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Die intendierte Applikation und das Potenzial des Textes

3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.3 August Lafontaine: Klara du Plessis und Klairant (1794/1795)

3.3.3 Die intendierte Applikation und das Potenzial des Textes

3.3.3 Die intendierte Applikation und das Potenzial des Textes

Betrachtet man den Text vor dem Hintergrund der vermuteten intendierten Applikation, so lässt sich feststellen, dass er aufgrund verschiedener Merkmale ausgesprochen gut dazu passt. Es ist plausibel, anzunehmen, dass der Roman im Wesentlichen geeignet ist, eine Auffassung von Liebe zu vermitteln und zu zeigen, wie man mit ihr umzugehen habe. Die Darstellung von Liebe und der Art und Weise, wie die Protagonisten damit umgehen, ist das zentrale Thema; es handelt sich um eine Liebe, die sich über verschiedene Stationen entwickelt, vom Verhalten anderer Figuren, zumal der Eltern, abhängig ist, schicksalhafte und kontingente Züge trägt und letztlich höchsten ethischen Standards genügt.

Der Erzähler schildert und kommentiert eingehend die Liebe zwischen Kla-ra, der Tochter eines Vicomtes, und Klairant, dem Sohn eines Pächters, in Loth-ringen zur Zeit der Französischen Revolution. Am Beginn derselben steht ethi-sche Wertschätzung. Der junge Klairant verwendet sich für einen Bauern, der um Audienz beim Vicomte bittet, was auf die zu diesem Zeitpunkt zwölfjährige, gerade aus der Klostererziehung auf das Gut ihres Vaters zurückgekehrte Klara, welche Zeugin der Szene wird, einen nachhaltigen Eindruck macht. Dazu schreibt der Erzähler: „Dies waren die ersten Fäden, woraus das Schicksal eine Liebe spann, die so lange dauern sollte als die Herzen dieser beiden Menschen schlugen.“247 (S. 28) Bald darauf heißt es jedoch: „[D]er ganze Eindruck, den sie auf einander gemacht hatten, hatte nur ihre Eitelkeit in Bewegung gesetzt“

(S. 30). Erst langsam entsteht (positiv gewertete) „Sinnlichkeit“, die allerdings noch keine „Liebe“ sei (vgl. dazu S. 58–61). Die sich dann allmählich entwi-ckelnde Liebe (vgl. S. 61–66) nimmt exaltierte Züge an, die jedoch bald wieder abklingen (vgl. S. 66–70). Nachdem der Vicomte die auf Betreiben Klairants organisierten nächtlichen Zusammenkünfte der beiden entdeckt und ihm eine Falle stellt, erklärt Klairant sich bereit, zum Militär zu gehen. Der Vicomte be-hauptet: „Die stärkste Liebe hat nicht Stärke genug ein Jahr ohne Nahrung zu leben“ (S. 120) Er schickt daher Klara zu einer Tante, wo die Liebe zu Klairant tatsächlich nachlässt (vgl. S. 121 f.). Der Erzähler erläutert dazu: „So waren etwa anderthalb Jahre vergangen, und diese heisse, ewige Liebe war in den wenigen

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247 [August Heinrich Julius Lafontaine]: Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschich-te Französischer EmigrierFamiliengeschich-ten. Von dem Verfasser des Rudolphs von Werdenberg. Berlin 1795, S. 28. Zitatnachweise im Folgenden unmittelbar im Anschluss an das Zitat im Haupttext. Da eine eingehende Darstellung hier nicht geleistet werden kann, werden im Folgenden ausge-wählte und repräsentative Textbeobachtungen wiedergegeben und mitunter ein Schwerpunkt auf den Beginn des Romans gesetzt, da dort die Informationsvergabe intensiver ist als im weiteren Verlauf.

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Tagen und mit ihnen verschwunden.“ (S. 124 f.) Bei Klairant hingegen ist es

„Eitelkeit“, die ihn in dieser Zeit an Klara festhalten lässt, sie macht ihn „treuer als seine Liebe“ (S. 133). Der Erzähler legt Wert darauf, verschiedene Schritte zu zeigen, in denen sich die Liebe allmählich entwickelt, und er betont, dass sie wieder nachlassen oder gar aufhören kann, zum Beispiel aufgrund räumlicher Trennung.

Ein erneutes Zusammentreffen nach der Trennung gibt der Liebe neue Nah-rung. Der von Beginn an auf verschiedene Weise und von allen Beteiligten the-matisierte Standesunterschied (vgl. z. B. S. 29–37, 87, 89, 93 f., 104, 105–119) ist beiden Anlass zu „Großmuth“, welche die Achtung steigert: „Ihr schien es eben so großmüthig, ihm treu zu bleiben, als es ihm schien, sie zu verlassen. Es war nichts als ein Streit der Großmuth zwischen Beiden: sie brachte das Opfer, er schlug es aus; und der großmüthige Jüngling gewann dadurch noch mehr bei Klaren.“ (S. 149) Im weiteren Verlauf ist es dann die gemeinsame Wohltätigkeit gegenüber armen Bauern, welche der Liebe der beiden „den ehrwürdigen Cha-rakter […] der Tugend“ verleiht (S. 155). Nach der Flucht des Vicomtes mit seiner Familie nach Deutschland geben die beiden in den Briefen, welche sie einander schreiben, Einblick in die weitere Entwicklung ihrer Liebe, die schließlich einen gefestigten und unverbrüchlichen Charakter annimmt. Klairant schreibt:

[M]eine Liebe hat an Stärke verloren. An Stärke, sage ich: ich denke nicht mehr mit der strebenden Unruhe an dich; ich zittere nicht mehr für dein Herz; ich erschrecke nicht mehr vor Zufällen. Meine Liebe ist ein ruhiger Selbstgenuß geworden. Ich bin jetzt deiner Liebe, deiner Treue, deiner ewigen Treue gegen mich so sicher, als ob ich deine Seele in meiner Brust trüge. Ich denke an dich mit der Empfindung, womit der Heilige an den Himmel denkt: mit einer so sichern, ruhevollen Gewißheit, als ob der Ewige unsre Liebe, unsre Verbindung zum Ziele, zur Bestimmung seiner Schöpfung gemacht hätte. Ich bin dein, Klara! (S. 398)

Charakterliche Wertschätzung und die Einbettung der Liebe in einen tugendhaf-ten Lebenswandel sind weitere Stationen ihrer Genese, bis schließlich ein reifes partnerschaftliches Verhältnis entsteht, das alle Exaltation hinter sich gelassen hat. Im Laufe der Handlung ist die Liebe verschiedenen Prüfungen ausgesetzt.

Es tritt ein Nebenbuhler auf, Graf Touai, der um Klaras Hand anhält, nachdem ihr Vater seine Güter verloren hat und die Familie in der Emigration mittellos ist (vgl. S. 339–348). Klairant rät ihr, Touai zu heiraten (vgl. S. 349 f.). Sie bleibt jedoch standhaft, trotz der materiellen Not ihrer Familie und obwohl sie zwi-schenzeitlich die Falschinformation erhalten hat, dass Klairant seinerseits die Verbindung mit ihr gelöst habe; am Ende gibt Touai auf, warnt den Vicomte, dass sein unnachgiebiges Verhalten ihn um seine Tochter bringen könne, und drängt ihn, die beiden heiraten zu lassen (vgl. S. 367–371 und 534–552). Die

Liebe, wie sie im Roman dargestellt wird, ist eine, die sich in Situationen ernst-hafter Gefährdung bewährt hat.

Ein besonders wichtiger Faktor für die Entwicklung der Liebe ist das Verhal-ten der Eltern von Klara. Sie geht den Einflüssen voraus, welche die Ereignisse um die Französische Revolution auf den Gang der Handlung haben. Der Erzäh-ler legt großen Wert darauf, dass Klaras Eltern durch (Fehl-)Verhalten entschei-dend zur Genese der Liebe und zum tragischen Ausgang beitragen. So ist es der Vicomte, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin Klara und Klairant bei einem Fest der Weinlese miteinander tanzen (vgl. S. 53–55). In einer anderen Situation führt er unbedacht körperliche Nähe der beiden herbei (er will die beiden anei-nander messen, um herauszufinden, wer größer sei, vgl. S. 67 f.). Beide Szenen befeuern die sich entwickelnde Liebe. Die gleiche Wirkung hat ein Verklei-dungsstreich, den Klairant anlässlich des Geburtstages von Klara auf Wunsch des Vicomtes spielt (vgl. S. 70–79). Der Erzähler schildert dessen Wirkung auf die beiden mit den Worten: „Der Bund war geschlossen.“ (S. 76) Klaras Mutter erreicht mit dem Versuch, ihre Tochter von der Verbindung mit Klairant abzu-bringen, bezeichnenderweise genau das Gegenteil (vgl. S. 100–106). Nach einer Trennung der beiden auf Veranlassung des Vicomtes und einem Wiedersehen ist es Klaras Mutter zuzuschreiben, dass die Liebe der beiden wieder erwacht.

Auf ihren Wunsch hin übernimmt Klairant die Rolle des Geliebten in einer Thea-teraufführung, bei welcher Klara die weibliche Hauptrolle spielt. Der Erzähler führt das auf die „Eitelkeit“ (S. 140) der Mutter zurück und erklärt, „Klarens Geschick wurde der Mode geopfert“ (S. 147). Liebe, so wird auf diese Weise na-hegelegt, ist nicht allein eine Sache dessen, was sich zwischen den Partnern abspielt, sondern kann, positiv oder negativ, durch das Verhalten Dritter beein-flusst werden, zumal der Eltern.

Als bedeutsam erweist sich die Mesalliance-Problematik, die im weiteren Verlauf das Verhalten des Vicomtes bestimmt. Klara lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass er sie nicht überzeugen kann. Über seine Weigerung, einer Heirat zuzustimmen, schreibt sie in einem Brief an Klairant: „Sieh, in allem, was mein Vater sagte, war doch auch nicht Ein Grund, eine scheinbare Ursach, wa-rum ich unsere Liebe verdammenswerth finden konnte. Er sagte: ich will es nicht, weil ich nicht will.“ (S. 378) Als am Ende deutlich wird, dass Klara einen Liebestod sterben wird, wenn ihr Vater ihr weiterhin das Zusammenleben mit Klairant versagt, mit dem sie mittlerweile verheiratet ist (vgl. dazu S. 613–617), erklärt er unumwunden und in Anspielung auf literarische Texte, die einen anderen Ausgang haben: „Wir sind hier nicht auf dem Theater, wo die ungehor-samen Töchter ihre störrischen Väter mit solchen Drohungen betrügen. Stirb du, wenn du nicht mit Ehre leben willst!“ (S. 606) Der Erzähler lässt keinen

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Zweifel daran, wie diese Haltung zu bewerten ist: „Unglücklicher Greis [Vicom-te], der du nicht glauben willst, daß es Herzen giebt, die man nicht nach den Regeln der Politik beurtheilen soll! Wie streng bestraft die Natur, deren All-macht du verlachtest, den einzigen Fehler, den du begingest, alles der Ehre zu geben, und nichts der Natur!“ (S. 609) Der Vicomte hat es zu einer Zeit, da es noch möglich gewesen wäre, seine Tochter umzustimmen, nicht geschafft, sie mit den erforderlichen Argumenten zu überzeugen. Der Erzähler führt das auf seine Missachtung der menschlichen Natur zurück und darauf, dass er lediglich ethische Maßstäbe anlegen kann, die sich aus der Standeszugehörigkeit erge-ben, und daher zu Fehleinschätzungen gelangt.

Sowohl der Erzähler als auch die beiden Hauptfiguren deuten die Liebe und ihre Genese in metaphysischen Kategorien, vor allem als „Schicksal“. Zu Beginn kündigt der Erzähler an, er werde „deine [Klairants] Schicksale“ erzählen (S. 4).

Am Ende des Romans bezeichnet er die Liebesgeschichte der beiden als

„Schicksal[]“ und empfiehlt „Ergebung in die Führung des Geschicks“ und „der Vorsehung zu danken“ als die angemessene Haltung, weil, wie die Geschichte der beiden zeige, „ihr Herz und ihre Liebe sie doch unendlich glücklich mach-te“, selbst wenn das Glück mit „Elend“ erkauft wurde (S. 619 f.). Über Klara heißt es an einer Stelle relativ zu Beginn: „Sie fühlte, ihr Schicksal war nun unauflöslich an seines gebunden.“ (S. 151) Klairant rät sie, sich dem Schicksal nicht zu widersetzen (vgl. S. 332 f.). Seine Entscheidung will sie jedoch als Schicksal akzeptieren (vgl. S. 348). Bald darauf ist sie sich sicher, dass „unser Schicksal […] entschieden“ sei: „Ich bin dein, ewig dein! nie eines andern!“

(S. 355) Klairant äußert sich in einem anderen Zusammenhang überzeugt vom Walten des Schicksals und der Möglichkeit, es korrekt zu erkennen: „Unser Schicksal, Klara, ist entschieden.“ (S. 527) Die Rede vom Schicksal ist geeignet, der Liebe eine existenzielle und für die Figuren nicht immer hinreichend durch-schaubare Dimension zu verleihen.

Zugleich wird immer wieder der zufällige Charakter der Liebesgeschichte betont. Relativ zu Beginn erläutert der Erzähler, die Liebe der beiden hätte „sich in sich selbst verzehren müssen, wenn nicht ein Zufall Beider Herzen und Phan-tasieen einen neuen und reichen Strom von Nahrung zugeführt hätte“ (S. 49).

Nach einer von Klaras Vater forcierten Trennung begegnen sie einander zufällig wieder (vgl. S. 124–137). Der Erzähler kommentiert eine andere Begebenheit mit den Worten: „Welche Kleinigkeiten können zu Entschlüssen bringen, die sonst Jahre nicht reif gemacht hätten! Klarens Eltern hätten noch immer ihres Kindes Liebe besiegen können; ein Zufall, und diese Liebe wird Vertrauen, reine Freundschaft; sie nimmt den Charakter an, der sie allein unüberwindlich macht.“ (S. 152) Klara gibt zu bedenken: „Ach, Klairant, wie seltsam sind unsre

Schicksale! welche Kleinigkeiten führten uns zusammen! welche Kleinigkeiten verknüpften Herzen so unzerreißbar fest! Ach, kann es nicht Schicksale geben, die uns hindern, je den Wunsch zu erreichen, mit einander zu leben? Ach, Klairant, ja, es giebt ein Zusammentreffen von Umständen, die es verhindern können, daß du je mein wirst.“ (S. 227 f.) Das, was sie als Schicksal wahrnimmt, beruht demnach auf „Kleinigkeiten“, die einen unterschiedlichen Ausgang bewirken können. Bisweilen kann man sogar den Eindruck haben, dass

„Schicksal“ und „Zufall“ synonym verwendet werden. Der Erzähler bemerkt an einer Stelle: „Eine Reise von einem Jahre würde den ganzen Handel geendigt haben. Das Schicksal hatte es anders bestimmt. An welchen Zufällen hängt Himmel und Hölle auf Erden!“ (S. 66) Die beiden Hauptfiguren sind sich mitun-ter unsicher, was der Fall ist. Klairant räsoniert in einem Brief an Klara über

„Vorsehung“ und das Wirken des „blinde[n] Zufalls“ (S. 326), in einem anderen über „Allmacht“ und „den blindesten Zufall“ (S. 452). Auf diese Weise wird zu verstehen gegeben, dass Liebe und ihre Genese zwar für den Einzelnen existen-ziell und undurchschaubar sein mag, aber von klar benennbaren Faktoren ab-hängt – neben dem bereits behandelten Verhalten Dritter kann schlichte Kon-tingenz eine Rolle spielen.248 Liebe mag daher, so scheint es, unberechenbar sein, zumindest potenziell ist sie aber menschlicher Kontrolle und Steuerung zugänglich.

Die Liebe der beiden und ihr Verhalten ist stets so, dass in der zeitgenössi-schen Wahrnehmung höchste ethische Standards eingehalten werden. Klaras

„jungfräuliche Scham“ hält sie „mehr als Ueberlegung, oder Furcht vor dem Unrecht“ davon ab, aktiv heimliche Zusammenkünfte zu arrangieren (S. 88 f.).

Sie erklärt Klairant, „die Tugend hat unsre Herzen vereinigt“ (S. 106). Jeglicher Eindruck von Frivolität soll vermieden werden. Als es im Gefolge der Französi-schen Revolution am Schauplatz der Handlung zu bäuerlichen Unruhen kommt, ist es das Eingreifen Klairants, das die Familie des Vicomtes rettet und verhindert, dass deren Schloss geplündert und niedergebrannt wird (vgl. S. 177–

191). Hier stellt Klairant seinen „Edelmuth“ unter Beweis, indem er die Situation nicht ausnutzt, um den Vicomte dazu zu zwingen, seiner Heirat mit Klara zuzu-stimmen, obwohl es möglich wäre (vgl. S. 187 f., dazu S. 185 und bereits S. 164 sowie aus Klaras Sicht S. 217). Am Ende der Geschichte willigt zumindest Klaras Mutter in die Heirat ein (vgl. S. 575–577), die dann mit priesterlichem Segen

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248 Vgl. zum Verhältnis von Liebe und Zufall in den Romanen Lafontaines aus systemtheore-tischer Perspektive Gunhild Berg: Zur Trivialität der Liebe. Die semantische Codierung von Unwahrscheinlichkeiten in August Lafontaines Liebesromanen. In: Berghahn/Sangmeister:

August Lafontaine (1758–1831), S. 165–181.

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geschlossen wird (S. 580 f.). Die beiden setzen sich nicht über den elterlichen Willen hinweg oder nur im äußersten Falle. Sie führen danach kurzzeitig bis zu ihrer Entdeckung durch den Vicomte ein abgeschiedenes, gesellschaftsfernes und ‚bürgerliches‘ Leben (vgl. S. 582–585, dazu bereits z. B. S. 152–155 und 234 f.

sowie 238), bei dem „jedes kleine Geschäft […] ein reizendes Fest der Liebe“ ist (S. 584). Sie erkennen indirekt an, dass die Realisierung einer standesübergrei-fenden Heirat in der Ständegesellschaft im Prinzip nicht möglich ist und für Klara einen sozialen Abstieg bedeutet. Beides wird jedoch aufgewogen durch ein ‚alltägliches‘ Glück.

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass die Liebesgeschichte um Klara und Klairant begleitet wird von einer Hochschätzung von Ehe und Nachkommenschaft, die am Prior, einer Nebenfigur und Onkel von Klairant, gezeigt wird. Über ihn wird berichtet: „Nie hatte wohl der Aberglauben einem Manne mit mehr Unrecht verboten Vater zu seyn, als dem Prior der Abtei; denn kein Mann auf der Welt liebte Kinder so sehr, und hatte die Liebe aller Kinder in einem so hohen Grade, als der Prior.“ (S. 4) Er schätzt Mutterschaft und Ehe, lehnt den Zölibat ab (vgl. S. 5) und stiftet Ehen (vgl. S. 5 f.), etwa die Liebeshei-rat zwischen den Eltern von Klairant (vgl. S. 6–11). Bevor Klara und Klairant einander das erste Mal begegnen, sagt ihr Bruder, mit dem Klairant freund-schaftlich verbunden ist: „O, du wirst sie [Klara] lieben, mein Klairant; gewiß du wirst sie lieben! […] und dein Oheim soll doch einmal sehen, was er so sehr zu sehen wünscht, und was er für das achte Wunder der Welt hält, eine Familie, die ganz einig durch Liebe und Vertrauen ist.“ (S. 18) Der Erzähler macht gleich zu Beginn deutlich, dass die Ehe als einzig legitime Institution anerkannt wird.

Die Wertschätzung erstreckt sich auf einen ihrer vorrangigen Zwecke, die Pro-kreation.

Ähnlich wie bei Millers Siegwart weist der Text eine Beschaffenheit auf, die dazu geeignet ist, das Ausgesagte eindeutig und leicht verständlich erscheinen zu lassen. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist der Erzähler sehr präsent, er kom-mentiert und wertet, ordnet ein und erläutert. Besonderes Gewicht kommt dem

‚analytischen‘ Charakter des Romans zu. Bereits am Beginn ist klar, dass die Geschichte um Klara und Klairant, die relativ bald als Liebesgeschichte erkenn-bar ist, ein unglückliches Ende nehmen wird. Die Frage ist dann nicht mehr ob, sondern wie es dazu kommt. Damit wird die Aufmerksamkeit von Beginn an auf die Genese gelenkt und auf die Frage, wie und warum die Geschichte so aus-geht. Außerdem arbeitet der Erzähler, der, so die Fiktion, die Geschichte aus Klairants Mund gehört hat und über ein umfassendes Wissen darüber verfügt, verschiedentlich mit Vorausdeutungen. Über weite Strecken wird die Handlung des Romans durch Briefe vermittelt, welche Klara und Klairant einander

schrieben hatten und die der Herausgebererzähler angeblich einsehen und abschreiben konnte. Der Roman arbeitet mithin mit einer Authentizitätsfiktion.

Der Erzähler ist Teil der erzählten Welt und zum Ende hin am Geschehen betei-ligt; verschiedentlich wird insinuiert, dass die Begebenheiten sich tatsächlich so zugetragen haben (vgl. insbesondere S. 1–4 und 595–602 sowie 619 f.).

Die Mesalliance und der zeitgeschichtliche Bezug haben benennbare, do-minante Funktionen. Die Liebe einer Adligen zu einem Bauernsohn vor dem Hintergrund der Französischen Revolution dient dazu, auf neue und interessan-te Weise und mit gesinteressan-teigerinteressan-tem Rührungspointeressan-tenzial eine Liebesgeschichinteressan-te zu erzählen. Überhaupt ist die Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse eher mit Emotionen verbunden als mit politischen Aussagen. Gleich zu Beginn positio-niert sich der Erzähler in der zeitgenössisch kontrovers diskutierten Frage, ob die adligen französischen Emigranten in Deutschland Mitleid verdienen: „Man kann ihnen sein Mitleid nicht versagen.“ (S. 1) Diese Einstellung empfiehlt er insbesondere für Klairant (vgl. dazu S. 1–4). Zwar werden Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Französischen Revolution stehen, verschiedentlich thematisiert und bewertet, von den Figuren ebenso wie von dem Erzähler (vgl.

z. B. S. 177, 238–240, 248, 268, 403 f., 481–483, 485 f., 527 f.). Aber selbst die erwähnten Einlassungen gegen das Standesbewusstsein des Vicomtes haben die Funktion, den Charakter der Liebe herauszustellen. Das, was der Erzähler am Beginn des Romans über den Inhalt sagt, kann als Leseanweisung dienen und geht in eine andere Richtung: Er schildere die „kleinen unbedeutenden Begebenheiten des häuslichen Lebens, welche durch Liebe und Freundschaft so bedeutend, so rührend werden“ (S. 4). Die emotionale Wirkung und das Interes-se an einer innovativen, in manchen Hinsichten spannenden Liebesgeschichte können sich, so wäre zu vermuten, durchaus verselbständigen gegenüber der Darstellung einer Liebeskonzeption und ihrer Applikation. Es besteht jedoch kein Widerspruch. Der Roman kann aufgrund seiner Beschaffenheit unter-schiedlich rezipiert werden.

Liebe ist, so zeigt es der Roman, bei aller Emphase etwas, das die Akteur/-innen in einem gewissen Maße und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durch-aus selbst in der Hand haben, steuern und kontrollieren können. Aufgrund der Beschaffenheit des Textes lässt sich sagen, dass der Roman plausiblerweise als Umsetzung der Konzeption und Intention aufgefasst werden kann, die Lafon-taine für (gute) Romane formuliert hat. Wenn dem so ist, dann bedarf es in der Tat der Applikation durch die Rezipientinnen, um die Funktion, die Lafontaine vorsieht, zu realisieren. Die Leserinnen müssen das im Roman über Liebe und ihre Entwicklung Gesagte nicht allein verstehen, sondern auf ihre Lebenswelt und nicht zuletzt sich selbst beziehen: Handelt es sich um eine Konzeption von

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Liebe, die in ihrer Art und mit Blick auf ihre Entstehung und Entwicklung als

Liebe, die in ihrer Art und mit Blick auf ihre Entstehung und Entwicklung als