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3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.1 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

3.1.6 Die Liebeskonzeption

3.1.6 Die Liebeskonzeption

Die Emotion, die im Roman besonders prominent erscheint, ist Werthers Liebe zu Lotte. Daher spielt in der zeitgenössischen Rezeption die Liebeskonzeption eine wichtige Rolle. Die dargestellte Liebe wurde als Ideal aufgefasst. So sagte Heinse in einer euphorischen Besprechung des Romans: „Die reinsten Quellen des stärksten Gefühls von Liebe und Lieben in allem fließen in lebendigen Bä-chen in unentweyhter Heiligkeit darinnen; und auch dann noch, wenn es bis zur höchsten Leidenschaft anströmt.“155 Lenz erklärte, dass der Roman insbe-sondere in Lotte als der geliebten Person ein lebensnahes und realisierbares Ideal verkörpere. Lottes Handeln empfehle sich zur Nachahmung (bei chen Rezipienten) und könne „Enthusiasmus für wirkliche Vorzüge, für weibli-chen Wert“ hervorrufen (bei männliweibli-chen Rezipienten); er sieht in ihr „den Inbe-griff aller sanfteren Tugenden, aller edleren geistigen sowohl als körperlichen Reize zusammengenommen“.156 Es ist das eine, den Roman so zu verstehen, dass er etwas, hier eine Form von Liebe, als Ideal darstellt. Es ist jedoch etwas anderes, das Ideal als realisierbar anzusehen und es sich zu eigen zu machen.

Ersteres ist ein Fall des Textverstehens, Letzteres ein Fall von Applikation.

Darüber hinaus wurde angenommen, dass der Roman vor den negativen Folgen der Liebe warne. So hieß es in einer Schrift, „das Unterrichtende“ des Romans bestehe darin, dass man aus ihm „lernen“ könne, „daß wir die Liebe, die uns nicht glücklich machen kann, als unsern ärgsten Feind fliehen sol-len“.157 In einer anderen Schrift, die sich vordergründig als Verteidigung der Position von Goeze präsentierte, aber eigentlich dessen Ansichten subtil kriti-sierte, wurde Goethe die Intention zugeschrieben, er habe „die schrecklichen Folgen der Liebe zeigen“ wollen.158 Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Applikation: Es soll wahrgenommen werden, was an der Liebe im Roman prob-lematisch ist, und eine diesbezügliche Überzeugung gebildet werden, die das eigene Verhalten anleiten kann.

Verschiedenen weiteren Rezeptionsdokumenten scheint die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass das Publikum die im Roman dargestellte Liebe als Ideal auffasste. Ihre Verfasser stehen einer solchen Rezeption distanziert bis

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155 [Heinse]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 167.

156 Lenz: Briefe über die Moralität, S. 679.

157 [Bertram oder Hymmen]: Etwas über die Leiden des jungen Werthers, S. 8.

158 [Anon.]: Schwacher jedoch wohlgemeynter Tritt vor dem Riß, neben oder hinter Herrn Pastor Goeze, gegen die Leiden des jungen Werthers und dessen ruchlose Anhänger. o. O. 1775, S. 20.

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ablehnend gegenüber. Matthias Claudius kommentierte in seiner durchweg ironisch gehaltenen Anzeige des Romans die Liebe distanziert und gab zu ver-stehen, dass man sich dieses Ideal nicht zu eigen machen muss: „Ja, die Liebe ist ‘n eigen Ding; läßt sich’s nicht mit ihr spielen wie mit einem Vogel.“159 In Göchhausens Das Wertherfieber wird eine Figur, Sybille Vips, gezeigt, bei der die Lektüre des Romans starke emotionale Reaktionen auslöst und konkrete physische Folgen hat, nämlich das titelgebende ‚Wertherfieber‘. Es wird erzählt, dass sie sich wünscht, ihr Geliebter möge wie Werther sein und sie so lieben wie er Lotte.160 Mitunter wurde ausdrücklich betont, dass die im Roman dargestellte Liebe abzulehnen sei. Johann Jakob Mochel warf die Frage auf, ob „Mädchen“

tatsächlich „einst glückliche Gattinnen sein“ können, wenn sie sich einen Part-ner wünschen, der sie so liebt wie Werther Lotte, und sah die Gefahr, dass

„Jünglinge“ Werthers Umgang mit seiner unglücklichen Liebe nachahmen und dann „nach und nach Gott und der Welt unnütz, für das gesellige Leben todt, so langsam sanft und schwindsüchtig hinschwinden“ könnten.161 Eine Applikati-on, von der man meint, dass manche Rezipient/-innen sie vornehmen, wird aufgrund ihrer vermeintlichen Konsequenzen verurteilt. Wie in anderen Fällen lassen sich aber zugleich Gegenstimmen ausmachen. In einer anderen Schrift wurde scheinbar zustimmend eine ähnliche Befürchtung geäußert: „Der Jüng-ling sucht eine Lotte und das Mädchen einen Werther, und finden sie beide nicht.“162 Vermittels verschiedener Strategien gibt der Verfasser allerdings zu verstehen, dass er die Befürchtung für unberechtigt hält.163

Manche Romane reagierten auf die in Goethes Roman dargestellte Liebes-konzeption. In August Cornelius Stockmanns Die Leiden der jungen Wertherinn geht es um Lotte. Zum einen wird die Romanhandlung um Details ergänzt, die sich aus ihrer Perspektive ergeben, zum anderen wird geschildert, wie es Lotte

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159 [Matthias Claudius]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Der Deutsche, sonst Wandsbe-cker Bothe. 22. Oktober 1774, n. p.

160 Vgl. [Göchhausen]: Das Wertherfieber, S. 4 und 46 f.

161 Mochel: Reliquien verschiedener philosophischen, pädagogischen, poetischen und ande-rer Aufsätze, S. 60.

162 [Anon.]: Schwacher jedoch wohlgemeynter Tritt vor dem Riß, S. 8.

163 Das geschieht zum Beispiel durch bewusste Übertreibung: Die Lektüre des Romans werde dazu führen, dass junge Frauen unverheiratet bleiben, das Heiraten schließlich „ganz aufhö-ren“ und die „Nachkommenschaft“ ausbleiben werde – [Anon.]: Schwacher jedoch wohlge-meynter Tritt vor dem Riß, S. 8. Dies wiederum werde zur Konsequenz haben, dass „die Jura stolae [...] abnehmen, und die Arbeiter in dem Weinberge Gottes darob ermüden“ werden (S. 9). Mit anderen Worten: Den Geistlichen, die als Träger derartiger Bedenken ausgemacht werden, geht es am Ende in erster Linie um ihren eigenen finanziellen Vorteil, nicht um Seel-sorge. Aktiviert wird damit ein antiklerikaler Topos.

nach Werthers Tod ergeht. Es wird ausführlich gezeigt, wie sie letztendlich aus Kummer stirbt. Der stets sehr präsente Erzähler, der durch Kommentare und Digressionen die Rezeption zu beeinflussen versucht, bekennt sich einleitend ausdrücklich dazu, dass ein literarischer Text nicht schaden dürfe: „O, könnte man das von allen Schriften der schönen Litteratur sagen. Sie schaden weder, noch nützen! In Wahrheit zehntausendmal besser, als wenn wir seufzen müs-sen: Welch ein Genie! Aber, ach wie schädlich!“164 Die Quelle lässt sich so lesen, dass sie die Applikation der Liebeskonzeption von Goethes Romans anhand eines Textes ermöglichen soll, der ohne die vermeintlich problematischen As-pekte der Vorlage und die damit einhergehenden negativen Wirkungen aus-kommt: Liebestod statt Selbstmord.

Ein gutes Kontrastbeispiel ist Johann Moritz Schwagers Die Leiden des jun-gen Franken, eines Genies. Der Text ist eine Parodie auf Goethes Roman nach der Art eines Entwicklungsromans. Leben, Denken und Handeln des Protagonisten, Wilhelm Franken, werden in satirischer und sarkastischer Weise der Lächer-lichkeit preiszugeben versucht. Im Zusammenhang mit Kritik an der Empfind-samkeit wird die Liebeskonzeption karikiert. Der Protagonist verliebt sich in eine bereits verheiratete Frau und begeht am Ende aus Verzweiflung Selbst-mord. Seine illegitime Liebe wird bisweilen mit einer erheblichen Drastik ge-schildert. So beredet er eine Magd, für ihn den Nachttopf der Frau zu entwen-den, in die er verliebt ist, verehrt ihn so, wie Werther in Goethes Roman die blassblaue Schleife, die Lotte ihm zu seinem Geburtstag schenkt, und äußert am Ende den Wunsch, mit dem Nachttopf begraben zu werden.165 Insofern auf die Liebeskonzeption von Goethes Roman Bezug genommen wird, scheint es darum zu gehen, sie als unangemessen auszuweisen und somit eine Negativ-Applikation zu veranlassen oder aber eine Negativ-Applikation, bei welcher die im Ro-man dargestellte Liebe als Ideal akzeptiert wurde, zu korrigieren.

Manche Romane sind so zu verstehen, dass sie vor der in Goethes Roman dargestellten Liebe warnen. Ein Beispiel ist der Beitrag zur Geschichte der Liebe aus einer Sammlung von Briefen.166 Sontheim und Louise sind zwei empfindsam Liebende, die nicht zusammenkommen können, weil Louise auf Geheiß ihrer

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164 [August Cornelius Stockmann]: Die Leiden der jungen Wertherinn. Eisenach 1775, S. 6.

165 Vgl. [Johann Moritz Schwager]: Die Leiden des jungen Franken, eines Genies. Minden 1777, S. 132 f. und 138. Es gibt weitere literarische Texte, die als Kritik an der Empfindsamkeit angelegt sind und sich auf Goethes Roman beziehen, vgl. z. B. [Anon.]: Die Kutsche, eine satiri-sche Geschichte. Leipzig 1781, S. 84–106; [Friedrich Wilhelm Ludwig Schilling]: Die holländi-sche Sauce. Eine lauchstädtholländi-sche Badgeschichte. Halle 1782, z. B. S. 7, 20, 32 und 45.

166 Vgl. [Jakob Friedrich Abel]: Beitrag zur Geschichte der Liebe aus einer Sammlung von Briefen. 2 Teile. Leipzig 1778.

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Eltern eine finanziell vorteilhafte Ehe schließen soll. Nach langen Kämpfen entschließt sie sich, ihren Eltern Folge zu leisten. Nachdem die weitere Entwick-lung zunächst eine durchaus glückliche Ehe verspricht und Sontheim sich in sein Schicksal zu fügen scheint, erwacht bei beiden nach einer erneuten Begeg-nung doch wieder die Leidenschaft füreinander und es kommt zum Ehebruch.

Louise stirbt aus Reue. Der Roman endet mit der Beschreibung des Zustandes von Sontheim, welcher von religiös motivierten Schuldgefühlen und großer Verzweiflung geprägt ist. Weitere Beispiele ließen sich anführen.167 Eine Appli-kation, die in der in Goethes Roman dargestellten Liebe ein Ideal sieht, soll also verhindert werden.

Applikationen mit Blick auf die Liebeskonzeption und die zugehörigen Ne-gativ-Applikationen weisen gleichfalls eine hohe Passung mit der Beschaffen-heit des Textes auf. Der Roman ist nämlich insbesondere eine Darstellung von Werthers emphatischer und unglücklicher Liebe zu Lotte, wie eine einfache Beschreibung zeigen kann. Bereits im ersten Brief verweist Werther auf eine (außerhalb der erzählten Geschichte liegende) Dreiecks-Konstellation, in wel-cher er der Mann zwischen zwei Frauen war; eine Konstellation, die sich im Roman dann umgekehrt wiederholt (vgl. S. 10; 4. May 1771). Die Erinnerung an eine verstorbene Jugendfreundin ist bald darauf Anlass zu Aussagen über das Ideal und die Unerreichbarkeit der von ihm favorisierten Form der Liebe: „Ich würde zu mir sagen: du bist ein Thor! du suchst, was hienieden nicht zu finden ist. Aber ich hab sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu seyn als ich war, weil ich alles war was ich seyn konnte.“ (S. 20; am 17. May) Wilhelm gegenüber plädiert er für eine bedin-gungslose Liebe ohne Beschränkungen, wie sie ein „Philister“ für ratsam hielte (S. 28; am 26. May).

Breiten Raum nimmt dann die Erzählung der ersten Begegnung mit Lotte ein (vgl. S. 36/54; am 16. Juny). Im folgenden Brief heißt es dazu: „[S]eit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirthschaft treiben, ich weis weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her“ (S. 54; am 19. Juny). Diese emphatische Schilderung setzt sich an zahlrei-chen Stellen fort. Er „geizt“ nach einem „Blikke“ von Lotte (S. 72; am 8. Juli);

macht eine „alberne Figur“, wenn Dritte von Lotte reden (S. 74; 10. Juli); ist sich unsicher, ob sie ihn liebe (vgl. z. B. S. 72/74 [am 8. Juli] und S. 76 [am 13. Juli]);

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167 Vgl. [Anon.]: Fragmente aus der Geschichte eines liebenden Jünglings. Für Empfindsame.

Zweite, verbesserte Auflage. Halle 1781; [Anon.]: Des jungen Sternheims Leiden und Freuden, oder die Gefahren einer frühen Liebe. Leipzig 1785; [Johann Gottfried Otto]: Fritz Preller; ein Liebesroman, wie sich täglich unter dem Monde welche zutragen. Eisenach 1782.

wenn er sie einmal nicht sehen kann, schickt er zumindest seinen Bedienten zu ihr (vgl. S. 78/80; am 18. Juli); nach Alberts Ankunft ist seine „Freude bey Lotten zu seyn […] hin“ (S. 86; am 30. Juli); er will sich weder mit der Situation abfin-den noch die Alternative anerkennen, auf welcher Wilhelm beharrt, nämlich entweder um Lotte zu werben oder ihrer zu entsagen, je nachdem, ob Hoffnung besteht oder nicht (S. 86/88; am 8. Aug.); er träumt von ihr (vgl. S. 108; am 21. Aug.) und beklagt seine „tobende Leidenschaft“ (S. 112; am 30. Aug.); er stellt sich vor, mit Lotte verheiratet zu sein, und meint, sie wäre mit ihm glück-licher gewesen (vgl. S. 156/158; am 29. Juli), und malt sich aus, was passieren würde, wenn Albert stürbe (vgl. S. 158/160; am 21. Aug.). Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen. Außerdem betont er die existenzielle Bedeutung der Liebe: „Wilhelm, was ist unserm Herzen die Welt ohne Liebe!“ (S. 78; am 18. Juli); „Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Menschen nichts nothwendig macht als die Liebe.“ (S. 102; am 15. Aug.); „Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts anders kenne, noch weis, noch habe als sie.“ (S. 160;

am 3. September); „Ach diese Lükke! Diese entsezliche Lükke, die ich hier in meinem Busen fühle! ich denke oft! – Wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drükken könntest. All diese Lükke würde ausgefüllt seyn.“ (S. 172;

am 19. Oktober).

Exemplarische Befunde wie diese verdanken sich keiner differenzierten Analyse und Interpretation des Textes und erscheinen aus literaturwissen-schaftlicher Sicht zunächst nicht sehr bedeutsam. Sie machen jedoch zeitgenös-sische Applikationen verständlich, die auf die Liebeskonzeption bezogen sind.

Ein für den Roman zentraler thematischer Gehalt, der – zumindest in der Wahr-nehmung mancher Zeitgenossen – in neuer und besonders eindringlicher Weise dargestellt wird, legt derartige Applikationen nahe, zumal es ein allgemein und gerade im 18. Jahrhundert in einer spezifischen Weise interessierendes Thema ist.

Nicht nur die Auffassung von Emotionen allgemein wandelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts, sondern auch die Liebeskonzeption.168 Sie steht aufgrund

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168 Vgl. dazu Julia Bobsin: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebesse-mantik in der deutschen Erzählliteratur 1770–1800. Tübingen 1994. Die Arbeit bezieht sich auf Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982. Auf Grundlage der Thesen von Luhmann wird Goethes Roman untersucht in Hans-Edwin Friedrich:

Autonomie der Liebe – Autonomie des Romans. Zur Funktion von Liebe im Roman der 1770er Jahre: Goethes Werther und Millers Siegwart. In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropolo-gie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 209–220. Vgl. für eine ältere

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der historischen Gegebenheiten in enger Verbindung mit Fragen von Partner-schaft und Ehe sowie Familie. Für den Rationalismus und die Frühaufklärung war die Konzeption einer ‚vernünftigen Liebe‘ einschlägig, der zufolge „die Neigung nahezu zwangsläufig aus der Einsicht in die Tugendhaftigkeit des Partners [erwächst]“.169 Die ‚zärtliche Liebe‘ der Empfindsamkeit behält die Orientierung am Moralischen bei, setzt aber an die Stelle der „rationale[n]

Grundstruktur“ der vernünftigen Liebe „das Konzept tugendhafter Empfindun-gen“.170 In der Frühromantik entsteht die ‚romantische Liebe‘: „Sie löst sich von den Geboten der Tugendhaftigkeit und erhebt einen Unbedingtheitsanspruch, der sich einzig auf die Unvergleichlichkeit des/der Geliebten bezieht.“171

Werthers Liebe zu Lotte ist die Liebe zu einer „so gut als verlobt[en]“ (S. 50;

am 16. Juny) und dann verheirateten Frau. Dadurch erscheint sie, gemessen an zeitgenössischen Vorstellungen, als moralisch fragwürdig. Sie ist außerehelich und steht folglich außerhalb der einzigen Institution, die zeitgenössisch als akzeptabler Ort für Liebe galt. Zugleich trägt sie aber Züge einer empfindsamen Liebe. Lotte erscheint in Werthers Wahrnehmung als eine Gleichgesinnte (vgl.

z. B. das Gespräch über Literatur auf der Kutschfahrt zum Ball), emotional Gleichgestimmte (vgl. z. B. die Klopstock-Szene nach dem Ball) und als eminent tugendhafte Person (vgl. z. B. die Brotschneide-Szene). Wenn Werther Lotte wiederholt als „Engel“ bezeichnet oder zumindest mit einem Engel vergleicht (vgl. S. 37, 70, 78, 140, 249 und 260), dann zeigt diese pseudo-sakrale Redeweise den existenziellen Ernst seiner Liebe an und wertet sie indirekt auf.172 Die Liebe zu Lotte ist in seiner Wahrnehmung so beschaffen, dass sie nicht auf eine ande-re Partnerin übertragen werden kann; Lotte ist daher als Partnerin einzigartig.

Das wird bei dem vorletzten Zusammentreffen der beiden Figuren deutlich.

Lotte bringt explizit die Möglichkeit ins Spiel, dass es eine andere Partnerin für

|| Arbeit Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Halle a. d. S. 1922, und für einen ‚psychogenetischen‘ Ansatz Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zu Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert.

Tübingen 1976.

169 Vgl. Günter Saße: Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1996, S. 30–37, das Zitat S. 31.

170 Vgl. Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 38–47, das Zitat S. 38.

171 Vgl. Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 48–59, das Zitat S. 48.

172 In diesen Zusammenhang gehört die explizite Zurückweisung von Sexualität: „Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.“ (S. 78) Zwar gibt der Text keine Hinweise darauf, dass Werther in dieser Hinsicht unzuverlässig ist, allerdings erscheint es wohl lebens-weltlich, auch aus zeitgenössischer Sicht, wenig plausibel, dass Liebe dieser Art ohne sexuelle Attraktion besteht. Zu vermuten ist, dass Werther ein Ideal formuliert, wiederum gemessen an den zeitgenössischen Vorstellungen.

Werther geben müsse: „Und sollte denn in der weiten Welt kein Mädgen seyn, das die Wünsche Ihres Herzens erfüllte. Gewinnen Sie’s über sich, suchen Sie darnach, und ich schwöre Ihnen, Sie werden sie finden.“ (S. 221) Werther kann das nicht akzeptieren und weist den Ratschlag als hofmeisterlich zurück (vgl.

ebd.). Seine außereheliche Liebe zu Lotte trägt damit empfindsame Züge und verweist bereits auf die romantische Liebe der Frühromantik.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten ergeben sich zur Liebe von Albert und Lotte. Es wird zwar nicht explizit gesagt, kann aber wohl vorausgesetzt werden, dass bei der Eheschließung wirtschaftliche Erwägungen mit einbezogen wur-den. Die Liebe scheint mit Vernunftgründen und ethischer Wertschätzung in Verbindung zu stehen, weist aber ebenfalls empfindsame Züge auf. Nach dem vorletzten Zusammentreffen Werthers mit Lotte und Alberts Rückkehr von einer Reise wird, um ein Beispiel zu geben, berichtet: „Die Gegenwart des Mannes, den sie liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr Herz gemacht. Sie erinnerte sich all seiner Güte, seines Edelmuths, seiner Liebe, und schalt sich, daß sie es ihm so übel gelohnt habe.“ (S. 256) Es scheint sich um eine vernünfti-ge und empfindsame Liebe zu handeln. Bemerkenswert ist ferner, dass die Partnerschaft der beiden, zumindest gemessen an dem, was das Publikum er-fährt, keine ausgeprägten patriarchalischen Züge trägt und somit nicht dem zeitgenössischen Normalfall entspricht.173

Die Ergebnisse in diesem Unterkapitel zusammenfassend, lässt sich festhal-ten: Die Rezeptionsdokumente zu Goethes Werther geben Aufschluss über ver-schiedene Applikationen, die sich in erstaunlich hoher Übereinstimmung mit der Beschaffenheit des Textes befinden oder aber davon nicht ausgeschlossen werden, zumal mit Blick auf die historischen Gegebenheiten. Der Roman konnte so verstanden werden, dass er ein Ideal von Liebe vermittelt und vor möglichen negativen Folgen warnt. Aufgrund der Beschaffenheit des Romans sind beide Applikationen möglich und schließen einander nicht aus. Gerade die Liebes-konzeption scheint Kritiker auf den Plan gerufen zu haben, die eine Negativ-Applikation vermitteln wollten: Die im Roman dargestellte Liebe sei aus ethi-schen Gründen abzulehnen. In allgemeinerer Hinsicht war der Roman geeignet, Applikationen bezüglich des Umgangs mit Emotionen zu ermöglichen.

Wäh-||

173 Vgl. dazu Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 11–61, und die anschließende Untersuchung verschiedener Dramen sowie speziell mit Blick auf Goethes Roman Bengt Algot Sørensen: Über die Familie in Goethes Werther und Wilhelm Meister. In: Orbis litterarum 42 (1987), S. 118–140, hier S. 123–128. Vgl. mit Blick auf die zeitgenössische Vorstellung von Familie Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988.

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rend man zum einen aufgrund des Romans die Überzeugung erwerben konnte, dass es nicht-triviale Fälle gibt, in denen die ‚Leidenschaften‘ stärker sind als der ‚Verstand‘, wurde zum anderen genau diese mögliche Überzeugung als unzutreffend kritisiert. Die Applikation erweist sich als strittig. Außerdem konn-te der Roman so gelesen werden, dass er eine Applikation ermöglicht, bei wel-cher das Gelesene zum richtigen und ratsamen Umgang mit Gefühlen anleitet.

In beiden Fällen ist es insbesondere der Umstand, dass die Themen zeitgenös-sisch in spezifischer Weise als relevant angesehen werden, der die Applikatio-nen erklärt.

Ferner waren manche Ansichten und Überzeugungen Werthers, zum Bei-spiel ‚anthropologischer‘ Art, Gegenstand von Applikationen. Die Vehemenz, mit der manche seiner auf religiöse Sachverhalte oder solche des ‚bürgerlichen‘

Lebens bezogenen Aussagen bestritten wurden, mag aus heutiger Sicht überra-schen. Die Untersuchung von Applikationen kann dazu beitragen, sichtbar zu

Lebens bezogenen Aussagen bestritten wurden, mag aus heutiger Sicht überra-schen. Die Untersuchung von Applikationen kann dazu beitragen, sichtbar zu