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Auswirkungen auf das Verhalten

3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.1 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

3.1.3 Auswirkungen auf das Verhalten

bensweltliche Relevanz begünstigte und beförderte, so lässt sich vermuten, Applikationen wie die dargestellten.

3.1.3 Auswirkungen auf das Verhalten

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Selbstmord im Roman ist die speziel-lere Form der allgemeinen und sachlich eng damit verbundenen Frage, ob und wie der Roman das Verhalten (jugendlicher) Leser/-innen negativ beeinflussen, das Gelesene also auf diese Weise appliziert werden konnte. Der Selbstmord spielt auch hierbei eine wichtige Rolle, er ist jedoch eingebettet in eine Betrach-tung von Werthers gesamtem Denken und Handeln, das als verfehlt angesehen wird. Wohl am prominentesten wurde eine solche Sicht in drei Beiträgen vertre-ten, die am 21. März, 4. und 7. April 1775 in den Freywilligen Beyträgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit erschienen und noch im selben Jahr als Separatdruck veröffentlicht wurden.79 Es überrascht nicht, dass die Verfasser, Christian Ziegra und Johann Melchior Goeze, theolo-gisch begründete Vorbehalte geltend machten. Werthers Verhalten gegenüber Lotte betrachteten sie als Ehebruch, seinen Selbstmord als Verstoß gegen das Tötungsverbot.80 Das eigentliche Anliegen war jedoch ein pädagogisches oder seelsorgerisches. Sie befürchteten, dass der Roman junge Männer dazu bringen könne, „die Denkungsart des Werthers anzunehmen, in seine Fußstapfen zu treten, und wenn sie die unsinnigen Leidenschaften ihres Herzens nicht sätti-gen können, Hand an sich selbst zu lesätti-gen“.81 Der Roman animiere demnach dazu, Werthers Denken und Handeln zu übernehmen, den eigenen „Leiden-schaften“ zu folgen und Selbstmord zu begehen. Mit anderen Worten: Das Gele-sene könne in kognitiver und ethischer Hinsicht appliziert werden und die so gewonnenen Überzeugungen handlungsleitend wirken. Die Befürchtung

ver-||

79 Vgl. [Christian Ziegra/Johann Melchior Goeze]: Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, über eine Recension derselben, und über verschiedene nach-her erfolgte dazu gehörige Aufsätze. Aus den Freyw. Beytr. zu den Hamb. Nachr. aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, um solche gemeinnütziger zu machen, besonders abgedruckt. Ham-burg 1775. Der Beitrag vom 21. März 1775 wird Christian Ziegra zugeschrieben, die Beiträge vom 4. und 7. April 1775 stammen von Johann Melchior Goeze.

80 Vgl. [Ziegra/Goeze]: Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, S. 6 f.

81 [Ziegra/Goeze]: Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, S. 3.

band sich mit der Sorge, der Roman mache die Leser zu beruflicher Tätigkeit unfähig und verleite zu einem verantwortungslosen Verhalten:

Natürlich kann die Jugend keine andre als diese Lehren daraus ziehen: Folgt euren natür-lichen Trieben. Verliebt euch, um das Leere eurer Seele auszufüllen. Gaukelt in der Welt herum; will man euch zu ordentlichen Berufsgeschäften führen, so denkt an das Pferd, das sich unter den Sattel bequemte, und zu schanden geritten wurde. Will es zuletzt nicht mehr gehen, wohlan, ein Schuß Pulver ist hinlänglich aller eurer Noth ein Ende zu ma-chen. Man wird eure Grosmuth bewundern, und den Schönen wird euer Name heilig seyn.

Und was ist zuletzt das Ende von diesem Liede? dieses: lasset uns essen und trinken und fröhlich seyn, wir können sterben wenn wir wollen. Ohngefähr sind wir geboren, und ohngefähr fahren wir wieder dahin, als wären wir nie gewesen.82

Solche allgemeineren Befürchtungen hinsichtlich der negativen Auswirkungen der Lektüre auf den Lebenswandel dürften aus heutiger Sicht ähnlich überra-schen wie die bezüglich des Selbstmordes. Jedenfalls lässt sich feststellen, dass sie mit der Annahme verbunden sind, das im Roman Gesagte werde appliziert.

Es wurde befürchtet, dass manche Leser „lauter kleine Wertherchen seyn oder werden wollen“.83

Eine andere Position vertrat Jakob Michael Reinhold Lenz. Werther sei „ein Bild […], ein gekreuzigter Prometheus an dessen Exempel ihr euch bespiegeln könnt und eurem eigenen Genie überlassen ist, die nützlichste Anwendung davon zu machen“.84 Werther ist in seiner Wahrnehmung ein außergewöhnli-ches, bewunderungswürdiges Individuum.85 Er ist ein Genie, dessen Inbegriff zeitgenössisch Prometheus war, und seine Leiden sind stellvertretend (wie bei Jesus Christus). Die ihm angemessene Haltung ist eine der Bewunderung. Es bedarf des „eigenen Genie[s]“ des Rezipienten für die Applikation, die

besten-||

82 [Ziegra/Goeze]: Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, S. 5 f. Vgl. dazu S. 6, 7 f., 8 und 10.

83 [Anon.]: [Rezension von Nicolai: Freuden des jungen Werthers]. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Bd. 8 (1775), S. 514.

84 Jakob Michael Reinhold Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. In:

J. M. R. L.: Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 2. Hg. von Sigrid Damm. München/Wien 1987, S. 673–690, hier S. 685.

85 Vgl. dazu die folgenden Aussagen: „O guter edler Jüngling, heiliger Werther! könnte ich jemals nur den Schatten deines Werts mir eigen machen.“ – „Seid nicht närrisch meine lieben Freunde! bildet euch nicht zu geschwind ein Werthers zu sein, es ist keine Kleinigkeit damit.

Ein Werther muß viel getan und gelitten haben, eh er Werther zu sein anfangen kann; ihr seht nur die Ebene vor euch, nicht aber die Gebirge, die er zu übersteigen hatte, eh er sie euch vormalen konnte.“ – Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers, S. 687.

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falls annäherungsweise erfolgen kann, weil Werther ein letztlich unerreichbares Ideal darstelle:

Dein gleichgestimmtes allezeit gutgeartetes und frohmütiges Herz, deine unnachahmliche Genügsamkeit mit dir selber und den Gegenständen die so eben um dich sind, deine gänz-liche Freiheit von allen Prätentionen, törichten Erwartungen und ehrsüchtigen Wünschen – bei alledem deinen edlen emporstrebenden feurigen Geist, deine immerwährende Tätig-keit, die selbst durch die Leidenschaft die alles in Untätigkeit hinstarren macht, nicht ge-hemmt werden konnte, die sich bis zuletzt noch in den furchtbaren Ruinen erhielt und, als Simson unter dem ihn erschlagenden Gewicht hinstürzte, noch immer bewies daß er Simson war – wer macht ihm das nach?86

Lenz verweist explizit auf die prinzipiell vorhandene Möglichkeit der Applikati-on. Welche Konsequenzen für das Denken und Verhalten er im Einzelnen meint, deutet er mit diesen Worten über Werthers psychische Disposition, seine Eigen-ständigkeit und Unabhängigkeit und sein Verhalten lediglich an, da er die Ap-plikation für eine Leistung des Rezipienten hält. Er scheint daher wohl vor al-lem an individuelle Applikationen zu denken.

Eine Begründung für die genannten Befürchtungen gaben Ziegra und Goeze nur im Ansatz. Sie nahmen Anstoß an der „die Jugend hinreissende[n] Spra-che“, in welcher der Roman geschrieben sei, der „ohne die geringste Warnung oder Misbilligung“ Werthers Geschichte schildere.87 Ihnen fehlte eine Rezepti-onssteuerung in Form explizit und negativ wertender Kommentare hinsichtlich des Protagonisten und seines Tuns. Dazu existierten in der zeitgenössischen Meinung weitere Stimmen, denen zufolge die Rezeptionssteuerung nicht hinrei-chend sei oder aber in die falsche Richtung gehe. Die Auffassung jedenfalls, wonach der Roman ein klares Tugend-Laster-Schema aufweise, blieb eine Ein-zelmeinung: „Er [Goethe] weis Tugend und Laster mit gröster Genauigkeit zu schildern.“88 Manche gingen davon aus, dass der Roman in dieser Hinsicht kei-ne Rezeptionssteuerung biete. Christian Garve betonte, Goethe hätte „die Fehl-schlüsse als FehlFehl-schlüsse, die irrigen Begriffe als irrig, die falschen Gründe als falsch, und die daher entspringenden verwerflichen Handlungen als wirklich verwerflich zeigen“ müssen.89 Ein Verfasser äußerte den „Wunsch […], daß das

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86 Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers, S. 687.

87 [Ziegra/Goeze]: Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, S. 5.

88 [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Jenaische Zeitungen von gelehrten Sachen.

St. 93, 21. November 1774, S. 782.

89 [Christian Garve]: Aus einem Briefe. In: Der Philosoph für die Welt. T. 1, St. 2 (1775), S. 21–

33, hier S. 32 f.

Buch eine zurechtweisende Vorrede haben möge. Sie würde zwar den bessern Lesern sehr unnütz gewesen seyn, aber wir haben wirklich noch schwächere Leser, als man denken sollte.“90 Angenommen wurde mitunter, dass das mora-lisch Problematische in einem positiven Licht erscheine. Dazu wurde festge-stellt: „Der Selbstmord ist seit Rousseaus Heloise vielleicht nie so sehr auf der guten Seite gezeigt worden“.91 Während das hier allein eine an sich neutrale Beschreibung ist, gingen andere Einschätzungen deutlich weiter. Werther sei eindeutig zu verurteilen, im Roman geschehe jedoch das Gegenteil, weswegen er für jugendliche Leser/-innen gefährlich sei: „Und diesen Elenden nun immer unter der einnehmenden Gestalt von einer gewissen Größe und Tugend vorzu-stellen, für ihn das zärtlich teilnehmende Mitleiden des Lesers zu erschleichen oder gar zu verlangen; – nein! solch ein Buch müßte nicht geschrieben werden, nie der Jugend, deren gefährlichste Feinde dieser Stolz und diese Fluth der Lei-denschaften sind, in die Hände gegeben werden.“92 Es wurde also davon ausge-gangen, dass dem Roman Techniken der Rezeptionssteuerung fehlten, oder aber, dass die Rezeption in eine falsche Richtung gelenkt werde.

Betrachtet man vor dem Hintergrund der in diesem und im vorangehenden Unterkapitel ausgemachten Applikationen, einschließlich der befürchteten und abgelehnten, die Beschaffenheit des Textes hinsichtlich seines Applikationspo-tenzials, so lässt sich zeigen, dass der Roman sie zwar nicht explizit anleitet, aber zumindest zum Teil nicht ausschließt und zum Teil durchaus nahelegt. Als wesentlich erweist sich in der Tat die Perspektivensteuerung, die mit anderen Aspekten der Beschaffenheit zusammenwirkt, etwa der oben erwähnten Au-thentizitätsfiktion, der geringen Distanz und der emotionalisierenden Sprech-weise Werthers. Die Perspektivensteuerung betrifft insbesondere den Protago-nisten. Werther wird indirekt aufgewertet, zum Beispiel durch den vertraulichen

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90 [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Magazin der deutschen Critik. Bd. 4, T. 1 (1775), S. 68. Die Unterscheidung zwischen kompetenten und nicht hinreichend kompetenten Lesern wird im selben Publikationsorgan an anderer Stelle bekräftigt, wenn Goethes Roman als

„ein vortrefliches Buch für den Kenner“ bezeichnet wird – [Anon.]: [Rezension von Nicolai:

Freuden des jungen Werthers]. In: Magazin der deutschen Critik. Bd. 4, T. 1 (1775), S. 69. Les-sing hat in einem Brief an Johann Joachim Eschenburg vom 26. Oktober 1774 „eine kleine kalte Schlußrede“ für den Roman gefordert – Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11/2: Briefe von und an Lessing. Hg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt a. M. 1988, S. 667 (Nr. 996).

91 [Merck]: [Rezension von Goethe: Werther, und Nicolai: Die Freuden des jungen Werthers], S. 104.

92 [Anon.]: [Rezension von Stockmann: Die Leiden der jungen Wertherinn]. In: Neueste criti-sche Nachrichten. Bd. 1, St. 37 (1775), S. 295 f.

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Umgang, den Lottes Geschwister mit ihm pflegen (vgl. z. B. S. 102; am 15. Aug.), durch sein Almosengeben (vgl. z. B. S. 30; am 27. May) oder durch sein stände-übergreifendes empfindsames Ethos (vgl. z. B. S. 18 [am 15. May], S. 130 [am 24. Dec.]). Seine Liebe zu Lotte wird so geschildert, dass die sexuelle Dimension, den zeitgenössischen Dezenzvorstellungen entsprechend, im Hintergrund bleibt (vgl. z. B. S. 78; am 16. Juli). Bei dem Gewitter nach dem Ball, auf dem Werther Lotte zum ersten Mal begegnet, sticht sein Verhalten, zumindest in seiner Schilderung, vorteilhaft ab von „den Kekheiten unserer jungen Schluk-kers […], die sehr beschäftigt zu seyn schienen, alle die ängstlichen Gebete, die dem Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schönen Bedrängten wegzu-fangen“ (S. 50; am 16. Juny).

Die Liebe zu Lotte wird dadurch aufgewertet, dass sie als eindeutig positive Figur porträtiert wird. Werther erscheint sie bei der ersten Begegnung in dem

„reizendste[n] Schauspiel […], das ich jemals gesehen habe“ (S. 40), nämlich in der prominenten Brotschneide-Szene (vgl. ebd.), das heißt im Kreise ihrer zahl-reichen jüngeren Geschwister. Angekündigt worden war das bereits zu einem früheren Zeitpunkt: „Man sagt, es soll eine Seelenfreude seyn, ihn [den Amt-mann] unter seinen Kindern zu sehen, deren er neune hat. Besonders macht man viel Wesens von seiner ältsten Tochter.“ (S. 22; den 17. May) An Lotte wer-den also Eigenschaften hervorgehoben, die geschlechtsspezifischen zeitgenös-sischen Idealvorstellungen entsprechen. Das tut Werther im Folgenden immer wieder. Er erwähnt mehrmals, dass sie Kranke pflege (vgl. S. 60 [am 1. Juli], S. 70 [am 6. Juli] und S. 74 [am 11. Juli]). Ein positives Licht wird auf sie ferner durch den Umgang mit einem alten Pfarrer geworfen (vgl. S. 62; am 1. Juli). Von Albert erfährt Werther, dass Lottes Mutter sie auf dem Totenbett mit der Füh-rung des Hauses und der Aufsicht über die Kinder betraut habe, und „wie sie in Sorge für ihre Wirthschaft und im Ernste eine wahre Mutter geworden, wie kein Augenblik ihrer Zeit ohne thätige Liebe, ohne Arbeit verstrichen“ sei (S. 90; am 10. Aug.). Darauf wird noch einmal eigens eingegangen in einem Gespräch zwi-schen Werther, Lotte und Albert im nächtlichen Garten (vgl. S. 118/122; am 10. Sept.).

Zu nennen ist ferner die explizite Thematisierung des Selbstmordes und der angemessenen Haltung dazu, die Gegenstand eines Gesprächs zwischen Albert und Werther wird (vgl. S. 92/102 [am 12. Aug.]). Zwar äußert Albert seine Ab-scheu, es dominiert jedoch Werthers in Teilen wertende Sicht auf den strittigen Sachverhalt. Werther stellt seine Sicht mehrfach dar, etwa wenn er an anderer Stelle seine Indifferenz gegenüber dem Leben zum Ausdruck bringt: „Ja es wird mir gewiß, Lieber! gewiß und immer gewisser, daß an dem Daseyn eines Ge-schöpfs so wenig gelegen ist, ganz wenig.“ (S. 174; am 26. Oktober) Der

gebererzähler beschränkt sich darauf, Werthers Weg zum Selbstmord und die Vorbereitungen detailliert zu schildern, kommentiert sie aber nicht. Nach ge-schehener Tat verurteilen die anderen Figuren – der Amtmann und seine ältes-ten Söhne, Lotte und Albert – Werthers Selbstmord nicht, sie reagieren vielmehr mit Bestürzung (vgl. S. 264/266). Hier ist ebenfalls zu beachten, dass sie alle als positive Figuren erscheinen.

Zusammengenommen ergibt sich das Bild einer überwiegend positiv darge-stellten Figur, die detaillierte Einblicke gibt in ihr Innenleben. Die Frage nach der angemessenen Beurteilung des Selbstmordes und nach Werthers Lebens-wandel allgemein bleibt durchaus offen. Der Text kann als Aufforderung an das Publikum verstanden werden, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Allerdings er-öffnet er aufgrund seiner Beschaffenheit zugleich eine Perspektive, die zumin-dest keine ausschließliche Verurteilung beinhaltet. Der Roman kann auch so verstanden werden, dass Werther, sein Denken und Handeln als positiv ange-sehen werden sollen.

Von den Textbefunden führt kein direkter Weg zu den in Rede stehenden Applikationen in diesem und in dem vorangehenden Unterkapitel. Allerdings tragen sie dazu bei, derartige Applikationen verständlich zu machen. Die Dar-stellung einer im Grunde positiven Figur und ihres Weges zum Selbstmord kann in der Tat dazu veranlassen, darüber nachzudenken, ob es tatsächlich solche Menschen geben kann und welche emotionale Einstellung und ethische Sicht auf sie angebracht ist. Werther selbst fordert im Gespräch mit Albert explizit mit Blick auf den Fall einer Selbstmörderin, „die innern Verhältnisse einer Hand-lung“ zu erforschen, er ruft zum „Mitleiden“ mit solchen Personen auf und dazu, „sich rühren“ zu lassen (S. 94; am 12. Aug.). Die Beschaffenheit des Textes kann des Weiteren erklären, wieso befürchtet werden konnte, dass die Roman-lektüre negative Auswirkungen auf die Einstellungen und das Verhalten des Publikums haben konnte. Ziegra und Goeze scheinen anzunehmen, dass das Publikum aufgrund der Beschaffenheit des Textes einzelne Aussagen der Figur Werthers einfach und direkt appliziert, ähnlich wie Wilhelm Willig in Göchhau-sens Das Wertherfieber, und sein Handeln ohne Weiteres als zulässig und rich-tig beurteilt. Am Rande mitzubedenken ist bei den Befürchtungen wohl die Gattungszugehörigkeit. Romane waren bekanntlich bei den zeitgenössischen professionellen Rezipienten deutlich weniger angesehen als Lyrik und Drama.

Einer nach wie vor verbreiteten Auffassung zufolge thematisierten sie nicht selten moralisch Anstößiges und wurden deswegen von manchen Zeitgenossen abgelehnt.

Als mindestens genauso wichtig wie die Beschaffenheit des Textes erweist sich der Bezug auf die historischen Gegebenheiten. Werther werde, so eine

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dere Quelle, „in einer so täuschenden Schilderung, mit so zur Nachahmung unwiderstehlich reizenden Zügen, der ganzen Welt öffentlich zum Muster dar-gestellet“.93 Selbst wenn er nicht als „Muster“ intendiert gewesen sei, werde er unweigerlich als Muster rezipiert, wie die allgemeine Menschenkenntnis lehre.94 Was diese Rezeptionshaltung angeht, ergibt sich ein wichtiger Bezug zur zeit-genössischen Lektürepraxis. Es ist in der am Leser orientierten Forschung zu Goethes Roman seit Längerem bekannt, dass für die Rezeption des Romans das zeitgenössische Erbauungsschrifttum als Modell fungieren konnte. Für Erbau-ungsliteratur, die im 18. Jahrhundert noch ein wichtiges Segment des Buch-marktes darstellte, war ein Lektüremuster kennzeichnend, bei dem „die Regeln und Exempel vom Leser auf ihr eigenes Leben zu beziehen sind“.95 Goethes Roman wurde vor dem Hintergrund solcher Lektürehaltungen gelesen: „Der Erbauungsschriftsteller, selbst engagiert, fordert den Leser dazu auf, seinen Ansichten gemäß zu denken, seinen Anweisungen gemäß zu leben. Das

‚Wertherfieber‘ entsteht, wo das Werk, nicht zur Nachahmung geschrieben, doch als Spiegel einer vorbildlichen Haltung zum Muster genommen, ‚als eine Art Erbauungsbuch‘ betrachtet wird.“96

Ergänzend kann hingewiesen werden auf den Umgang mit biblischen Tex-ten, sei es bei der privaten Lektüre, im Schulunterricht oder im Gottesdienst. Es ist davon auszugehen, dass für solche Lektürepraktiken Applikation ein wesliches Moment war. Die biblischen Texte sind viele Jahrhunderte alt und ent-stammen einem in vielerlei Hinsicht fremden Kulturkreis, sollen aber normative Gültigkeit für den einzelnen Gläubigen besitzen. Besonders deutlich wird das vielleicht bei der Predigt. Die in der Perikopen-Ordnung vorgesehenen Texte sollen ja gerade so ausgelegt werden, dass die Gemeinde das in ihnen Gesagte auf sich beziehen kann. Zudem thematisieren die Texte der Sache nach biswei-len Applikationen, etwa in dem bekannten Gleichnis vom barmherzigen Sama-riter (vgl. Lk 10,25–37). Insbesondere der Pietismus mit seiner Konzentration auf den einzelnen Gläubigen und die handlungspraktischen Konsequenzen seines Glaubens dürfte eine wichtige Rolle spielen, verbunden mit der beginnenden Säkularisierung, welche religiöse Praktiken und Überzeugungen in

zunehmen-||

93 Johann Jakob Mochel: Reliquien verschiedener philosophischen, pädagogischen, poeti-schen und anderer Aufsätze. Halle 1780, S. 61.

94 Vgl. Mochel: Reliquien verschiedener philosophischen, pädagogischen, poetischen und anderer Aufsätze, S. 61 f., das Zitat S. 61.

95 Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 1969, S. 93.

96 Jäger: Empfindsamkeit und Roman, S. 93 f. Vgl. dazu Jäger: Die Wertherwirkung, v. a.

S. 393, 397–399 und 401–404.

den Maße ‚freisetzt‘ und übertragbar macht, auch auf den Umgang mit Litera-tur. Allgemein ist für viele Formen der Lektüre im 18. Jahrhundert kennzeich-nend, dass sie Formen ‚exemplarischen Lesens‘ darstellen:

Merkmal der meisten Formen des Lesens bis ins 18. Jahrhundert ist es, exemplarisches Le-sen zu sein: Das LeLe-sen ist gesteuert von einem stofflichen Interesse, und die Handlung des Buches gilt als übertragbar, seine ‚Lehre‘ oder ‚Moral‘ als anwendbar in der Lebenspraxis des Lesers. Das gilt – in je spezifischer Anwendung – für religiöse Lektüre wie für Romane (und sei es in der Form, daß man die bei Hofe erforderten Umgangsformen daraus ent-nehmen wollte), für die Barockpoesie wie für die an der Vermittlung nützlicher Kenntnis-se und praktischer Lebensklugheit orientierte Literatur der Aufklärung. Exemplarisches Lesen wendet vor allem die Rezeptionsmuster der Erbauung und der Belehrung an; Er-gebnis ist in allen Fällen eine vom Text als ‚Lehre‘ unmittelbar angegebene oder doch grundsätzlich begrifflich aussprechbare handlungslenkende Nutzanwendung.97

Dass manche Leser/-innen tatsächlich oder vermeintlich dazu neigten, den Roman als Handlungsanweisung zu verstehen und zu applizieren, kann also damit erklärt werden, dass es ein für religiöse Texte und für verschiedene weite-re Textsorten geltendes Lektüweite-remuster gab, für das die Applikation konstitutiv war und das auf die Rezeption von Goethes Roman übertragen werden konnte.

In einem bereits zitierten Rezeptionsdokument wurde das so gesehen. Dort wurde eine vermeintliche Rezeptionshaltung kritisiert, bei welcher der Roman

„wie einen Catechismus“ gelesen und Werthers „Leiden und Tod wie eine Heili-genlegende behandel[t]“ wird.98