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Der Roman als Anleitung zum angemessenen Umgang mit Liebe

3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.3 August Lafontaine: Klara du Plessis und Klairant (1794/1795)

3.3.2 Der Roman als Anleitung zum angemessenen Umgang mit Liebe

zwischen der Mesalliance-Problematik des Romans und zeitgenössischen Er-eignissen und Verhältnissen. Etwaige Applikationen, die damit in Verbindung stehen könnten, lassen sich folglich nicht nachweisen.

3.3.2 Der Roman als Anleitung zum angemessenen Umgang mit Liebe

Lafontaine hat sich zumindest an einer Stelle explizit dazu geäußert, was seiner Meinung nach ein guter Roman ist und was er leisten soll. Gemeint ist die nicht-paginierte Vorrede zur zweiten Auflage von Die Gewalt der Liebe in Erzählungen (1801, zuerst 1791–1794).243 In doppelter Abgrenzung gegenüber Romanen (ver-mutlich erotischen Inhalts), an deren „Schändlichkeit“ kein Zweifel bestehen könne, und solchen, welche die „unwahrscheinlichsten Mährchen enthalten“, beruft er sich auf Johann Karl Wezels Bestimmung des Romans als „bürgerliche Epopee“244 und entwirft das Ideal eines Romans, der programmatisch auf die Lebenswelt bezogen ist und eine ethisch-moralische Funktion erfüllt:

Der Roman ist der Spiegel des wirklichen Lebens, eine bürgerliche Epopee, eine Fabel, wo Menschen reden und handeln mit der hinzugefügten Moral, ein lebendiger Unterricht über das menschliche Leben, über die Leidenschaften, die es treiben, über die Schwierig-keiten, die jedes Geschlecht, jedes Alter, jeder Stand in den tausendfachen Verwicklungen vorfindet, eine Schule der Selbstkenntnis, eine Moral in Beispielen, und wie die Sachen jetzt liegen, beinahe die einzige Schule wenigstens für das weibliche Geschlecht.

Was Lafontaine in dem Zitat noch allgemein beschreibt, wird in der Vorrede sodann, unter Einbeziehung möglicher Gegenargumente, für (junge) Frauen spezifiziert. Das „Mädchen“, so Lafontaine, sei im Umgang mit Gleichaltrigen des anderen Geschlechts Gefahren ausgesetzt, welche von Seiten der „Leiden-schaften“ und der „Sinnlichkeit“ drohen. Um ihnen angemessen begegnen zu können, sei Selbstkenntnis erforderlich und ein Wissen über „Jünglinge“ und ihr Verhalten: „Welche Selbstkenntniß, welche genaue Bekanntschaft mit dem menschlichen Herzen, mit dem Werthe des Mannes, mit den Masken des Werths, welche die Jünglinge vornehmen, muß nicht das junge Mädchen

ha-||

243 Vgl. August Lafontaine: [unpaginierte Vorrede]. In: A. L.: Die Gewalt der Liebe in Erzäh-lungen, Zweite, mit neuen Erzählungen vermehrte Aufl. T. 1. Berlin 1801. Zur Liebeskonzeption in diesem Text vgl. Günter Dammann: Lafontaines Anfänge als Romancier. Liebeskonzeption und Gattungsfragen in „Die Gewalt der Liebe“. In: Berghahn/Sangmeister: August Lafontaine (1758–1831), S. 81–109.

244 Johann Karl Wezel: Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 3: Herrmann und Ulrike. Hg. von Bernd Auerochs. Heidelberg 1997, S. 9 und 10.

ben, um den Schlingen zu entgehen, die ihnen die Jünglinge und ihre eigenen Empfindungen legen.“ Es geht ihm darum, einen angemessenen Umgang mit den eigenen Gefühlen im Verkehr mit dem männlichen Geschlecht zu vermit-teln. Das gilt insbesondere für Gefühle der Liebe. Liebe möge zwar eine „Posse“

sein, allerdings stelle sie in jungen Jahren und darüber hinaus eine „Gefahr“

dar; eine Gefahr, gegen die der „Unterricht“ helfe, „den der Roman giebt“. Die

„Frau“, so Lafontaine weiter, stehe vor der Herausforderung, das „Hauswesen“

zu führen und „des Mannes Gesellin“ zu sein. Hierbei sei Anleitung erforder-lich, welche der Roman vermitteln könne, wie eine rhetorische Frage nahelegt:

„Wie soll sie das alles, was unsere Art zu leben jetzt so wichtig macht, ohne Unterricht?“ Der Roman soll darüber Aufschluss geben, wie eine Frau sich in der Ehe zu verhalten habe. In beiden Fällen lässt sich davon sprechen, dass die intendierten Leserinnen eine Applikation vornehmen müssen, um die von La-fontaine beabsichtigten Funktionen zu realisieren. Sie müssen das, was im Roman über Liebe und den Umgang mit ihr, über das angemessene Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht vor und in der Ehe gesagt wird, als lebens-weltlich zutreffende und richtige Darstellung akzeptieren, die sie auf sich und ihre Situation anwenden können. Sie sollen die Überzeugungen übernehmen und ihr Verhalten daran ausrichten.

Es muss vermutlich nicht eigens betont werden, dass Lafontaine seinen Überlegungen ein Frauenbild zugrunde legt, welches zeitgenössischen Ideal-vorstellungen entsprochen haben mag, heutigen allerdings nicht. Entscheiden-der sind an dieser Stelle zwei anEntscheiden-dere quellenkritische Gesichtspunkte.

Es stellt sich zum einen die Frage, inwiefern Lafontaines Aussagen eigent-lich glaubhaft sind. Seinen Romanen und Erzählungen einen didaktischen Nut-zen zuzuweisen, kann lediglich eine Legitimierungsstrategie sein, um seine Texte gegen mögliche Vorwürfe in Schutz zu nehmen, welche gegen Romane im Allgemeinen oder gegen ‚Familienromane‘ und vergleichbare Gattungen im Besonderen das 18. Jahrhundert hindurch erhoben wurden. In diesem Zusam-menhang auf eine vermeintliche didaktische Funktion zu verweisen, zumal mit Blick auf Handlungsorientierung, ist ein Topos der Romanpoetologie der Zeit.

Bemerkenswert ist, dass Lafontaines Darstellung von „Kinderliebschaften“ auf moralische Vorbehalte mancher Zeitgenossen stieß.245 Zum anderen stellt sich

||

245 August W. Schlegel empörte sich im Athenäum: „Kann den aber wohl etwas unnatürli-cher, und zugleich unsittlicher seyn, als seine [Lafontaines] Kinderliebschaften? Er nimmt ohne weiteres an, daß das erste, was sich im Menschen regt, das Interesse des einen Ge-schlechtes für das andre ist.“ – [August Wilhelm Schlegel]: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur, S. 155, vgl. dazu S. 155–158, S. 156 mit Bezug auf Klara du Plessis und Klairant. In

August Lafontaine: Klara du Plessis und Klairant (1794/1795) | 139

die Frage, ob das in der Vorrede zu einer anderen Publikation Gesagte eigent-lich auf Klara du Plessis und Klairant bezogen werden kann. In einem offen-sichtlichen Sinne ist das nur zum Teil möglich. Da die Protagonisten kaum als Eheleute gezeigt werden, entfällt die darauf bezogene intendierte Funktion. Die andere von Lafontaine geltend gemachte Funktion, nämlich, dass der Roman den angemessenen Umgang mit Gefühlen, vor allem der Liebe, beim gesell-schaftlichen Verkehr mit dem männlichen Geschlecht vermitteln solle, lässt sich jedoch prima facie durchaus auf Klara du Plessis und Klairant beziehen. Die Vorrede stammt von 1801, soll aber für eine Publikation gelten, die in erster Auflage bereits zwischen 1791 und 1794 erschien, also in sehr großer zeitlicher Nähe zu Klara du Plessis und Klairant. Unterstellt man eine gewisse Konstanz in den Absichten und in den geäußerten Überzeugungen, dann kann man die Auffassung des Romans und seiner Leistungen, die Lafontaine 1801 äußerte, für den Roman von 1794 als einschlägig betrachten.

Zu beiden Fragen lässt sich sagen, dass der öffentliche Charakter der Äuße-rung zu beachten ist. Unabhängig von Lafontaines eventuell vorhandenen an-deren Absichten und unabhängig davon, ob er für Klara du Plessis und Klairant die in der besagten Vorrede genannten Funktionen vorgesehen hatte, können Leser/-innen das in der Vorrede Gesagte als Aussage über die genannten Wir-kungsabsichten verstehen und als generalisierbar, jedenfalls als auf einen Ro-man wie Klara du Plessis und Klairant zutreffend. Der RoRo-man, so soll im folgen-den Unterkapitel gezeigt werfolgen-den, lässt sich aufgrund seiner Beschaffenheit als Anleitung zum angemessenen Umgang mit Liebe auffassen und damit als Um-setzung der Konzeption und Intention, wie sie Lafontaine in der Vorrede zu Die Gewalt der Liebe in Erzählungen formuliert hatte.246 Einen angemessenen Um-gang mit Liebe zu vermitteln, so die These, ist die intendierte Applikation. Das erscheint in Anbetracht der Beschaffenheit des Textes und seines daraus resul-tierenden Applikationspotenzials plausibel.

|| einer Besprechung von Lafontaines Familiengeschichten äußerte ein anonymer Verfasser neben Lob verschiedene Kritikpunkte. Er schrieb: „Ein eben so gerechter, schon von einem andern Kritiker gemachter Vorwurf, trifft die zahlreichen Kinderliebeleyen, die Lafontaine nicht müde wird, mit Veränderung einiger kleiner Züge, immer von Neuem wieder aufzutischen.“ – [Anon.]: [Rezension von Lafontaine: Familiengeschichten]. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 57, St. 1 (1801), S. 79–91, hier S. 83. Er meinte, „die kindliche unverdorbene Natur“ kenne noch keinen „Geschlechtstrieb“ in dem Ausmaß, wie Lafontaine glaubhaft ma-chen wolle (S. 83.).

246 Vgl. dazu Sangmeister: August Lafontaine oder die Vergänglichkeit des Erfolgs, S. 445–

456.