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Werthers Ansichten und Überzeugungen

3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.1 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

3.1.4 Werthers Ansichten und Überzeugungen

den Maße ‚freisetzt‘ und übertragbar macht, auch auf den Umgang mit Litera-tur. Allgemein ist für viele Formen der Lektüre im 18. Jahrhundert kennzeich-nend, dass sie Formen ‚exemplarischen Lesens‘ darstellen:

Merkmal der meisten Formen des Lesens bis ins 18. Jahrhundert ist es, exemplarisches Le-sen zu sein: Das LeLe-sen ist gesteuert von einem stofflichen Interesse, und die Handlung des Buches gilt als übertragbar, seine ‚Lehre‘ oder ‚Moral‘ als anwendbar in der Lebenspraxis des Lesers. Das gilt – in je spezifischer Anwendung – für religiöse Lektüre wie für Romane (und sei es in der Form, daß man die bei Hofe erforderten Umgangsformen daraus ent-nehmen wollte), für die Barockpoesie wie für die an der Vermittlung nützlicher Kenntnis-se und praktischer Lebensklugheit orientierte Literatur der Aufklärung. Exemplarisches Lesen wendet vor allem die Rezeptionsmuster der Erbauung und der Belehrung an; Er-gebnis ist in allen Fällen eine vom Text als ‚Lehre‘ unmittelbar angegebene oder doch grundsätzlich begrifflich aussprechbare handlungslenkende Nutzanwendung.97

Dass manche Leser/-innen tatsächlich oder vermeintlich dazu neigten, den Roman als Handlungsanweisung zu verstehen und zu applizieren, kann also damit erklärt werden, dass es ein für religiöse Texte und für verschiedene weite-re Textsorten geltendes Lektüweite-remuster gab, für das die Applikation konstitutiv war und das auf die Rezeption von Goethes Roman übertragen werden konnte.

In einem bereits zitierten Rezeptionsdokument wurde das so gesehen. Dort wurde eine vermeintliche Rezeptionshaltung kritisiert, bei welcher der Roman

„wie einen Catechismus“ gelesen und Werthers „Leiden und Tod wie eine Heili-genlegende behandel[t]“ wird.98

3.1.4 Werthers Ansichten und Überzeugungen

Für manche der in den vorangehenden beiden Unterkapiteln behandelten Ap-plikationen ist kennzeichnend, dass einzelne Aussagen aus der Figurenrede Werthers, in denen er Auskunft gibt über seine Ansichten und Überzeugungen, als zutreffend eingeschätzt und übernommen werden. Dafür gibt es in den Quel-len weitere Beispiele. Blankenburg erwähnte am Rande eine Form der Applika-tion, deren Gegenstand einzelne Aussagen Werthers sind: „Wir könnten noch viel von dem Nützlichen sagen, das dieses Buch enthält. An vielen Stellen ist so wahr, so richtig über den Menschen philosophirt […] daß wir uns mit Mühe

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97 Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitäts-wandel um 1800. Stuttgart 1993, S. 41.

98 [Göchhausen]: Das Wertherfieber, S. 102 f.

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enthalten, sie nicht abzuschreiben.“99 In seiner ganz überwiegend auf die emo-tionalen Wirkungen des Romans abhebenden Anzeige erklärte Schubart an einer Stelle: „Die eingestreuten Reflexionen, die so natürlich aus den Begeben-heiten flissen, sind voll Sinn, Weltkenntniß, Weisheit und Wahrheit.“100 In ähn-licher Weise lobte Wieland im Teutschen Merkur „die populäre Philosophie […], womit er sein ganzes Werk durchwürzt hat“.101 Dass derartige Aussagen Indizien für Applikationen sind, liegt vielleicht nicht auf der Hand. Man kann die Verfas-ser aber durchaus so verstehen: Was Werther über den Menschen und die Welt sagt, wird mit den eigenen Überzeugungen in Beziehung gesetzt und es wird angenommen, dass es sich tatsächlich so verhält. Die Lektüre kann so dazu führen, dass neue Überzeugungen gebildet oder bestehende verstärkt oder kor-rigiert werden.

Was Werther sagt und denkt, war des Weiteren Gegenstand von Negativ-Applikationen. Ein gutes Beispiel sind Johann August Schlettweins Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, die 1775 anonym erschie-nen. Der Verfasser setzte es sich zum Ziel, „einige Grundsätze, die in diesem Buch aufgestellt worden“, zu untersuchen, „und das versteckte Böse ganz in seiner häßlichen Blöse und allen daraus entstehenden Folgen“ zu beschrei-ben.102 Die „Grundsätze“ beziehen sich auf den Umgang mit „Leidenschaften“

und auf religiöse Überzeugungen, welche der Verfasser aus Werthers Figuren-rede abliest und die in seiner Wahrnehmung mit weitreichenden Konsequenzen für den Lebenswandel verbunden sind. Werther – und dem Autor Goethe, als dessen Sprachrohr Schlettwein die Figur betrachtet – wird zum Beispiel die folgende Überzeugung zugeschrieben: „Die Begierde, seine Leidenschaften zu befriedigen ist der wesentliche Trieb der menschlichen Natur; sie in ungezähm-ten Fluthen ausbrechen zu lassen, macht den großen, den ausserordentlichen Menschen; Regeln und Gesetze verhindern ihre elastische Kraft, und stimmen zum Mittelmässigen herunter“.103 Zu seinen religiösen Überzeugungen heißt es sarkastisch und auf Zitate aus dem Roman bezogen:

Der Verfasser der Leiden bildet sich von der göttlichen Vorsehung und von den Freuden, die dem Menschen gewährt sind, einen solchen Begriff, der in seiner Art ausserordentlich gros ist. Gott wacht, Gott sorgt über uns, heißt in seiner witzigen Sprache: Gott läßt uns im

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99 [Blankenburg]: [Abhandlung über Goethe: Werther], S. 93 f.

100 [Schubart]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 575.

101 [Wieland]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 243.

102 [Johann August Schlettwein]: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers. Karlsruhe 1775, S. 9.

103 [Schlettwein]: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, S. 10.

freundlichen Wahn so hintaumeln, und baut uns Tollhäuser auf. Freuden geniesen, die dem Menschen noch gewährt sind, heißt: er sitzt an einem artig besetzten Tisch, fährt spazieren, stellt einen Tanz an, taumelt in freundlichem Wahn so hin, sitzt im Tollhaus.104

Zusammengefasst habe Werther die folgende Ansicht: „Gott ist ein Tyrann, die Natur ein Ungeheuer, und der Mensch ein Narr, wenn er nicht der ausschwei-fenden Begierde zu Sinnlichkeiten, die ihn allein gros macht, sich selbst und das Leben seines Nachbars aufopfert.“105 Schlettwein ging sogar so weit, über Goethes Roman zu sagen, dass er geeignet sei, „das ganze Fundament von der Glückseligkeit der Gesellschaft [zu] untergraben“ und „von allen Seiten her Zerrüttungen in der physischen, sittlichen, wirthschaftlichen und politischen Ordnung entstehen“ zu lassen.106

Vom selben Verfasser stammt eine Schrift mit dem Titel Des jungen Werthers Zuruf aus der Ewigkeit an die noch lebenden Menschen auf der Erde, die ebenfalls 1775 und gleichfalls anonym erschien. Wie es der Titel ankündigt, spricht der verstorbene Werther. Es handelt sich im weitesten Sinne um eine Fortsetzung der Romanhandlung. Wie der reiche Mann im Lukas-Evangelium (vgl. Lk 16, 19–

31) leidet Werther für sein nicht gottgefälliges Leben jenseitige Qualen. Er wi-derruft seine irrigen Ansichten und klagt sich selbst an, zum Beispiel mit den Worten: „Gott! wie entsetzlich strafen mich itzt die Bücher der Wahrheit über mein schwaches weiches, aber aller edlen guten Empfindungen leeres Herz.“107 Er macht Aussagen wie: „Lotte verachtet meine Sinnlichkeit, straft mit einem ernsten richtenden Blicke meine Thränen als Sünde“.108 In gleicher Weise, aber weniger drastisch, verfuhr Isaak Daniel Dilthey in seiner Schrift Werther an seinen Freund Wilhelm, aus dem Reiche der Todten, die 1777 anonym erschien.

Ihm ging es erklärtermaßen um „eine weitere Beleuchtung der schädlichen

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104 [Schlettwein]: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, S. 24.

105 [Schlettwein]: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, S. 51.

106 [Schlettwein]: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, S. 9.

107 [Johann August Schlettwein]: Des jungen Werthers Zuruf aus der Ewigkeit an die noch lebenden Menschen auf der Erde. Karlsruhe 1775, S. 14. Vgl. z. B. eine Aussage wie: „[A]lles war ich, was ich um meiner ausschweifenden Leidenschaften willen seyn wollte; ungerecht, unge-horsam, grausam, unbarmherzig, ein Verläumder der Religion, ein Feind und Spötter Gottes, ein niederträchtiger, ein Mörder, alles, alles – Gott! ein Ungeheuer voll wilder thierischer Brunst, und zu wüthendem Brande entflammt – ein Selbstmörder“ (S. 26). Derartige Aussagen werden in verschiedenen Varianten wiederholt, vgl. z. B. „O unaussprechliche Qual! Gott! – Lieben! wie drückt mich itzt das Gericht meines Gewissens, und Gottes Gericht in die tiefe Schande nieder! – Ich leide Pein in dieser Flamme, die alle meine Fibern, mein ganzes Wesen durchfährt!“ (S. 26 f.) Vgl. dazu Lk 16,24: „[I]ch leide Pein in diesen Flammen“.

108 [Schlettwein]: Des jungen Werthers Zuruf aus der Ewigkeit, S. 6.

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Grundsätze in diesem Buche“.109 Werther, so die Fiktion, schreibt aus dem Jen-seits Briefe an Wilhelm, der sie als „Gegengift“ drucken lassen soll.110 Bei Dilthey findet Werther im Jenseits ebenfalls nicht die erhoffte Ruhe. Schuld daran seien seine „Leidenschaften“, vor denen er nun ausgiebig warnt. Er wi-derruft seine diesbezüglichen Aussagen im Roman, darunter die zum Selbst-mord, und schließt mit der Einsicht, man müsse „Muth“ besitzen, „die Sinn-lichkeit der Vernunft zu unterwerfen“.111 Er nimmt ausführlich seine irrigen Aussagen über die Religion zurück.112 Deutlich erkennbar wird in den Rezepti-onsdokumenten das Bemühen, zu zeigen, dass es sich nicht so verhält wie von Werther (und angeblich Goethe) behauptet. Damit verbundene Applikationen sollen verhindert oder korrigiert werden zugunsten von als angemessener ange-sehenen Überzeugungen.

In der Tat artikuliert Werther an verschiedenen Stellen, allgemein gesagt, aufklärerisches und empfindsames Gedankengut, etwa zu ‚anthropologischen‘

Themen, die den Menschen, seine Stellung in der Welt, menschliches Leben und menschliche Gemeinschaft betreffen und daneben berufliche Tätigkeit und eine bestimmte Lebenseinstellung. Was genau die am Beginn dieses Unterkapi-tels zitierten Verfasser im Sinn hatten, wird nur im Ansatz deutlich. Blanken-burg verwies indirekt auf zwei Stellen.113 An der einen spricht Werther davon, wie es den Menschen zum einen nach „Entdekkungen“ dränge und zum ande-ren nach „Gewohnheit“ (S. 56; am 21. Juny); an der andeande-ren nennt er im Zu-sammenhang mit seiner möglichen beruflichen Tätigkeit die „Fabel vom Pfer-de“, „das seiner Freyheit ungedultig, sich Sattel und Zeug auflegen läßt, und zu Schanden geritten wird“ (S. 110; am 22. Aug.). Wieland zitierte als ein Beispiel die Aussage „Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangne soll mir Vergangen seyn“ (S. 11 f.; am 4. May 1771).114 Weitere Beispiele ließen sich an-führen. Um nur einige zu nennen: Werther äußert sich an einer Stelle über das, was er als „Bestimmung des Menschen“ wahrnimmt (S. 20; den 17. May), ver-weist an einem Beispiel auf „die unglaubliche Verblendung des Menschen-sinns“ (S. 76, am 11. Juli) oder fragt in Anbetracht seiner Unfähigkeit, Freude und Leid angemessen zu empfinden „Was ist der Mensch?“ (S. 192; am 6. Dez.).

Darüber hinaus äußert sich Werther bekanntlich zu verschiedenen Themen: zur

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109 [Isaak Daniel Dilthey]: Werther an seinen Freund Wilhelm. Aus dem Reiche der Todten.

Berlin 1777, S. 3.

110 [Dilthey]: Werther an seinen Freund Wilhelm, S. 10.

111 Vgl. [Dilthey]: Werther an seinen Freund Wilhelm, S. 10–31, das Zitat S. 28.

112 Vgl. [Dilthey]: Werther an seinen Freund Wilhelm, S. 31–44.

113 Vgl. [Blankenburg]: [Abhandlung über Goethe: Werther], S. 93.

114 [Wieland]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 243.

Natur, zur Kindheit als Lebensalter, zur Produktion von Kunst und zur Literatur.

Wie im nächsten Unterkapitel zu behandeln sein wird, hat er zudem eine emoti-onal bestimmte Sicht auf die Welt, was Schlettwein, wie gesehen, gleichfalls kritisierte. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die religiösen Aussagen Werthers, die Gegenstand der Kritik von Schlettwein und Dilthey sind. Der Werther in ihren Schriften widerspricht direkt oder indirekt manchen Aussagen aus Goethes Roman. Dort ist Werther davon überzeugt, nach seinem Tode bei einem Gott zu sein, der ihn wie ein Vater gütig aufnimmt. Er meint, Lotte wie-dersehen und mit ihr glücklich vereint sein zu können (vgl. S. 250, dazu S. 188/190). Beides ist, wie gesehen, bei Schlettwein und Dilthey nicht der Fall.