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Zum Begriff der Applikation literarischer Texte

2 Systematische Überlegungen zur Applikation literarischer Texte

2.1 Zum Begriff der Applikation literarischer Texte

Das Wort ‚Applikation‘ hat gegenwärtig, wie ein Blick in Wörterbücher zeigt, bildungssprachlich die Bedeutung von „Anwendung, Verwendung, Gebrauch“.2 Benutzt man es zusammen mit Literatur, geht es also darum, literarische Texte anzuwenden, wie im vorangehenden Kapitel bereits eingeführt. Der wissen-schaftliche Begriff ‚Applikation‘ entstammt der allgemeinen und der bereichs-spezifischen Hermeneutik. Im hier gemeinten Sinne kam ‚applicatio‘ in der pietistischen Auslegungslehre auf, genauer bei Johann Jacob Rambach in den 1730er Jahren; der Sache nach finden sich Applikationen aber bereits in der mittelalterlichen und reformatorischen Hermeneutik.3 In der für die Geschichte der Hermeneutik wichtigen logischen Hermeneutik der Frühen Neuzeit, etwa

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1 In die Ausführungen in diesem Kapitel gehen in Teilen und in überarbeiteter Form Überle-gungen ein, die an anderer Stelle zuerst formuliert wurden, vgl. Jan Borkowski: Applikation:

Eine nützliche Kategorie für die empirische Erforschung der Rezeption literarischer Texte. Am Beispiel der Erstrezeption von Goethes Stella. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 136 (2017), S. 205–231.

2 Vgl. zur Wortgeschichte Heinrich Anz: Applikation. In: Klaus Weimar u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 113–115, hier S. 113 f. (mit weiteren Hinweisen).

3 Vgl. Anz: Applikation, S. 114; zu Rambach Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode.

Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990, S. 312. Für einen Nachweis, dass es Applikation nicht erst seit dem Pietismus gibt, vgl. Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006, S. 12–16.

Open Access. © 2021 Jan Borkowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 International Lizenz.

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bei Johann Conrad Dannhauer (Idea Boni Interpretis […], 1630) oder Johann Clauberg (Logica Vetus et Nova […], 1654), spielte Applikation, verstanden als

„Nutzanwendung“ oder „subtilitas applicandi“, die über das Verstehen hin-ausweist, keine Rolle.4 Um 1700 gab es zum Beispiel bei Christian Weise und Johann Heinrich Ernesti Überlegungen dazu, welchen Nutzen Interpreten aus den Einsichten ziehen können, zu denen sie bei der Interpretation gelangt sind.5 Der Begriff war in der Geschichte der Hermeneutik insgesamt nur von nachge-ordneter Bedeutung.6

Für die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Wahrnehmung dürfte vor allem Hans-Georg Gadamers Konzeption der Applikation bestimmend sein, wie er sie im Rahmen seiner philosophischen Hermeneutik dargelegt hat. Das wird nicht zuletzt an der Erläuterung deutlich, die sich in der Kopfzeile des Artikels im Reallexikon findet. Dort heißt es über Applikation: „Grundbegriff der

allge-||

4 Werner Alexander: Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemei-nen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993, S. 77; vgl. dazu S. 46–122.

Verstehen wird bei Dannhauer und Clauberg als Ermittlung der Intention des Autors aufge-fasst. Aus dieser Sicht kann Applikation (und Allegorese) unter Umständen unzulässig sein, nämlich da, wo sie nicht mit der Intention des Autors in Einklang steht. Applikation wird in den Bereich der Theologie und der Rhetorik verwiesen (vgl. S. 77).

5 Vgl. Alexander: Hermeneutica Generalis, S. 153–165. Dieser Nutzen kann darin bestehen (vgl. S. 153 f.): (1) die sprachliche Kompetenz des Interpreten zu verbessern („sprachliche Nutz-anwendung“), (2) seine Kenntnisse in Logik und Argumentation anhand konkreter Beispiele zu schulen („logische Nutzanwendung“), (3) Einsichten in aktuell diskutierte wissenschaftliche Probleme zu erhalten und bestehende Theorien zu überprüfen („dogmatische Nutzanwen-dung“).

6 Einschlägige Publikationen jüngeren Datums widmen der Applikation keine größere Auf-merksamkeit, vgl. Wolfgang Detel: Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer moder-nen Hermeneutik. Frankfurt a. M. 2011; Meinrad Böhl/Wolfgang Reinhard/Peter Walter (Hg.):

Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Ge-genwart. Wien/Köln/Weimar 2013; Jeff Malpas/Hans-Helmuth Gander (Hg.): The Routledge Companion to Hermeneutics. London/New York 2015. Nur sehr am Rande kommt die Applika-tion vor in Gerhard Kurz: Hermeneutische Künste. Die Praxis der InterpretaApplika-tion. Stuttgart 2018, S. 8, 10, 253 und 266. Aus der älteren Forschung zu nennen wären Emilio Betti: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften. Tübingen 1967; Peter Szondi, Studi-enausgabe der Vorlesungen. Bd. 5: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. von Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt a. M. 1975; Klaus Weimar: Historische Einleitung zur litera-turwissenschaftlichen Hermeneutik. Tübingen 1975. Vgl. für die Literaturwissenschaft die Einschätzung, dass die bisherige literarische Hermeneutik „Applikation […] völlig vernachläs-sigt“ habe, Hans Robert Jauß: Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneu-tik. In: Manfred Fuhrmann/H. R. J./Wolfhart Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Theolo-gie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. München 1981, S. 459–481, hier S. 462.

meinen Hermeneutik zur Kennzeichnung der in jedem Verstehen enthaltenen Vermittlungsleistung, in der ein Textsinn auf eine aktuelle Situation bezo-gen/angewendet wird.“7 Der Verfasser scheint sich auf Gadamer zu berufen, der in Wahrheit und Methode zu zeigen versucht hatte, „daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet“.8 Die in der Wahrnehmung, nicht in der Sache begründete enge Verknüpfung der Applikation mit der traditionellen Hermeneutik und insbesondere der philosophischen Hermeneutik Gadamers erklärt möglicherweise, warum man das mit dem Begriff Bezeichnete in der Literaturwissenschaft nicht oder nur am Rande behandelt hat. Es mag der fal-sche Eindruck entstanden sein, wonach die Applikation eng mit einem be-stimmten (literatur-)theoretischen Ansatz oder einer philosophischen Position verbunden ist. Ein anderer Grund könnte darin bestehen, dass man meint, Ap-plikation habe zwar in anderen Disziplinen einen Platz, nicht jedoch in der Literaturwissenschaft. Sie sei für religiöse und juristische Texte wichtig, nicht jedoch für literarische.9 Die Applikation wurde jedenfalls in der Literaturwis-senschaft selten beachtet. Das zeigt nicht zuletzt ein Blick in einschlägige peri-odische Bibliographien, die den Begriff zum Teil noch nicht einmal als Schlag-wort führen, und in die überwiegende Zahl der fachlichen Nachschlagewerke, die ihm keinen Eintrag widmen. Wenn es in der Geschichte der Hermeneutik und der mit Texten befassten Disziplinen dem Begriff oder der Sache nach um

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7 Anz: Applikation, S. 113. Von dieser „Integration eines Textsinnes in die individuelle Lebens-praxis“ ist eine zweite Bedeutung von ‚Applikation‘ zu unterscheiden, die etwas völlig Anderes bezeichnet, nämlich „die Anwendung einer wissenschaftlichen Methode und ihrer Terminolo-gie auf einen gegebenen Untersuchungsgegenstand (Text)“ (S. 113). In dieser Bedeutung wird

‚Applikation‘ etwa verwendet in Walter Baumgartner (Hg.): Applikationen. Analysen skandi-navischer Erzähltexte. Frankfurt a. M./Bern/New York 1987; Marcus Willand: Hermeneutische Nähe und der Interpretationsgrundsatz des sensus auctoris et primorum lectorum. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 134 (2015), S. 161–190, hier S. 190.

8 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 313. Vgl. dazu S. 312–346. Gadamer geht es hier darum,

„die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen und theologischen her neu zu bestimmen“ (S. 116, im Original kursiv). Zur Auseinandersetzung mit Gadamer vgl. Heinrich Anz: Die Bedeutung poetischer Rede. Studien zur hermeneutischen Begründung und Kritik von Poetologie. München 1979, S. 51–59, und Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 17–22.

9 „So einleuchtend die Applikationsleistung in der theologischen […] und juristischen Herme-neutik […] ist, so problematisch erscheint ihre Entfaltung in der historischen und literaturwis-senschaftlichen Hermeneutik.“ (Anz: Applikation, S. 114) Vgl. zur Applikation in Theologie und Rechtswissenschaft Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. München 1981.

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Applikation ging, dann in aller Regel darum, wie ein professioneller Exeget einen alten, zum Beispiel religiösen Text auf aktuelle Probleme anwendet.

Das Phänomen der Applikation ist aber vielgestaltiger und komplexer, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Eine einfache Typologie kann wesentliche Unterschiede hervorheben, die dazu dienen, sachangemessen zu konturieren, welche allgemeinen Typen von Applikation es geben kann. Die Typologie erfüllt eine Orientierungsfunktion. Sie dient dazu, mithilfe von für den Umgang mit Literatur einschlägigen Parametern verständlich zu machen, was genau im Rahmen dieser Arbeit untersucht wird, wenn von ‚Applikation‘

die Rede ist.

Eine erste Differenzierung ergibt sich hinsichtlich des zeitlichen Abstandes zwischen Autor und Leser. Hier kann es den zeitgenössischen (bzw. zeitge-schichtlichen) und den rezeptionsgeschichtlichen Fall geben. Im ersten Fall sind Autor und Leser Zeitgenossen, im zweiten Fall liegt ein mehr oder weniger großer historischer Abstand zwischen Produktion und Rezeption des Textes. Ein Sonderfall der rezeptionsgeschichtlichen Applikation ist die Applikation vom heutigen Standpunkt aus. Eine zweite, sich zum Teil mit der ersten überschnei-dende Differenzierung bezieht sich auf Vertrautheit oder Fremdheit des Textes.

Der Text, den ein Leser appliziert, kann historisch, kulturell oder sozial mehr oder weniger vertraut sein oder mehr oder weniger fremd. Im zweiten Fall kann die Applikation die Form einer Akkomodierung annehmen. Der historischen Fremdheit des Textes wird dadurch begegnet, dass man ihn aktualisierend liest und unter Absehung von seiner historischen Fremdheit von einem gegenwärti-gen Standpunkt aus betrachtet. Analoges gilt für die soziale und kulturelle Al-terität.

Eine dritte Differenzierung beschreibt den Grad der Allgemeinheit der Ap-plikation. Die Applikation, die ein Leser vornimmt, kann allgemein(er) und überindividuell(er) sein oder individuell(er) und subjektiv(er). Applikationen, die allgemein sind, können von vielen, vielleicht sogar allen Lesern vorgenom-men werden; Applikationen, die individuell sind, werden wohl nur von weni-gen Lesern vorweni-genommen. Im Extremfall können sie rein subjektiv sein. Bei individuellen und rein subjektiven Applikationen lässt sich von einer Aneig-nung sprechen.10 Eine vierte Differenzierung betrifft den Handlungsbereich der

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10 Diese Begriffsverwendung unterscheidet sich von Erläuterungen, wie sie sich bisweilen in Lexika finden, vgl. Heinrich Anz: Aneignung. In: Klaus Weimar u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 86 f.; Michael Franz/Eckhard Tramsen: Aneignung. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2000, S. 153–193.

Applikation. Zu unterscheiden ist zwischen wissenschaftlicher und außerwis-senschaftlicher Applikation und, damit verbunden, zwischen professioneller und nicht-professioneller Applikation. Die beiden Paare sind nicht deckungs-gleich. Während wissenschaftliche Applikationen aufgrund des institutionellen Zusammenhanges stets professionell sind, können außerwissenschaftliche professionell sein oder nicht-professionell. Schließlich ist, fünftens, die Regu-liertheit zu berücksichtigen. Die Applikation von Texten kann Teil einer norma-tiv (stark) regulierten Praxis sein oder Teil einer weniger stark oder gar nicht normativ regulierten Praxis. Während die Applikation religiöser Schriften und Gesetzestexte relativ stark reguliert ist, hat man es bei der außerwissenschaftli-chen Applikation literarischer Texte mit einer relativ schwach normativ regu-lierten Praxis zu tun – was allerdings nicht ausschließt, dass es in diesem Be-reich Normen geben kann.

In der vorliegenden Arbeit geht es, wie in Kapitel 1 erwähnt, um einen der möglichen Typen von Applikation: Autor/-innen und Rezipient/-innen sind Zeitgenossen, die Rezipient/-innen sind professionelle oder nicht-professionelle Akteure, Applikationen werden beim außerwissenschaftlichen Umgang mit Literatur vorgenommen. Es wird also der zeitgenössische (und zeitgeschichtli-che) Fall untersucht. Die historische Vertrautheit dürfte in der Regel sehr hoch sein. Aufgrund des außerwissenschaftlichen Handlungsbereichs mit seiner zumindest in Teilen schwächer ausgeprägten Reguliertheit ist zu erwarten, dass das Spektrum der Applikationen von allgemein und überindividuell bis hin zu individuell und subjektiv reichen kann.

Um den gemeinten Typus der Applikation literarischer Texte eingehender zu erläutern, kann zurückgegriffen werden auf die Definition von Anders Pet-tersson. Da er als einer der wenigen eine Definition anbietet, geschieht die Er-läuterung überwiegend in Auseinandersetzung mit seiner Auffassung von Ap-plikation. So verdienstvoll sie in Teilen auch ist, erweist sie sich in anderen doch als unzureichend. Es sollen daher korrigierende, ergänzende und präzi-sierende Vorschläge zur Bestimmung des Begriffs gemacht werden. Petterssons Erläuterung macht sofort deutlich, dass er den Begriff nicht im Sinne der allge-meinen oder einer bereichsspezifischen Hermeneutik verwendet, sondern viel-mehr zur Bezeichnung einer leserseitigen Praktik im Rezeptionsprozess:

[A] reader who performs an application focuses on an element (x) in the text and relates it to an element or possible element (y) in the real world. Comparing x and y, the reader finds them compatible or incompatible. The comparison places something, y, in the real

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word in a new light, or perhaps it revives a perspective on y with which the reader was al-ready familiar.11

Hier ist eine Unterscheidung explizit zu machen, die im vorangehenden Kapitel der Sache nach bereits verwendet wurde und in dieser Bestimmung zum Aus-druck kommt, wenn auch nicht mit hinreichender Deutlichkeit. ‚Applikation‘

kann, ähnlich wie der Begriff der Interpretation oder des Verstehens, zum einen einen Akt oder eine Tätigkeit bei der Rezeption meinen, zum anderen deren Ergebnis oder Resultat. In beiden Fällen kann die Applikation nicht-bewusst erfolgen oder bewusst vorgenommen werden. Den Rezipienten muss nicht not-wendigerweise bewusst sein, dass sie das Gelesene applizieren, und selbst wenn sie der Sache nach eine gewisse Vorstellung davon haben, dürften sie in aller Regel keine Vorstellung von dem Begriff haben, der, wie zu betonen ist, ein Begriff der wissenschaftlichen Beschreibungssprache ist und, von Ausnahmen abgesehen, keiner des Gegenstandsbereiches. Das hiermit umrissene Format von ‚Applikation‘ soll nun eingehender erläutert werden.

Als Erstes ist zu fragen: Worum handelt es sich bei dem „element (x) in the text“? Pettersson zieht „material states of affairs, mental states of characters and speakers, and attitudes expressed by the author“ in Betracht, also Sachver-halte in der Textwelt, psychische Dispositionen der Figuren und Einstellungen, deren Äußerung man dem Autor, dem Erzähler oder einer Figur zuschreiben kann.12 Er spricht von „application of facts“ oder „application of attitudes“.13 Das leuchtet sehr ein, beschreibt den Sachverhalt allerdings nicht hinreichend, weder in allgemeiner noch in spezieller Hinsicht. Daher ist eine weitergehende Erläuterung erforderlich. Gegenstand der Applikation können Gehalte des Tex-tes jeglicher Art sein, und zwar von einer einzelnen Äußerung eines Erzählers oder einer Figur bis hin zur Textbedeutung (Aussage, Botschaft). Dazwischen ergibt sich ein breites Spektrum, zu dem im Einzelnen gehören können: Motive und Themen; Figuren und ihre Dispositionen, Elemente der Handlung und des Schauplatzes; Konflikte, Probleme und Situationen, die sich aus der Figuren-konstellation und der Gesamthandlung ergeben; die Perspektive, welche auf das Dargestellte (Erzählte, Geschilderte) angeboten wird; Fragen, die der Text aufwirft, Antworten, die er auf diese Fragen gibt. Applikation kann auf den gesamten Text (das Textthema) bezogen sein, auf Teile des Textes unterschied-licher Art und unterschiedlichen Umfangs (Teilthemen) oder auf einzelne Sätze.

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11 Anders Pettersson: The Concept of Literary Application. Readers’ Analogies from Text to Life. Basingstoke 2012, S. 2.

12 Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 7.

13 Vgl. dazu Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 26–28.

Die Gehalte eines literarischen Textes werden in der Regel auf literaturtypi-sche Weise vermittelt. Bezüglich der Applikation ist dieser Umstand in einer rhetorischen und pragmatischen Hinsicht von Belang. Zu den formalen Eigen-schaften und stilistischen Qualitäten der Literatur äußert sich Pettersson nur am Rande. Hier soll angenommen werden, dass literarische Texte sich unab-hängig von Besonderheiten der einzelnen Gattungen typischerweise durch eine spezifische Darstellungsleistung auszeichnen, welche ihre Wirkungen und Funktionen begünstigt und die Eignung, Applikationen zu veranlassen. Einen deterministischen Zusammenhang gibt es allerdings nicht. Es ist nicht der Fall, dass zum Beispiel das Vorliegen einer an Figuren und Tropen reichen Versrede in einem Gedicht, einer internen Fokalisierung in einem Erzähltext oder einer gegebenen Figurenkonstellation im Drama notwendig mit der Möglichkeit einer Applikation verbunden ist. Aber das gilt bekanntlich für das Verhältnis von Form und Funktion oder Wirkung allgemein. Formale Aspekte können, so stellt auch Pettersson zutreffend fest, ein wichtiger unterstützender Faktor sein mit Blick darauf, ob und welche Applikationen ein literarischer Text ermöglicht.14 Die formale Beschaffenheit literarischer Texte kann Applikationen positiv be-einflussen und bisweilen überhaupt erst veranlassen, und dies genau in dem Sinne, in welchem sie andere Rezeptionsweisen nahelegt oder Wirkungen bei der Lektüre hervorbringt. Allgemein lässt sich annehmen, dass formale Aspekte eine wichtige Rolle spielen, sie können (in empirischer Verallgemeinerung) dazu beitragen, dass Applikation im gegebenen Fall (besonders gut) möglich ist. Da Applikation aber eine stark einzeltextbezogene Kategorie ist, bei der sich erst aus dem konkreten Zusammenhang formaler und inhaltlicher, generischer und pragmatischer, dispositioneller und situativer Aspekte ergibt, welche Ap-plikationen möglich sind, lassen sich keine pauschalen Aussagen machen. Im Prinzip können alle diejenigen Aspekte der formalen Beschaffenheit eines lite-rarischen Textes bedeutsam sein, die im Rahmen der literaturwissenschaftli-chen Beschreibung und Analyse ermittelt werden können.

Eine weitere Frage lautet: Was genau ist ein „element or possible element (y) in the real world“? Dazu macht Pettersson keine Angaben. Offensichtlich können hier unterschiedliche Sachverhalte gemeint sein. Entscheidend ist, dass sie in Relation stehen zu den Rezipienten. Es sind letztlich ihre Überzeugungen und Einstellungen, ihre persönlichen oder lebensweltlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Sachverhalte. Sie können sich, wie man allgemein sagen kann, auf die eigene Person beziehen, auf situative und lebensweltliche Gege-benheiten (Ereignisse, Verhältnisse, Prozesse und deren Erleben).

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14 Vgl. dazu Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 133–135.

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Der Akt der Applikation bestehe, so Pettersson, aus „the three operations of focusing, establishing a comparison, and evaluating that comparison“.15 Ein Element des Textes (ein bestimmter Gehalt) wird fokussiert, mit einem lebens-weltlichen Sachverhalt (genauer: dessen Wahrnehmung) verglichen, es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt. Diese für sich genommen eher abstrakte Beschreibung erweist sich im Prinzip als hinreichend, auch wenn sich der Vorgang sicherlich noch detaillierter darstellen ließe. Es bedarf an dieser Stelle einer begrifflichen Bestimmung, nicht einer ‚Phänomenologie‘ des Appli-kationsvorgangs, des Aufstellens kognitionswissenschaftlicher Hypothesen oder dergleichen. Grundsätzlich ist festzustellen, dass es um eine Relation des Gelesenen mit den Akteuren und den situativen Gegebenheiten geht. Gelesenes wird mit der Realität, wie sie sich den Akteuren darstellt, in Beziehung gesetzt und verglichen. Das Gelesene kann zum Beispiel als gleich oder unterschied-lich, ähnlich oder unähnunterschied-lich, analog oder homolog erscheinen. Dabei können neben dem Vergleich verschiedene kognitive Operationen vorkommen, etwa wenn die Rezipienten den speziellen Fall, der in einem literarischen Text ge-schildert wird, auf einen allgemeinen lebensweltlichen Sachverhalt übertragen, also eine Generalisierung vornehmen, wenn sie das Gelesene in einer bestimm-ten Hinsicht klassifizieren oder daraus weiterreichende Schlussfolgerungen ziehen.

Das Ergebnis der Tätigkeit klassifiziert Pettersson zunächst sehr allgemein.

Wird das Gelesene als lebensweltlich zutreffend und überzeugend angesehen und übernommen, spricht er von einer „positive application“, im umgekehrten Fall von einer „negative application“.16 Wenn Rezipienten Gelesenes als unzu-treffend ansehen und sich nicht zu eigen machen, ist das ebenfalls das Ergebnis einer Applikation, genauer: der Tätigkeit der Applikation. In der oben zitierten Bestimmung beschreibt Pettersson das Resultat der Applikation etwas konkre-ter, wenn er davon spricht, dass im Zuge der Applikation eine neue Sicht auf einen lebensweltlichen Sachverhalt vermittelt oder eine im Prinzip bereits vor-handene Sicht aufgefrischt werden kann. Er unterscheidet daher zwischen „re-velatory“ und „revivifying application“.17 Das leuchtet ein, in der Sache ist es aber wiederum unzureichend. Weitere Erläuterungen sind erforderlich.

Als sinnvoll erweist sich zum einen eine Differenzierung nach vier Unter-gruppen von Applikationen: Kognitive Applikationen sind auf das Wissen (oder schwächer: die Überzeugungen) der Rezipienten bezogen, ethische

Applikatio-||

15 Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 37, vgl. dazu S. 1.

16 Vgl. Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 26–30.

17 Vgl. Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 30 f.

nen stehen im Zusammenhang mit ethisch-moralischen Überzeugungen, emoti-onale Applikationen haben etwas mit gefühlsmäßigen Einstellungen zu tun.

Man kann zudem von einer ästhetischen Applikation sprechen, wenn der litera-rische Text auf einen Sachverhalt, etwa ein Naturphänomen, eine ästhetische Perspektive vermittelt und die Rezipienten sich diese lebensweltlich zu eigen machen. Zum anderen lässt sich das Resultat etwas eingehender beschreiben:

Es können neue Überzeugungen und Einstellungen gebildet oder bestehende verworfen werden. Einstellungen und Überzeugungen, welche die Rezipienten

Es können neue Überzeugungen und Einstellungen gebildet oder bestehende verworfen werden. Einstellungen und Überzeugungen, welche die Rezipienten