klang-lich inszeniert werden – immer mit der Zielsetzung, den Text für die Zuhörenden

„möglichst bildhaft und einprägsam, eben ‚lebendig‘“ (ebd.: 38) vorzutragen. Die Schülerinnen und Schüler erfahren den Text also wiederholt sinnlich-sprecherisch und machen ihn in interpersonellen Prozessen zu einer Erfahrung für Zuhörende, wobei eine aufmerksame Haltung von Sprechenden und Zuhörenden dem Vorle-seprozess gegenüber durch den theatralen Rahmen unterstützt werden kann.

Der interpersonelle Aspekt spielt auch und besonders beim begleitenden Laut-lesen die zentrale Rolle. Ein/e Schüler/in, der/die weniger gut liest (der/die Tutand/in), bildet mit einem/er stärkeren Leser/in (einem/er Tutor/in) ein Lese-Paar, auch Lese-Tandem genannt. Beide lesen – dicht beieinander sitzend – syn-chron, wobei der/die Tutor/in als Lesemodell fungiert, das „den Lesefluss des Schwächeren unterstützend begleitet“ (ebd.: 39). Der/Die Tutor/in kann, dem scaffolding-Prinzip gemäß, im Leseprozess mehr oder weniger stark die Führung übernehmen. Wenn er/sie merkt, dass sein/ihr Partner/in sicherer wird, kann er/sie sich beispielsweise durch leiseres Lesen oder durch Aussetzen zurückhalten und bei Bedarf unterstützend eingreifen.10

10 Beim begleitenden Lautlesen (vgl. im Folgenden Rosebrock; Nix 2012: 39ff.) werden die Lese-Tandems auf der Grundlage der Ergebnisse eines Lesegeschwindigkeitstests von der Lehrkraft einge-teilt und die Rollen des Tutors/der Tutorin und des Tutanden/der Tutandin fest bestimmt. Für eine Einheit des begleitenden Lautlesens sind etwa 20 Minuten vorgesehen – das Training erfordert hohe Konzentrationsleistungen. Motivationale und soziale Schwierigkeiten können durch methodische Variationen abgefangen werden. Beispielsweise kann dem Lese-Training ein sportlicher Charakter verliehen werden, indem der Tutand bzw. die Tutandin die Rolle des Sportlers/der Lese-Sportlerin und der Tutor/die Tutorin die des Lese-Trainers/der Lese-Trainerin einnimmt. Der dahin-terstehende und den Schülerinnen und Schülern zu vermittelnde Grundgedanke ist, dass Lese-Sportlerinnen und -Sportler ein kontinuierliches Training für die Leistungssteigerung brauchen.

Zahlreiche empirische Untersuchungen zum begleitenden Lautlesen zeigen positive Effekte sowohl in Bezug auf die Leseflüssigkeit als auch auf das Textverstehen der Schülerinnen und Schüler (vgl.

zusammenfassend ebd.: 42f.).

Beide Formen sollen im vorliegenden Beitrag als mimetisch-ästhetisches Lernen interpretiert werden. In Anlehnung an den Begriff des mimetischen Sprechens möchte ich dafür den Begriff des mimetischen Lesens verwenden. Besonders das begleitende Lautlesen ist durch die interpersonelle Nähe, durch das Aufeinander-bezogensein in synchronen Prozessen auf mimetische Angleichung angewiesen.

Die Lesenden können diese Angleichung als etwas Ästhetisches im Sinne eines Flow-Effekts erfahren, womit der Zustand bezeichnet wird,

in dem ein Mensch in seiner Tätigkeit aufgeht, in dem er so konzentriert ist, dass er sich selbst vergisst, mit der Umwelt verschmilzt und sich schließlich in neuer Form, selbsterweitert, sozusagen als Gelernt-Habender aus dem Geschehen herausgehoben, erfährt, was ein Gefühl des Glücks mit sich bringt (Göhlich; Zirfas 2007: 123).11

An einem weiteren Beispiel aus der Praxis, einem Transkriptauszug aus einem Interview mit dem Sechstklässler Fatih, soll verdeutlicht werden, wie der Schüler versucht, seine Erfahrungen mit dem Lesetandem zu verbalisieren. Er hatte zuvor neun Schultage lang einen Text in kurzen Lautlesetrainings mit seinem Tandem-partner geübt. Ziel war die Aufführung als Tandemlesung auf einer Klassenzim-merbühne mit zwei Stellwänden. Die Schülerinnen und Schüler stellten sich auf Stühle – einer hinter die linke und einer hinter die rechte Stellwand –, sodass man sie nur bis zur Brust sehen konnte. An jeder der Stellwand wurde ein Mikrofon angebracht. Zugeschaut haben sowohl die eigene als auch die Parallelklasse. Insge-samt lasen sechs Lesetandems an diesem Tag ihre geübten Texte vor.

L also du hast ja/ mir ja mal gesagt dass du nicht magst wenn andere ZUhören wenn du vorliest .. jetzt war das ja n bisschen anders mit dem theAter und so und dass ihr/ dass du so viel üben konntest . aber du hast ja jetzt trotzdem vor ANdern geLEsen und jetzt würd mich interessieren was fürn geFÜHL das war und welches/ was du dazu sagst zu dem ganzen . wie das für dich war

S haja des war schon voll krass mit zuschauer und so aber ich bin/ da war ja die WAND und die haben nur mein kopf gesehn

L aber gehört hat man dich ganz ((lacht)) und du hast SEHR GUT gelesen S ((klopft sich theatralisch auf die Schulter)) bin champion

L wie war das für dich dauernd mit dem artur zu lesen?

S gut . ja . gut

L hat das am ende BESser geklappt als am anfang?

S weiß net

L und in der aufführung?

S da war ich net allein des war irgendwie gut weil ich hab gedacht wenn ich fehler mach dann merkt des die leute net .. des wort . museumsaufsicht da hab ich immer FALSCH gelesen bei’n üben und da hab ich dann gelb gemacht auf den zettel und jetzt kann ich gut sagen des wort . auch gefühlsduselei

11 Vgl. dazu auch die Strukturmomente ästhetischer Erfahrungen nach Peez 2005: 14f.

L damit du dran denkst . hast du’s gelb gemacht mein ich .. [S: ja] hat dich das gar nicht gestört dass da noch ein zweiter gelesen hat? hat dich das nicht rausgebracht?

S ich weiß net des war auch weil der raum mit mikroFON und so des war voll geil .. des war dann so wie arturs stimme meine is .. oder beide sind eine stimme

L hast du deine stimme noch gut gehört?

S manchmal . wenn artur ein wort früher gesagt hat dann mehr aber irgendwann hab ich des nimmer gemerkt

Interessant für den vorliegenden Beitrag sind insbesondere die letzten drei Äuße-rungen des Schülers. Zunächst betont Fatih den unterstützenden und damit psy-chisch entlastenden Wert des gemeinsamen Lesens. Er drückt darüber hinaus aber auch seinen Lernfortschritt, sein Können ganz konkret am Beispiel zweier Textelemente aus, die er bei der Aufführung (und auch im Interview) fehlerlos ausgesprochen hat. Anschließend bewertet Fatih das mikrofongestützte Sprechen positiv, das für ihn, wie später im Interview deutlich wurde, die erste Erfahrung mit einem Mikrofon war. Offenbar beschäftigten ihn die phonetischen und pro-xemischen Eindrücke – sie waren für ihn im Rahmen des Vorleseprozesses eine ästhetische Erfahrung. Was Fatih dann versucht auszudrücken, deute ich als die oben mehrfach erwähnte Verschmelzung im mimetischen Prozess – des war dann so wie arturs stimme meine is .. oder beide sind eine stimme. Er hört seine Stimme verbunden mit der seines Lesepartners. Am Ende fügt er hinzu, dass ihm das punktuell mögli-che Aufmerksamwerden auf seine eigene Stimme im Laufe des Leseprozesses nicht mehr bewusst gewesen sei. Im Tandemlesen hat Fatih einen mimetischen Anglei-chungsprozess vollzogen, der ihn nicht nur psychisch unterstützt, sondern ihm deutlich gesteigerte Vorleseleistungen ermöglicht hat.