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Zu einem Modell der Applikation literarischer Texte

2 Systematische Überlegungen zur Applikation literarischer Texte

2.2 Zu einem Modell der Applikation literarischer Texte

etwa da vorliegen, wo erkannt wird, dass der Erzähler unzuverlässig ist und nicht seiner Auffassung gefolgt werden soll, sondern einer alternativen, die er unbeabsichtigt nahelegt.

Neben der leserseitigen Applikation und dem Applikationspotenzial des Textes kann man eine intendierte Applikation annehmen. Manche Selbstaussa-gen von Autor/-innen können so interpretiert werden, dass sie der Sache nach beabsichtigen, der Text möge von den Rezipienten appliziert werden. Auch diese wichtige Unterscheidung führt Pettersson nicht an.

Abzugrenzen ist der Begriff der Applikation schließlich, wie in Kapitel 1 an-gedeutet, vom Begriff der Funktion, der als Dispositionsbegriff etwas über die potenzielle Eignung eines Artefaktes aussagt. Applikation steht im Zusammen-hang mit Funktionen, wie etwa kognitiven, ethischen, emotionalen oder ästhe-tischen. Leserseitig betrachtet, bedarf es zur Realisierung solcher Funktionen der Applikation. Funktionsaussagen sind immer Aussagen über Artefakte, ob und von wem die Funktionen wie realisiert werden, ist ein davon zu unterschei-dender Sachverhalt.

Auf der Grundlage des vorangehend Gesagten lässt sich im Sinne einer fest-setzenden Definition zusammenfassend formulieren: ‚Applikation‘ bezeichnet eine Tätigkeit im Rahmen des Rezeptionsprozesses, bei welcher Rezipienten das Gelesene, also Gehalte des Textes jeglicher Art, auf ihre persönlichen oder le-bensweltlichen Erfahrungen, Überzeugungen und Einstellungen beziehen. Das Ergebnis dieser Bezugnahme, welches ebenfalls ‚Applikation‘ heißt, kann sein, dass sie neue Überzeugungen und Einstellungen bilden, bestehende verändern oder verwerfen. Sie können kognitiver, ethischer, emotionaler oder ästhetischer Natur sein. Applikationen können unterschiedliche Eigenschaften haben. Sie können bewusst oder nicht-bewusst vorgenommen werden, unterschiedlich komplex sein, positiv oder negativ ausfallen, allgemein und überindividuell sein oder individuell und subjektiv.

2.2 Zu einem Modell der Applikation literarischer Texte

Ausgehend von Annahmen darüber, dass sich literarische Texte generisch für Applikationen eignen, werden nun in einem ersten Schritt Aussagen zu einem Modell literarischer Kommunikation auf pragmatischer und kognitionswissen-schaftlicher Grundlage gemacht. In einem zweiten Schritt werden die Überle-gungen in ein literaturgeschichtliches Modell eingebettet, das von entspre-chenden historiographischen Annahmen informiert ist.

Aufgrund inhaltlicher, formaler und pragmatischer Eigenschaften, so soll hier angenommen werden, eignen sich literarische Texte in besonderer Weise

für Applikationen. Pettersson nennt vier Eigenschaften, die für sich genommen auch bei anderen Texten vorkämen, zusammen aber nur bei literarischen Tex-ten, und deren besondere Eignung begründen: (1) Das in literarischen Texten Geschilderte sei in der Regel konkret („concreteness“); (2) literarische Texte seien das Resultat eines planvollen Produktionsprozesses, in dessen Rahmen insbesondere auf die notwendige Rezeptionssteuerung geachtet werde („inten-tional design“); (3) sie seien relativ bedeutungsoffen, genauer: sie zeichneten sich durch ein gewisses Maß an Vagheit aus, aufgrund dessen es selten möglich sei, die ‚Botschaft‘ eines literarischen Textes in einer konkreten Aussage zu formulieren („openness“); (4) die Rezeption finde in Situationen statt, in denen alltäglich-praktische Handlungsziele nicht verfolgt werden („non-pragmatic context“).22

Diese Auffassung leuchtet im Prinzip ein und dürfte von vielen geteilt wer-den. Jedenfalls werden solche Eigenschaften durchaus als für literarische Texte typisch betrachtet. Literarische Texte behandeln Themen, die von vielen Rezipi-enten als wichtig und interessant angesehen werden. Das geschieht auf an-schauliche, formal durchdachte und wirksame Weise, etwa durch den planvol-len Einsatz typisch literarischer Darstellungstechniken.23 Literarische Texte erbringen spezifische Darstellungsleistungen, etwa indem sie etwas Abstraktes konkret darstellen, etwas Bekanntes als neu, etwas Vertrautes als fremd oder indem sie Aufmerksamkeit auf bisher nicht Beachtetes lenken. Sie bieten die Möglichkeit, das Gelesene im Lektüreprozess zu konkretisieren und zu reflektie-ren.24 Man kann davon sprechen, dass sich literarische Texte durch eine gewisse

‚Offenheit‘ auszeichnen, ohne zugleich auf die Überzeugung festgelegt zu sein, wonach sie unweigerlich mehrdeutig oder gar vieldeutig sind und eine Gesamt-aussage nicht erkennbar ist. Zu bedenken ist schließlich der Umstand, dass der

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22 Vgl. Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 63–68.

23 Um nur ein Beispiel zu nennen: Viktor Šklovskij identifiziert bekanntlich „das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form“ als typisch für literari-sche Texte, welches durch Entautomatisierung der Wahrnehmung „ein Empfinden des Gegen-standes“ ermögliche, „als Sehen, und nicht als Wiedererkennen“. – Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Litera-turtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1971, S. 4/35, hier S. 15.

24 Es wird, um ein Beispiel zu geben, angenommen, dass die Offenheit (‚Unbestimmtheit‘) literarischer Texte „die Möglichkeit [eröffnet], den Text an die eigenen Erfahrungen bezie-hungsweise die eigenen Weltvorstellungen anzuschließen“ – Wolfgang Iser: Die Appellstruk-tur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970, S. 13.

An dieser Stelle ist die Rede von der „Adaptierbarkeit des Textes an höchst individuelle Leser-dispositionen“. Vgl. dazu auch ausführlich Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästheti-scher Wirkung. München 1976, insbesondere S. 257–355.

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Umgang mit Literatur in der Regel freiwillig und eigenmotiviert erfolgt und relativ frei ist von Beschränkungen und handlungspraktischen Konsequenzen.25 Bei all diesen Aussagen über die generische Eignung literarischer Texte für Applikationen handelt es sich um modellhafte, generalisierende Aussagen. Ob die Eigenschaften im Einzelfall vorliegen, ist eine Sache der empirischen Unter-suchung. Das gilt auch für die folgenden Ausführungen, die zusammengenom-men ein theoretisches Modell des Umgangs mit Literatur ergeben: Welche Reichweite sie haben und ob sie im Einzelfall zutreffen, ist Sache der empiri-schen Erforschung literarischer Kommunikation. Sie ermöglichen es jedenfalls, Autor, Text, Leser und Gegebenheiten systematisch aufeinander zu beziehen und damit einen angemessenen Rahmen anzugeben, in welchem die Untersu-chung von Applikationen stattfinden kann.

Der Umgang mit literarischen Texten ist der Umgang mit einer distinkten Großgruppe von Texten. Texte wiederum sind das Produkt einer Form der Ver-wendung von Sprache. Das macht sprach- und texttheoretische Annahmen erforderlich. Für das zu Zeigende erweisen sich insbesondere pragmatische Positionen als anschlussfähig.26 Die Grundidee besagt, dass der Umgang mit Sprache (Texten, literarischen Texten) ein kommunikatives Handeln ist, bei dem Absichten und Ziele eine Rolle spielen, wechselseitige Annahmen gemacht werden, Wissen präsupponiert und in das Verstehen einbezogen wird, Gesag-tes, wie es schwarz auf weiß auf dem Papier steht und sich zum Teil der Befol-gung grammatischer und lexikalischer Regeln verdankt, durch Implikaturen angereichert wird, um das Gemeinte zu verstehen, und das alles vor dem

Hin-||

25 Mit Hinweis auf die fiktiven Gehalte literarischer Texte wird immer wieder betont, dass sie entlastendes Probehandeln ermöglichen, vgl. z. B. die Aussage, dass Literatur „als eine Kom-munikationsform fungiert, die es dem Menschen gestattet, probeweise und in praktisch entlas-teter Form über seine jeweilige Lebenssituation hinauszugehen“ – Winfried Fluck: Einleitung.

In: W. F.: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790–1900. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–29, hier S. 13. Außerdem wird verschiedentlich ange-nommen, dass literarische Texte bestimmte Erfahrungen ermöglichen, die sich auf andere Weise nicht oder nicht so einfach machen ließen, vgl. z. B. eine Aussage wie: „Probably the most encompassing advantage of reading fiction can be summarised by its function as a means to make vicarious experiences.“ – Vera Nünning: Reading Fictions, Changing Minds. The Cognitive Value of Fiction. Heidelberg 2014, S. 165.

26 Die wichtigsten Anreger dafür sind bekanntlich die Sprachphilosophen Wittgenstein, Austin, Grice und Searle. Vgl. dazu Dan Sperber/Deirdre Wilson: Relevance. Communication and Cognition. Malden, MA/Oxford 21995 und ferner z. B. Siegfried J. Schmidt: Texttheorie.

Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. München 1976; Stephen C. Levin-son: Pragmatics. Cambridge/New York 1983; Wolfram Bublitz/Christian R. Hoffmann: Engli-sche Pragmatik. Eine Einführung. Berlin 32019.

tergrund von Regeln, Konventionen und institutionellen Praktiken. Beim Text-verstehen, insbesondere beim Aufbau der Textwelt, wird, allgemein gesagt, lebensweltliches Wissen aktiviert und einbezogen (Inferenz von Weltwissen).27 Bedeutungstheoretische Überlegungen müssen in diesem Zusammenhang nicht angestellt werden.28 Es erscheint als unproblematisch, im Rahmen des Modells anzunehmen, dass Autor/-innen literarischer Texte kommunikative Absichten haben, der Text aufgrund seiner Beschaffenheit ein Bedeutungspotenzial besitzt und Leser dem Text Bedeutungen zuweisen. Es kommen situative Gegebenhei-ten hinzu, welche die Bedeutungsattribution mitbestimmen können.

Auf dieser Grundlage lassen sich in sachangemessener Weise die Produkti-on, Vermittlung und Rezeption von Literatur als Handeln beziehungsweise als von Handlungen begleitete kognitive Prozesse auffassen, bei welchen den Akt-euren, ihren Eigenschaften und Zielen eine wichtige Rolle zukommt. Analog kann daher von den vom Autor intendierten, den vom Text aufgrund seiner Beschaffenheit ermöglichten und den leserseitig vorgenommenen Applikatio-nen gesprochen werden. In der vorliegenden Arbeit stehen die ApplikatioApplikatio-nen im Fokus, welche die Rezipienten vornehmen. Bedeutsam für den Nachweis und die Relevanz des Phänomens ist es aber zugleich, ob Selbstaussagen der Autor/-innen Aufschluss geben über intendierte Applikationen und welches Applikationspotenzial die Texte haben. So wird in mehrerlei Hinsicht ein aussa-gekräftiger Vergleich möglich: Wie verhalten sich die rezipientenseitig feststell-baren Applikationen und die intendierten Applikationen zum Applikationspo-tenzial des Textes? Wie verhalten sich die tatsächlichen Applikationen des Publikums zu dem, was der Autor als Applikation intendierte? Aufschlussreich ist das insofern, als man im Rahmen des Modells annehmen kann, dass Produk-tion und RezepProduk-tion aufeinander bezogen sind. Ein gegebener literarischer Text wird als Text einer Autorin oder eines Autors gelesen, er wird mit Blick auf ein mehr oder weniger klar konturiertes Publikum geschrieben. Ob es in einem konkreten Fall so ist, ist dann wieder eine Frage der empirischen Forschung.

Jedenfalls erweist es sich als vielversprechend, von einer derartigen Modellan-nahme auszugehen. Der Negativbefund, dass eine solche wechselseitige

Orien-||

27 Vgl. dazu das einflussreiche Modell des Textverstehens von Van Dijk und Kintsch: Teun A.

van Dijk/Walter Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension. New York 1983. Vgl. dazu Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 41–43.

28 Vgl. z. B. die Beiträge in Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York 2003, und dort vor allem den einleitenden Aufsatz der Herausgeber (S. 3–30).

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tierung von Autor und Leser nicht vorzuliegen scheint, ist dann ebenfalls aus-sagekräftig.

Der Umgang mit Literatur lässt sich in dem gewählten theoretischen Rah-men des Weiteren als Kommunikation auffassen. Man benötigt dazu keinen starken Begriff von Kommunikation. Vielmehr genügt ein minimaler Kommuni-kationsbegriff, der sprach- und textwissenschaftlicher Art ist und vor allem pragmatischer Natur. Kommunikation meint dann den Versuch, mithilfe der Verwendung sprachlicher Zeichen, hier: literarischer Texte, andere in ihrem Denken, Fühlen und Handeln zu beeinflussen.29 Sofern der Leser eines literari-schen Textes erkennt, dass er mit dieser kommunikativen Absicht von einem Autor geschrieben wurde, hat Kommunikation stattgefunden.30 Das Verhältnis der Akteure, also der Autoren und der Leser, zueinander zeichnet sich durch wechselseitige Partnerorientierung aus und durch die wechselseitige Zuschrei-bung geteilter oder als geteilt unterstellter Absichten, Annahmen und Überzeu-gungen. Alles das geschieht vor dem Hintergrund geteilter oder als geteilt un-terstellter Konventionen des Umgangs mit literarischen Texten.

Um zu verdeutlichen, warum die Vorstellung, wonach der Umgang mit Lite-ratur als kommunikatives Handeln modelliert werden kann, für das im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu Zeigende erforderlich ist, bedarf es nun noch einer weitergehenden Bestimmung. Kommunikation, so soll hier angenommen wer-den, wird von Relevanzannahmen gesteuert. H. Paul Grice erläutert im Zuge seiner Überlegungen zu kooperativer Kommunikation bekanntlich verschiedene Konversationsmaximen, unter anderem die Maxime „Be relevant.“31 Sie besagt:

„I expect a partner’s contribution to be appropriate to the immediate needs at each stage of the transaction.“32 Die wohl differenzierteste Weiterführung dieser sprachphilosophischen Überlegungen stammt von Dan Sperber und Deirdre

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29 Zu Kommunikation als Beeinflussung vgl. Georg Meggle: Grundbegriffe der Kommunikati-on. Berlin/New York 1981, S. 27; Hans Hörmann: Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik. Frankfurt a. M. 41994, S. 500 f.; Maximilian Scherner: Sprache als Text. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlich begründeten Theorie des Textverstehens. Tü-bingen 1984, S. 73 f. Ein differenziertes Kommunikationsmodell mit Blick auf literarische Texte findet sich in: Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie.

Berlin/New York 2004, S. 15–83.

30 Sperber/Wilson nehmen an, Grice habe gezeigt, dass „as long as there is some way of recognising the communicator’s intentions, then communication is possible“. – Sperber/

Wilson: Relevance, S. 25.

31 H. Paul Grice: Logic and Conversation. In: H. P. G.: Studies in the Way of Words. Cam-bridge, MA/London 1989, S. 22–40, hier S. 27.

32 Grice: Logic and Conversation, S. 28.

Wilson. Sie sehen Relevanz als zentral an für sprachliche Kommunikation und für das Verstehen einer sprachlichen Äußerung. Etwas Gesagtes ist relevant, wenn es bei möglichst geringem kognitiven Aufwand ein Höchstmaß an Infor-mativität besitzt und Wissenszuwachs ermöglicht. Damit das Gesagte informativ ist, muss es neu sein und zusammen mit bereits vorhandenem Wissen die Ablei-tung weiterer neuer Informationen ermöglichen, die anderweitig nicht gewon-nen werden köngewon-nen, oder vorhandenes Wissen modifizieren oder dazu führen, dass bisher als Wissen angesehene Überzeugungen verworfen werden. Rezipi-enten unterstellen, so die These im Anschluss an Grice, bis zum Erweis des Gegenteils, dass ein kommunikativer Akt in diesem Sinne relevant ist.33

Bezogen auf Literatur lässt sich folgern, dass Applikation eine Form des Umgangs mit Literatur ist, bei welcher die so beschriebene Relevanz besonders zur Geltung kommt. Relevanz oder Bedeutsamkeit der inhaltlich-thematischen Aspekte ist von besonderer Wichtigkeit für den Umgang mit Literatur, wie er hier untersucht wird. Literarische Texte behandeln typischerweise Themen, die aus Sicht einer hinreichend großen Zahl von Rezipienten von besonderem Inte-resse sind.34 Sie werden häufig mit dieser Erwartung gelesen und geschrieben.

Jonathan Culler etwa macht als vorrangige Konvention für den Umgang mit Literatur die folgende Regel aus: „The primary convention is what might be called the rule of significance: read the poem as expressing a significant attitu-de to some problem concerning man and/or his relation to the universe.“35 Mit dem Hinweis auf eine solche Aussage wird hier natürlich nicht der Anspruch erhoben, dass das für alle literarischen Texte zutrifft. In der Literaturwissen-schaft wird eine Beschäftigung mit der inhaltlichen Dimension literarischer Texte bisweilen als nachrangig angesehen oder als naiv, wenn nicht gar unwis-senschaftlich.36 Setzt man es sich allerdings zum Ziel, etwas über den außerwis-senschaftlichen Umgang mit literarischen Texten auszusagen, und zieht man die Beschaffenheit zahlreicher, auch prototypisch literarischer Texte in Erwä-gung, dann erweist sich eine Berücksichtigung der Gehalte als sachangemessen und erforderlich.

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33 Vgl. Sperber/Wilson: Relevance, S. 48, 50 und ausführlich 118–171 sowie die Präzisierun-gen im Nachwort zur zweiten Auflage, S. 255–279.

34 Literarische Texte verfügen häufig über einen „humanly interesting content“, vgl. dazu Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspec-tive. Oxford/New York 1994, v. a. S. 265 f.

35 Jonathan Culler: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Litera-ture. London 1975, S. 115.

36 Vgl. dagegen eine Publikation wie Daniel Alder u. a. (Hg.): Inhalt. Perspektiven einer cate-goria non grata im philologischen Diskurs. Würzburg 2015.

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Im Zusammenhang mit der Kategorie der Relevanz stellt sich noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Applikation und Verstehen sowie Bedeu-tung. Verstehen und Applikation sind zwei voneinander zu unterscheidende kognitive Leistungen. Sie „have clearly different functions within the act of reading as a whole, serving the verbal understanding and the creation of rele-vance to the reader respectively“.37 Es steht jedoch zu vermuten, dass eine auf Relevanz fokussierte Rezeption des literarischen Textes die Bedeutungsattribu-tion und somit das, was als Verstehen des Gelesenen wahrgenommen wird, beeinflusst. In Zentrum steht dann nicht notwendigerweise oder in erster Linie das Erkennen einer etwaigen intendierten Bedeutung oder eine Textbedeutung, sondern die Bedeutsamkeit des Gelesenen für den Rezipienten.38 Die relevanz-gesteuert zugeschriebene Bedeutung kann gleichwohl das Bedeutungspotenzial des Textes mehr oder weniger realisieren oder dem Intendierten entsprechen.

Man kann bei dieser leserseitig zugeschriebenen Bedeutung in einigen Fällen von „meaning in a wider sense“ sprechen, wie Pettersson es tut. Er bezeichnet damit „additional representations and effects in the reader“, welche „have their roots, to a large extent, in the text’s relevance to the addressee“.39

Das Verhältnis von Bedeutungszuweisung und Applikation lässt sich rein systematisch als Kontinuum beschreiben, welches sich zwischen zwei Extrem-fällen bewegt. In dem einen Extremfall führt das Erfassen der Bedeutung direkt zu einer Applikation, sodass Bedeutungszuweisung und Applikation in ihrem Ergebnis identisch sind. Das im Text Gesagte zu erfassen, heißt, die Applikati-onsmöglichkeit erkannt zu haben. In dem anderen Extremfall gibt es einen solchen einfachen Zusammenhang gerade nicht. Über die Bedeutungszuwei-sung hinaus bedarf es intensiver kognitiver Operationen, die Applikation ist komplex und vermittelt. Die meisten Fälle dürften sich im Rahmen des Konti-nuums bewegen, das zwischen den beiden Extremen liegt. Applikation ist nie etwas, das ‚im Text steht‘, sondern ergibt sich stets aus einer leserseitigen Akti-vität, bei welcher das Gelesene in Beziehung gesetzt wird zu lebensweltlichen und persönlichen Gegebenheiten. Kognitiv und pragmatisch gesehen, ist Appli-kation eine distinkte Aktivität im Rezeptionsprozess.

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37 Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 53.

38 Vgl. zur Unterscheidung von Bedeutung (meaning) und Bedeutsamkeit (significance) etwa Hirsch: „Meaning is that which is represented by a text; it is what the author meant by his use of a particular sign sequence; it is what the signs represent. Significance, on the other hand, names a relationship between that meaning and a person, or a conception, or a situation, or indeed anything imaginable.“ – Eric D. Hirsch: Validity in Interpretation. New Haven/London 1967, S. 8; vgl. dazu ausführlich S. 24–67.

39 Pettersson: The Concept of Literary Application, S. 52.

Es kann davon ausgegangen werden, dass manche literarischen Texte auf-grund ihrer im Detail zu beschreibenden Beschaffenheit das Potenzial besitzen, für eine Applikation besonders geeignet zu sein. Ob und inwiefern konkrete Applikationen, die rezeptionsgeschichtlich festgestellt werden können, aus der Beschaffenheit des Textes hervorgehen, ist eine empirische Frage. Anzunehmen ist, dass es in der Regel mehr oder weniger der Fall sein kann. Es gibt ein Konti-nuum mit mindestens den folgenden Stufen: vom Text sehr gut bis hinreichend gedeckte Applikationen, vom Text nicht ausgeschlossene Applikationen, Appli-kationen, die kaum vom Text gedeckt sind und in Teilen oder ganz dem wider-sprechen, was im Text steht. Das unterscheidet Applikation im hier interessie-renden Sinne von normativen, denen eine korrekte, vom Text gedeckte Bedeutungszuweisung notwendig zugrunde liegen muss, also ein Verstehen (bzw. eine Interpretation). Im Prinzip wird hiermit für den Fall der Applikation eine modellhafte Aussage gemacht, die für den Text als Instanz der (literari-schen) Kommunikation allgemein gilt. Bedeutungszuweisungen an den Text oder Wirkungen, die mit der Rezeption verbunden sind, lassen sich in der Regel so beschreiben, dass sie mehr oder weniger stark auf den Text bezogen sind. Es mag Texte geben, bei denen aufgrund ihrer Beschaffenheit die mögliche Appli-kation oder die möglichen AppliAppli-kationen mehr oder weniger vom Text festge-legt werden; Texte, die mehr oder weniger offen sind; Texte schließlich, bei denen völlig offen ist, welche Applikationen in Bezug auf sie möglich sind. Und natürlich gibt es Texte, die gar keine Applikationen ermöglichen.

Was die Rezipientenseite betrifft, so ist zu unterscheiden zwischen der Rolle des Vermittlers und der Rolle des Lesers. Eine weitere Unterscheidung ergibt sich hinsichtlich des Kriteriums der Professionalität. Während Vermittler (z. B.

Literaturkritiker) professionell oder nicht-professionell sein können, sind Leser hier per definitionem nicht-professionell. Vermittlung und Rezeption literari-scher Texte vollziehen sich, wie die Produktion, in spezifischen institutionellen Zusammenhängen.40 Vermittler erweisen sich als für den in Rede stehenden

Literaturkritiker) professionell oder nicht-professionell sein können, sind Leser hier per definitionem nicht-professionell. Vermittlung und Rezeption literari-scher Texte vollziehen sich, wie die Produktion, in spezifischen institutionellen Zusammenhängen.40 Vermittler erweisen sich als für den in Rede stehenden