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Der Umgang mit Emotionen

3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.1 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

3.1.5 Der Umgang mit Emotionen

Natur, zur Kindheit als Lebensalter, zur Produktion von Kunst und zur Literatur.

Wie im nächsten Unterkapitel zu behandeln sein wird, hat er zudem eine emoti-onal bestimmte Sicht auf die Welt, was Schlettwein, wie gesehen, gleichfalls kritisierte. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die religiösen Aussagen Werthers, die Gegenstand der Kritik von Schlettwein und Dilthey sind. Der Werther in ihren Schriften widerspricht direkt oder indirekt manchen Aussagen aus Goethes Roman. Dort ist Werther davon überzeugt, nach seinem Tode bei einem Gott zu sein, der ihn wie ein Vater gütig aufnimmt. Er meint, Lotte wie-dersehen und mit ihr glücklich vereint sein zu können (vgl. S. 250, dazu S. 188/190). Beides ist, wie gesehen, bei Schlettwein und Dilthey nicht der Fall.

3.1.5 Der Umgang mit Emotionen

In einem Teil der Rezeptionsdokumente war der Roman Anlass zu Aussagen über das Verhältnis von rationalen Vermögen und Emotionen oder, zeitgenös-sisch ausgedrückt, ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ auf der einen Seite und ‚Empfin-dungen‘ und ‚Leidenschaften‘ auf der anderen Seite. Es ging um die Sachfrage, ob es nicht-triviale Fälle geben kann, in denen die Gefühle trotz besserer Ein-sicht unvermeidlich die Oberhand gewinnen. Sie wurde erwartungsgemäß un-terschiedlich beantwortet. Außerdem ging es um den angemessenen Umgang mit Emotionen.

Ein gutes Beispiel für eine Position, die in dieser Sache eingenommen wur-de, bietet die Schrift Etwas über die Leiden des jungen Werthers. Der Verfasser versuchte, den Vorwurf zu entkräften, dass Werther unzulässigerweise die Frau eines anderen liebe, indem er als Argument anführte, dass die Leidenschaften stärker sein können als die Vernunft: „Weiß man denn aber nicht, daß auch der tugendhaft’ste ein Mensch ist, bis an sein Ende schwach und fehlbar bleibt, und von seinen Leidenschaften hintergangen oder überlistet wird? Unsre Vernunft kann nur schwache, aber nicht starke Leidenschaften [wie die Liebe] hem-men.“115 Heinrich Leopold Wagner empfahl in seiner Besprechung in den Frank-furter gelehrten Anzeigen eine von Mitleid geprägte Lektürehaltung, bei der man anerkennt, „daß er [Werther] in seinen Umständen, bey seiner empfindungsvol-len Denkungsart, gerade so [habe] handeln müssen“.116 Diese beiden Aussagen verweisen indirekt auf mögliche Applikationen. In dem ersten Fall kann die Lektüre des Romans bestehende Überzeugungen verstärken, in dem zweiten

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115 [Bertram oder Hymmen]: Etwas über die Leiden des jungen Werthers, S. 13.

116 [Wagner]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 733.

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Fall soll die Überzeugung gebildet werden, dass eine wie Werther disponierte Person aufgrund ihrer Gefühle nicht anders handeln könne. Deutlicher wird die Applikation in einer weiteren Quelle. Der Verfasser einer Besprechung in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur sah in dem Roman

„die allervortreflichste Erläuterung durch ein Beispiel von dem Satze: Die Men-schen werden zu ihren jedesmaligen Handlungen durch die zusammengesezte Wirkung der Umstände und ihres Charakters unwiderstehlich bestimt.“117 Zu-gleich stelle er „die kräftigste Widerlegung“ all jener dar, die von einer „Freiheit des Menschen“ ausgehen.118 Er soll demnach sogar beweisen, dass eine be-stimmte Auffassung von menschlicher Freiheit nicht haltbar ist. Bei diesen Aus-sagen über die Bedingtheit menschlichen Handelns wird vorausgesetzt, dass Gefühle eine wichtige und determinierende Rolle spielen. In dieser Hinsicht kann das Gelesene zur Ausbildung von Überzeugungen führen und damit ap-pliziert werden.

Der Roman ermöglichte somit Applikationen: Zu sagen, dass die fiktive Fi-gur Werther ihren Emotionen unterliege, ist eine Aussage über die Motivierung des Figurenhandelns, die durch den Text hinreichend gedeckt ist. Werther selbst und der Herausgebererzähler lassen daran keinen Zweifel. Das im Roman Geschilderte jedoch zum Anlass zu nehmen, darüber nachzudenken, ob der-gleichen in der realen Welt der Fall sein kann, führt zu einer positiven oder negativen Applikation, je nachdem, ob man zu dem Schluss kommt, dass es sich tatsächlich so verhält oder eben nicht. Dabei geht es dann um eine Relation zwischen dem im Text Dargestellten mit dem Publikum in seiner lebensweltli-chen Situation.

Es gab also die zeitgenössische Vorstellung, dass der Roman solche kogni-tiven Applikationen ermögliche, bei welchen der im Roman dargestellte Um-gang mit Emotionen als lebensweltlich zutreffend galt und es als unausweich-lich angesehen wurde, dass Werther seinen Gefühlen unterliegt. Eine aufklärerische Gegenposition zur letztgenannten Applikation formulierte Garve in einer als Briefauszug bezeichneten Schrift, die 1775 in Der Philosoph für die Welt erschien. Dort bekundete er seine Zustimmung zu manchen Ansichten Werthers, wies allerdings darauf hin, dass „Verhütung der Leidenschaft“ erfor-derlich sei.119 Daran anschließend kritisierte er „Werthers Empfindungen“ als

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117 [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deut-schen Litteratur. Bd. 8 (1775), S. 502.

118 Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deut-schen Litteratur. Bd. 8 (1775), S. 502.

119 [Garve]: Aus einem Briefe, S. 27.

„überspannt“.120 Ihm fehle „allgemeines Menschengefühl“; ein Umstand, der wesentlich dazu beitrage, dass er am Ende Selbstmord begeht.121 Von dem „Sys-tem von Ideen und Empfindungen […], das nach ihrer [der Menschen] Natur mit der Wahrheit und der Beschaffenheit des Ganzen am genauesten überein-kömmt“, und nachdem man zeitgenössisch strebe, ist Werther nach seiner Mei-nung weit entfernt.122 Man kann und soll, so Garve, anders mit Gefühlen umge-hen, als Werther dies tut – und soll das Gelesene nicht oder negativ applizieren.

Eine ähnliche Position wie Garve vertrat Johann Christian Riebe in Ueber die Leiden des jungen Werthers. Gespräche. Die Schrift von 1775 ist ein philosophi-sches Streitgespräch zwischen Alcimor und Philanthropos, wobei bereits der sprechende Name von Letzterem nahelegt, wessen Position sich am Ende durchsetzen wird. Den Ausgangspunkt bildet eine strittige Behauptung von Alcimor: „Werther hatte Recht, konnte es nicht anders, mußte es so machen, und seine That ist groß; denn die Quelle, woraus sie kam, war edel, – reine, unschuldige Liebe.“123 Am Ende muss er sich allerdings von den besseren Ar-gumenten überzeugen lassen, die Philanthropos anführt. Man kommt zu dem Schluss: „Es war also immer seine [Werthers] Schuld, daß er die Leidenschaft so sehr anwachsen ließ“, wie es an einer Stelle heißt.124 Im Rahmen der ausführli-chen Diskussion, die vielfältig auf die aufklärerische Anthropologie Bezug nimmt, erläutert Philanthropos, wie man „Empfindungen bey [sich] schwä-chen“ kann, wie „neue Empfindungen“ an die Stelle der alten treten können, etwa durch „Zerstreuungen, Gesellschaften, Reisen, Lektüre“, und wie die Ein-bildungskraft beruhigt werden könne.125 Man kann und soll demnach anders mit Gefühlen umgehen als Werther und kann das Gelesene in dieser Hinsicht kogni-tiv und ethisch applizieren. Die Applikation hingegen, dass man nicht anders handeln kann als Werther, wird begründet als unzulässig angesehen. Nicolai kritisierte sowohl Riebes Auffassung als auch die des Verfassers von Etwas über die Leiden des jungen Werthers in der Allgemeinen deutschen Bibliothek als ein-seitig.126

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120 [Garve]: Aus einem Briefe, S. 21.

121 Vgl. [Garve]: Aus einem Briefe, S. 22 (hier auch das Zitat) und S. 29 f.

122 [Garve]: Aus einem Briefe, S. 23.

123 [Johann Christian Riebe]: Ueber die Leiden des jungen Werthers. Gespräche. Berlin 1775, S. 7.

124 [Riebe]: Ueber die Leiden des jungen Werthers, S. 53 f.

125 [Riebe]: Ueber die Leiden des jungen Werthers, S. 24, 26 und 51 f.

126 Vgl. [Friedrich Nicolai]: [Rezension von sechs Werther-Schriften]. In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 26, St. 1 (1775), S. 105–108, hier S. 106.

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Rezeptionsdokumente wie die von Garve und Riebe scheinen von der Vor-stellung auszugehen, dass man aufgrund der Lektüre des Romans zu falschen Einsichten kommen kann hinsichtlich des Einflusses, den Emotionen auf das Handeln haben, und hinsichtlich der Art und Weise, wie man mit Gefühlen umgehen kann und soll. Es geht nicht zuletzt darum, eine in der Wahrnehmung der Verfasser mögliche kognitive Applikation zu korrigieren: Rezipient/-innen sollen aufgrund der Lektüre des Romans nicht annehmen, dass Emotionen derart einflussreich sind und man mit ihnen nur so umgehen kann wie Werther.

Ähnlich stellt sich die Sache dar in Peter Wilhelm Henslers Satire Lorenz Konau. Ein Schauspiel in einer Handlung.127 Zentrales Thema des in den Zusam-menhang der zeitgenössischen Kritik an ‚Empfindelei‘ gehörenden Dramas ist der negative Einfluss der Lektüre empfindsamer Schriften, insbesondere von Goethes Roman, auf junge Menschen, vor allem Mädchen. Empfindsamkeit und empfindsames Gebaren werden karikiert, sie machen lebensuntüchtig und ver-hindern ethisch integres Handeln, wie eine einfache Handlung demonstriert, die um die Frage kreist, wer wen heiraten soll. Deutliche Zustimmung erhielt das Drama von einem Rezensenten im Beytrag zum Reichs-Postreuter. Der Ver-fasser habe in einer Zeit, in der „man alles aufs Gefühl reduciren will“ und in der „das Gefühl öfters mit der Vernunft davonläuft“, den Mut besessen, „diesem unsinnigen Gewäsche wahre Empfindung, gesunde Vernunft entgegenzuset-zen“.128 Goethes Roman, so die Auffassung, vermittle eine falsche Sicht auf Emo-tionen und den Umgang mit ihnen. Gegen solche ApplikaEmo-tionen ist die Schrift von Hensler gerichtet. Sie soll eine Negativ-Applikation des Romans bewirken und Anlass sein zu anderen.

Blankenburg macht die auf den Umgang mit Gefühlen abzielenden Applika-tionen besonders deutlich: „Beyträge zur richtigen Ausbildung und Lenkung der Empfindungen, könnt ihr aus Dichtern am gewissesten, und allein aus ihnen erhalten“.129 Er meinte, dass der Roman zeige, wie Gefühle entstehen, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen und welche Wirkungen sie haben können. Das Publikum soll außerdem, anders als in den eingangs zitierten Quellen, zu dem Ergebnis kommen, dass man sich prinzipiell anders verhalten kann als Werther. Das ist eine erste, kognitive Applikation. Die Leser/-innen

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127 Vgl. [Peter Wilhelm Hensler]: Lorenz Konau. Ein Schauspiel in einer Handlung. Altona 1776.

128 [Anon.]: [Rezension von Hensler: Lorenz Konau]. In: Beytrag zum Reichs-Postreuter.

28. März 1776. Zitiert nach Braun: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen, S. 254–258, hier S. 254 f.

129 [Blankenburg]: [Abhandlung über Goethe: Werther], S. 92 f.

sollen das Gelesene als realweltlich zutreffend ansehen und darauf bezogene Überzeugungen bilden. Darauf aufbauend ermöglicht der Roman eine ethische Applikation: Der Roman könne zu der Einsicht führen, wie man Gefühle richtig kultiviert und wie man sie angemessen kontrolliert. Damit das geschehen kann, muss das Publikum erkennen, dass Werther sich in dieser Hinsicht nicht ratsam und richtig verhält, und zur Einsicht gelangen, wie man sich angemessener und damit besser verhält. Das ist eine reflektierte, relativ komplexe Applikation, bei welcher das im Roman Dargestellte als Negativ-Beispiel fungiert, aus dem man die richtigen Schlüsse ziehen und sie umsetzen soll. In diese Richtung gehen auch die Aussagen von Garve und Riebe.

Die Möglichkeit, das Gelesene mit Blick auf den eigenen Umgang mit Gefüh-len zu applizieren, sah auch Lenz. Er erklärte auf Grundlage anderer poetologi-scher Überzeugungen in seinen 1774/1775 entstandenen Briefen über die Morali-tät der Leiden des jungen Werthers: „Eben darin besteht Werthers Verdienst daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters.“130 Ähnlich liegt der Fall bei Wieland. In einer Bespre-chung, die im Dezember 1774 im Teutschen Merkur erschien, gab er sich über-zeugt, dass der Roman am „Beyspiele“ des Protagonisten zeige, „daß ein allzu-weiches Herz und eine feurige Phantasie oft sehr verderbliche Gaben sind“.131 Diese Auffassung wurde bisweilen soweit ausgedehnt, dass dem Roman auf der Grundlage der überkommenen Affektpoetik eine abschreckende Wirkung zuge-sprochen wurde.132 Dem Roman wurde also, ähnlich wie bei Blankenburg, die Eignung zugeschrieben, über Gefühle aufzuklären und zum richtigen Umgang mit ihnen anzuleiten, was insbesondere heißt, sich anders zu verhalten als Werther und Gefühlen nicht den dominanten Stellenwert zuzubilligen, welchen er ihnen im Roman einräumt.

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130 Lenz: Briefe über die Moralität, S. 682. Vgl. zu diesem Rezeptionsdokument Gille: Lectio und applicatio, S. 188–191; und Roland Krebs: Lenz’ Beitrag zur Werther-Debatte. Die ‚Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers‘. In: Aufklärung 10 (1998), S. 67–79.

131 [Wieland]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 242.

132 Vgl. dazu z. B. [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Staats- und Gelehrten Zei-tung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten. 26. Oktober 1774. Zitiert nach Braun: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen, S. 98 f., hier S. 98; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Magazin der deutschen Critik. Bd. 4, T. 1 (1775), S. 65. Vgl. dort auch die Besprechung von Nicolais Freuden des jungen Werthers, wo Goethes Roman als „ein warnendes Beyspiel“ und als „sehr moralisches Buch“ bezeichnet wird – [Anon.]: [Rezension von Nicolai:

Freuden des jungen Werthers]. In: Magazin der deutschen Critik. Bd. 4, T. 1 (1775), S. 69.

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Neben dieser auf Überzeugungen und ethische Einstellungen bezogenen Sachfrage interessierte die konkrete Frage, welchen praktischen Nutzen man aus den Einsichten ziehen kann, die der Roman eröffnet. Blankenburg verwies auf eine weiterreichende Applikation, die von literarischen Texten wie Goethes Roman ausgehen könne und die sich in seiner Vorstellung mit handlungsprak-tischen Möglichkeiten verbindet. Die Lektüre könne nicht nur dabei helfen, Emotionen zu erkennen, zu kultivieren und zu kontrollieren, sondern auch lebensweltliche Orientierung in Fragen der richtigen Erziehung geben. Er schrieb über „den wichtigsten Nutzen“ des Romans:

Wir sind auf die anschauendeste Art, mit dem menschlichen Herzen überhaupt und be-sonders mit alle den Eigenthümlichkeiten eines empfindsamen Herzens bekannt gemacht worden, indem wir Werthers ganze Denk- und Empfindungsart vor unsern Augen gleich-sam werden und wachsen sahen; und Aeltern, Lehrer, die ihr Kinder, Untergebene habt, aus welchen ihr diese höhere Empfindung hervortreten seht, nehmet nicht der weich ge-schaffenen Seele die Kraft weiter zu gehen, durch Uebung stärker zu werden; fesselt sie nicht! tödtet sie nicht! aber seht an dem unglücklichen W[erther] welchen Weg sie neh-men kann; und lernt, mit der genauen Kenntniß ihres Gangs an ihm, sie desto besser und sicherer leiten. Wer kann sichrer führen, als der alle Abwege kennt? Ihr werdet, wann ihr, wie ihr es sollt, auch auf die allerkleinsten Bewegungen Acht habt, jetzt auch die kleinste Verwirrung gewahr werden, und den ersten Schritt zum Verderben entdecken können;

und wenn es euch nun hier gezeigt wird, wie ihr euer Kind, euern Schüler auf die beste Art zurück bringen sollt: ist nicht die erlangte Kenntniß, das Wichtigste bey der Sache? und könnt ihr hier mehr erwarten?133

Der Roman kann also in seiner Wahrnehmung nicht allein auf die eigene Per-son, die subjektiven Überzeugungen und Einstellungen bezogen und appliziert werden, sondern auch Konsequenzen dafür haben, wie man, etwa in der Rolle als Elternteil oder Erzieher, die Genese und Ausbildung von Gefühlen bei Kin-dern angemessen begleitet und ihnen den richtigen Umgang mit Emotionen vermittelt.

Die soeben dargestellten (Negativ-)Applikationen kommen nicht von unge-fähr, wie ein Blick auf die Beschaffenheit des Textes und das daraus resultie-rende Applikationspotenzial zeigt. An einer Schlüsselstelle des Romans, einem Streitgespräch zwischen Albert und Werther über den Selbstmord, geht es um das Verhältnis von, wie es im Roman heißt, „Verstand“ und „Leidenschaft“

(vgl. S. 92/102; am 12. Aug.).134 Werther selbst wirft die letztlich zentrale Frage

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133 [Blankenburg]: [Abhandlung über Goethe: Werther], S. 92.

134 Die Forschung hat diesem Umstand nicht immer Rechnung getragen. Einer der eher ver-einzelten expliziten Befunde dazu besteht darin, dass in der zeitgenössischen Rezeption „aus Goethes Werther scharfsichtig eine problematische Leitformel der Epoche, nämlich die

des Romans auf, während Albert als Kontrastfigur fungiert. Albert macht gel-tend, dass jemand, den seine „Leidenschaften“ hinreißen, nicht zurechnungs-fähig sei, was Werther zu mit biblischen Anspielungen verbundenen Einlassun-gen geEinlassun-gen in seiner Wahrnehmung heuchlerische EinstellunEinlassun-gen dieser Art veranlasst (vgl. S. 94/96).135 Albert beharrt darauf, dass Selbstmord eine

„Schwäche“ sei (S. 96). Werther hingegen meint, dass es sich ähnlich verhalte wie bei einer Krankheit, und erklärt: „Die menschliche Natur […] hat ihre Grän-zen, sie kann Freude, Leid, SchmerGrän-zen, bis auf einen gewissen Grad ertragen, und geht zu Grunde, sobald der überstiegen ist.“ (S. 98) Um den Sachverhalt zu verdeutlichen, erzählt er den Fall einer jungen Frau, die aus Verzweiflung ob einer unglücklichen Liebe Selbstmord begangen habe (S. 98/102). Albert ver-weist auf die Rolle des Verstandes, was Werther zu der Behauptung veranlasst, dass der „Verstand“ gegen die „Leidenschaft“ nichts auszurichten vermöge:

„Der Mensch ist Mensch, und das Bißgen Verstand das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüthet, und die Gränzen der Menschheit einen drängen“ (S. 102). Das, was Gegenstand der dargestellten Applikationen ist, wird im Roman selbst explizit thematisiert und es wird offen-gelassen, welche der beiden Auffassungen zutrifft.

Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Brief am 1. Juli (vgl. S. 60/70), in welchem Werther sich im Gespräch mit einem alten Pfarrer über die „üble Laune“ äußert (S. 64). Er bezeichnet sie als „Krankheit“ (ebd.) und „Laster“

(S. 66). Dem Einwand einer Nebenfigur, „daß man nicht Herr über sich selbst sey, und am wenigsten über seine Empfindungen gebieten könne“ (ebd.), be-gegnet er mit den Worten: „Es ist hier die Frage von einer unangenehmen Emp-findung, […] die doch jedermann gern los ist, und niemand weis wie weit seine Kräfte gehn, bis er sie versucht hat.“ (ebd.) Es folgt ein emphatisches, ihn selbst emotional sehr bewegendes Plädoyer gegen die „üble Laune“ (vgl. S. 66/68), das Lotte im Anschluss dazu veranlasst, ihn zur Mäßigung zu ermahnen: „Und

|| Parole von Vernunft und Leidenschaft, von Geist und Körper, von ‚Kopf und Herz‘ herausgele-sen und als Treibsatz des Geschehens einer Liebesgeschichte in einem Roman erkannt wurde, wie er zuvor noch nicht geschrieben worden war“. Dazu wird festgestellt: „‚Herz und Kopf‘:

Dies ist die Formel, die lakonisch den Konflikt bezeichnet, aus dem die Ereignisse des Romans erwachsen.“ – Gerhard Neumann: „Heute ist mein Geburtstag“. Liebe und Identität in Goethes Werther. In: Waltraud Wiethölter (Hg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen/Basel 2001, S. 117–143, hier S. 118 und 119.

135 Umfassend zu den biblischen Bezügen des Romans vgl. Hans-Jürgen Schrader: Von Patri-archensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes Werther. In: Johannes Anderegg/Edith Anna Kunz (Hg.): Goethe und die Bibel. Stuttgart 2005, S. 57–88.

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wie sie mich auf dem Wege schalt, über den zu warmen Anteil an allem! und daß ich drüber zu Grunde gehen würde! Daß ich mich schonen sollte!“

(S. 68/70). Die Mahnung billigt er ausdrücklich: „O der Engel! Um deinetwillen muß ich leben!“ (S. 70) Es zeigt sich: Werther hat die rationale Überzeugung, dass man gegen „üble Laune“ etwas tun und im Prinzip Herr über sie werden kann. Lotte gibt ein Beispiel dafür: „[I]ch glaube wenigstens, daß viel von uns abhängt, ich weis es an mir, wenn mich etwas nekt, und mich verdrüßlich ma-chen will, spring ich auf und sing ein paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist’s weg.“ (S. 64; am 1. Juli) Die ‚üble Laune‘ verurteilt Werther mit star-ken Worten. Sein Verhalten in der besagten Situation zeigt jedoch, dass er seine Gefühle nicht ohne Weiteres im Griff hat. Sein eigenes emotionales Erleben dementiert, zumindest für seinen eigenen Fall, diese Möglichkeit. Seine eigenen Kräfte gehen, so zeigt sich im weiteren Verlauf, nicht so weit, dass er seine Emo-tionen steuern kann. Explizite Thematisierung und Diskrepanz zwischen Sagen und Verhalten machen die für den Roman grundlegende Problematik deutlich.

Dafür ließen sich weitere Beispiele anführen, bei denen jeweils gezeigt wird, wie in Werthers Fall die „Leidenschaften“ über den „Verstand“ siegen.

Applikationen, die auf den Umgang mit Gefühlen abheben und auf ihr Ver-hältnis zu rationalen Vermögen, weisen somit eine hohe Passung mit dem Ap-plikationspotenzial des Textes auf. Daraus ergibt sich ein Bezug zu den histori-schen Gegebenheiten der Epoche der Aufklärung, an die zumindest kurz zu erinnern ist. ‚Vernunft‘ ist bekanntlich ein Leitbegriff der Aufklärung, die Kulti-vierung des Verstandes und seiner Vermögen gehört zu den wichtigsten

Applikationen, die auf den Umgang mit Gefühlen abheben und auf ihr Ver-hältnis zu rationalen Vermögen, weisen somit eine hohe Passung mit dem Ap-plikationspotenzial des Textes auf. Daraus ergibt sich ein Bezug zu den histori-schen Gegebenheiten der Epoche der Aufklärung, an die zumindest kurz zu erinnern ist. ‚Vernunft‘ ist bekanntlich ein Leitbegriff der Aufklärung, die Kulti-vierung des Verstandes und seiner Vermögen gehört zu den wichtigsten