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Zur zeitgenössischen Rezeption

3 Fallstudien I: Romane im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

3.1 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

3.1.1 Zur zeitgenössischen Rezeption

(ebenfalls Kap. 3.1.1). Da Applikation eine Form der zeitgenössischen Rezeption unter anderen ist, soll anhand der Quellen ein Eindruck von anderen Formen der Rezeption gegeben und ein Seitenblick auf Selbstaussagen Goethes gewor-fen werden. Außerdem werden Angaben zur Quellenkritik gemacht und Überle-gungen für das weitere Vorgehen im Hauptteil des Kapitels hergeleitet.

3.1.1 Zur zeitgenössischen Rezeption

Die zeitgenössische Rezeption von Goethes Roman ist schon früh beachtet wor-den.2 Das Interesse daran scheint sogar über die Forschung hinauszugehen.3 Jedenfalls ist die Erstrezeption des Romans häufiger als üblich Gegenstand der Forschung gewesen. Es wurde angenommen, dass der Text in formaler Hinsicht innovativ war, große emotionale Wirkungen hervorrief und auf mitunter starke, vor allem ethisch motivierte Vorbehalte stieß. Aufgrund seines Erfolges habe er Leserschichten erreicht, die im Umgang mit Literatur dieser Art weniger geübt waren.4 Er habe sich für eine besonders intensive Lektüre angeboten. So gilt der

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2 Vgl. z. B. Johann Wilhelm Appell: Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Literatur. Oldenburg

41896. Appell beschreibt die zeitgenössische Rezeption anhand von Rezeptionsdokumenten allgemein, zitiert ausführlich aus ihnen und geht überwiegend beschreibend und mitunter stark wertend vor. Ein weiteres Beispiel ist Georg Zimmermann: Werthers Leiden und der literarische Kampf um sie. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 24 (1869), S. 241–298. Zimmermann orientiert sich bei seiner Untersuchung der Quellen an den Selbstaussagen Goethes. Zeitgenössische Besprechungen des Romans und Reaktionen des Publikums behandelt Alfred Nollau: Das literarische Publikum des jungen Goethe von 1770 bis zur Übersiedlung nach Weimar. Weimar 1935. Eine weitere Arbeit, welche in diesem Zusam-menhang genannt werden kann, ist Martin Sommerfeld: Goethe und sein Publikum. In: M. S.:

Goethe in Umwelt und Folgezeit. Leiden 1935, S. 36–59.

3 Vgl. Jörn Göres (Hg.): Die Leiden des jungen Werthers. Goethes Roman im Spiegel seiner Zeit. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf. Düsseldorf 1972. Es handelt sich um einen Ausstellungskatalog. Vgl. auch den Beitrag von Volkmar Hansen, welcher einem Katalog anlässlich einer weiteren Ausstellung beigegeben ist: Volkmar Hansen: Was ist das Herz des Menschen? Die Leiden des jungen Werthers in frühen Leserreaktionen. In: Goethes Lotte. Ein Frauenleben um 1800. Hannover 2003, S. 114–125.

4 In der Forschung wird von rund 90.000 Erstrezipient/-innen im deutschsprachigen Raum ausgegangen, bei einer Gesamtauflage von 9.000 Exemplaren (1. und 2. Auflage, dazu insge-samt neun Raubdrucke) und ca. zehn Leser/-innen pro Exemplar; vgl. Horst Flaschka: Goethes Werther. Werkkontextuelle Deskription und Analyse. München 1987, S. 243 f. Vgl. zum zeitge-nössischen ‚Erwartungshorizont‘ Hans Robert Jauß: Rousseaus Nouvelle Héloïse und Goethes Werther im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus. In:

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Roman als eines der „Hauptbücher der modernen Wiederholungslektüre“.5 Es wurde die These aufgestellt, dass er „Sensibilisierung, Emotionalisierung und Versinnlichung“ ermöglichte, eigentlich aber eine „kathartische Rezeptionshal-tung“ erforderte.6 Er habe zu den ersten gehört, die aufgrund ihrer Beschaffen-heit „ästhetische Distanz“ bei der Lektüre notwendig machten.7

In der wohl umfangreichsten Untersuchung der Erstrezeption wurde festge-stellt, dass der Roman „eine Affirmation und Reproduktion der Gefühle, Sehn-süchte und Wünsche des Lesers“ ermöglicht habe sowie die „Bewußtwerdung, Durchdringung, Stimulierung oder Reflexion der eigenen Gedanken-, Empfin-dungs- oder Vorstellungswelt“; außerdem konnte er „Anstoß zur Auseinander-setzung mit der eigenen Existenz“ sein.8 Manche ablehnenden Reaktionen seien damit zu erklären, dass Werthers Verhalten nicht in Einklang gestanden habe mit aufklärerischen Vorstellungen von sozialen Verpflichtungen und vernunft-gemäßem Handeln: „Seine Leidenschaft und Phantasie brachten das Bild des vernunftgeleiteten Menschen ins Wanken.“9 Andere ablehnende Reaktionen wurden darauf zurückgeführt, dass der Roman als „ein verführerisches, glau-bensfeindliches und im Gegensatz zum Geist der Offenbarung stehendes Werk“

galt.10 Ferner habe es einen ‚Wertherkult‘ gegeben, dem eine „Idolisierung“ des Protagonisten zugrunde gelegen habe. Werther sei zum „Idol“ geworden, „zum Leitbild einer Generation, die in ihm ein Vorbild sieht, dem es nachzueifern gilt, ohne daß es im traditionellen Sinne die pädagogisch sowie moralisch positive Besetzung eines solchen beanspruchen kann“.11

|| H. R. J.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1982, S. 585–653, hier S. 614–647.

5 Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: R. E.: Zur Sozialge-schichte deutscher Mittel- und UnterSozialge-schichten. Göttingen 1973, S. 112–154 und 283–292, hier S. 129.

6 Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers.

Bd. 1: 1773–1918. München 1980, S. 37 und 39; vgl. dazu Karl Robert Mandelkow: Die Geschich-te der WirkungsgeschichGeschich-te Goethes. Zur Standortbestimmung der vorliegenden Dokumentati-on. In: K. R. M. (Hg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil I: 1773–1832. München 1975, S. XVII–LXXVI.

7 Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M. 1995, S. 134.

8 Flaschka: Goethes Werther, S. 255. Nicht in gleicher Weise überzeugen kann Klaus R. Scher-pe: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1970.

9 Flaschka: Goethes Werther, S. 265 f.

10 Flaschka: Goethes Werther, S. 276.

11 Flaschka: Goethes Werther, S. 295.

Es zeigt sich, dass die Ergebnisse der Forschung bisweilen der Sache nach auf das Vorliegen von Applikationen schließen lassen. Bezogen auf die eigene Person, so die These, konnte ein Teil des zeitgenössischen Publikums beste-hende Vorstellungen bestätigt finden, sich über Gedanken und Gefühle Klarheit verschaffen, Überlegungen zur persönlichen Situation anstellen und in Werther ein Vorbild sehen. Das wird besonders deutlich an zwei Arbeiten, welche die Formen der zeitgenössischen Rezeption klassifizieren und historisch verorten.

In einem wegweisenden Aufsatz wurden die „erbauliche“, die „didaktische“

und die „trivialempfindsame Konkretisation“ unterschieden.12 In kritischer Auseinandersetzung damit wurden fünf Arten des zeitgenössischen Umgangs mit dem Roman differenziert und beschrieben: die „Curiositas-Lektüre“, die

„romaneske Lektüre“, die „emphatische Lektüre“, die „Orientierungslektüre“

und die auf „Reflexion und Analyse“ abzielende Lektüre.13 Insbesondere die beiden letztgenannten oder die ‚erbauliche‘ und die ‚didaktische Konkretisati-on‘ scheinen mit Applikationen in Verbindung zu stehen.

Explizit beachtet wurde die zeitgenössische Applikation des Romans an-scheinend nicht.14 Überhaupt standen andere Fragen im Vordergrund, wie zu-mindest kurz angedeutet werden soll. Zu nennen ist zum Beispiel die Untersu-chung der emotionalen Wirkung des Romans.15 Ferner wurde insbesondere der

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12 Jäger: Die Wertherwirkung, S. 394, vgl. dazu S. 401–404 und 404–407.

13 Vgl. Katja Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes Werther. In: Hans-Edwin Friedrich/Fotis Jannidis/Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 201–240, hier S. 238–240 und dazu S. 219–231.

14 Wo im Einzelfall die ‚Aneignung‘ des Romans in den Blick kommt, bleibt diese Redeweise eher allgemein und erhellt damit den in Rede stehenden Sachverhalt nicht hinreichend, vgl.

Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006, S. 114 und 115 sowie 111–137. Das hat hier wohl seinen Grund darin, dass in dieser Studie andere Aspekte im Vordergrund stehen. Wo im Einzelfall ‚Applikation‘ explizit verwendet wird, hat sie eine andere Bedeutung. Es geht dann um Applikation bei der eigenen Textproduktion, vgl. Klaus F. Gille: Lectio und applicatio. Zu Lenzens Wertherrezeption. In: Steffen Gros-curth/Thomas Ulrich (Hg.): Lesen und Verwandlung. Lektüreprozesse und Transformationsdy-namiken in der erzählenden Literatur. Berlin 2011, S. 187–201, hier S. 187 und 188. ‚Applikation‘

wird in dem Aufsatz nicht eingehender erläutert.

15 Vgl. u. a. Anselm Haverkamp: Illusion und Empathie. Die Struktur der ‚teilnehmenden Lektüre‘ in den Leiden Werthers. In: Eberhard Lämmert (Hg.): Erzählforschung. Symposion Bad Harzburg 1980. Stuttgart 1982, S. 243–268; Maximilian Nutz: Die Sprachlosigkeit des erregten Gefühls. Zur Problematik der Verständigung in Goethes Werther und seiner Rezeption. In:

Literatur für Leser 1982, S. 217–229; Bjørn Ekmann: Erlebnishaftigkeit und Klassizität. Einfüh-lung und Verfremdung im Werther-Roman. In: Text & Kontext 14 (1986), S. 7–47; Matthias

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Umstand eingehender betrachtet, dass Goethes Roman Anlass war zu verschie-denen Formen literarischer Produktion. Davon zeugen zahlreiche Gedichte und Dramen, die auf verschiedene Weise auf Goethes Roman Bezug nehmen,16 und die als ‚Wertheriaden‘ bezeichneten empfindsamen Briefromane.17 Goethes Roman und die Reaktionen darauf wurden des Weiteren untersucht im Zusam-menhang mit einschlägigen (literatur-)geschichtlichen Gegebenheiten, etwa der zeitgenössischen Kritik an der Empfindsamkeit.18 Einen eigenen Schwerpunkt bilden rezeptionsgeschichtliche Arbeiten unterschiedlichen Zuschnitts.19

|| Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stutt-gart/Weimar 1995, S. 237–276; Claudia Liebrand: Briefromane und ihre ‚Lektüreanweisungen‘:

Richardsons Clarissa, Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Laclos’ Les liaisons dangereuses.

In: Arcadia 32 (1997), S. 342–364; Martin Huber: Literatur als Bewußtseinstheater. Zur Perfor-manz in Goethes Werther. In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanis-tenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bd. 9: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Bern u. a. 2003, S. 187–

192; Andreas Blödorn: Lektüre als Fieberanfall – Empathie als Modell der (An-)Spannung. Mit einer neu gefassten ‚Diagnose‘ der Leiden des jungen Werthers. In: Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen/Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 165–188; Markus Gugel: „Ein geistiges Werk geistig aufnehmen“. Zum idealen Leser von Goethes Werther. In: Goethe-Jahrbuch 131 (2014), S. 13–20.

16 Vgl. dazu Stuart Pratt Atkins: The Testament of Werther in Poetry and Drama. Cam-bridge, MA 1949, und bibliographisch ergänzend Stuart Pratt Atkins: Codicils to „The Testa-ment of Werther in Poetry and Drama“. In: Reingard Nethersole (Hg.): Literatur als Dialog.

Festschrift zum 50. Geburtstag von Karl Tober. Johannesburg 1979, S. 195–205. Vgl. zu den Gedichten die umfangreiche Untersuchung auf Grundlage einer detaillierten editorischen Erschließung in Karin Vorderstemann: „Ausgelitten hast du – ausgerungen …“. Lyrische Wertheriaden im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 2007. Zu Adaptionen des Romans für das Theater im englischsprachigen Raum vgl. Viktor Link: Werther auf englischen und amerikani-schen Bühnen: Ein Aspekt der Goethe-Rezeption im 18. Jahrhundert. In: Anglia 113 (1995), S. 184–206. Vgl. zu Parodien Waltraud Wende: Goethe-Parodien. Zur Wirkungsgeschichte eines Klassikers. Stuttgart 1995, S. 125–157.

17 Vgl. Ingrid Engel: Werther und die Wertheriaden. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte.

St. Ingbert 1986; Diethard Suntinger: Deutsche Wertheriaden. Beiträge zur Rezeption und produktiven Weiterverarbeitung von Goethes Die Leiden des jungen Werthers im Zeitraum von 1774–1787. Diss. Graz 1985.

18 Vgl. Wolfgang Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit. Frankfurt a. M./Bern 1975, S. 299–

313.

19 Vgl. z. B. Ingeborg Bickelmann: Goethes Werther im Urteil des 19. Jahrhunderts (Romantik bis Naturalismus 1830–1880). Diss. Saarbrücken. Gelnhausen 1937; Ariane Martin: Die kranke Jugend. J. M. R. Lenz und Goethes Werther in der Rezeption des Sturm und Drang bis zum Naturalismus. Würzburg 2002; Gerhart Hoffmeister: ‚Krankheit zum Tode‘. Bemerkungen zu Goethes Werther, Foscolos Jacopo Ortis und André Gides André Walter. In: G. H. (Hg.):

Wenn im Folgenden Applikationen in der zeitgenössischen Rezeption von Goethes Roman untersucht werden, ist das ein spezieller Gesichtspunkt unter anderen, die in der vorliegenden Arbeit nicht eingehender dargestellt werden können. Da sie aber zu einem vollständigen Bild der Erstrezeption gehören, sollen anhand der Quellen zumindest einige allgemeine Angaben dazu gemacht werden.

Kennzeichnend ist bekanntlich zunächst die emotionale Wirkung des Ro-mans, darunter neben Rührung als einer mitunter diffusen Emotionalisierung Bewunderung, Mitleid und Sympathie. Christian Friedrich Daniel Schubart habe den Text „mit zerfloßnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt“, gelesen.20 Wilhelm Heinse schrieb,

„der ganze Kopf“ sei bei der Lektüre „ein Gefühl von Thräne“.21 Das sind nur zwei Beispiele, die stellvertretend stehen können für einen allgemeinen Kon-sens, unabhängig davon, ob die Wirkung als positiv oder bedenklich angesehen wurde.22

|| zeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Bern/München 1981, S. 81–90; Thomas Horré: Werther-Roman und Werther-Figur in der deutschen Prosa des Wilhelminischen Zeitalters. Variationen über ein Thema von J.W. Goethe. St. Ingbert 1997;

Bingjun Wang: Rezeptionsgeschichte des Romans Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang Goethe in Deutschland seit 1945. Frankfurt a. M. u. a. 1991. Hier wird auch die litera-turwissenschaftliche Forschung in der BRD und der DDR in die rezeptionsgeschichtliche Un-tersuchung einbezogen. Ein weiteres Beispiel für eine Studie, welche Die neuen Leiden des jungen W. von Plenzdorf behandelt, ist Ute Brandes: Parody from Beyond: Plenzdorf’s Die neuen Leiden des jungen W. and Eighteenth Century Parodies of Goethe’s Die Leiden des jungen Werthers. In: Gertrud Bauer Pickar/Sabine Cramer (Hg.): The Age of Goethe Today. Critical Reexaminations and Literary Reflection. München 1990, S. 113–122.

20 [Christian Friedrich Daniel Schubart]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Deutsche Chronik. St. 72, 5. Dezember 1774, S. 574–576, hier S. 574.

21 [Wilhelm Heinse]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Iris. Vierteljahresschrift für Frau-enzimmer. St. 3, Dezember 1774, S. 167–169, hier S. 167.

22 Vgl. für weitere Beispiele u. a.: [Matthias Claudius]: [Rezension von Goethe: Werther]. In:

Der Deutsche, sonst Wandsbecker Bothe. 22. Oktober 1774, n. p.; [Anon.]: [Rezension von Goe-the: Werther]. In: Gothaische gelehrte Zeitungen. St. 86, 29. Oktober 1774, S. 681–683, hier S. 683; [Heinrich Leopold Wagner]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen. Nr. 87 und 88, 1. November 1774, S. 730–733, hier S. 731 und 733; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Jenaische Zeitungen von gelehrten Sachen. St. 93, 21. November 1774, S. 781 f.; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Hallische gelehrte Zeitungen. St. 99, 12. Dezember 1774, S. 789 f.; [Christian Heinrich Schmid]: Fortsetzung der kritischen Nachrich-ten zum Zustande des teutschen Parnasses. In: Der teutsche Merkur. Bd. 8, St. 2, November 1774, S. 164–201, hier S. 182; [Christoph Martin Wieland]: [Rezension von Goethe: Werther]. In:

Der teutsche Merkur. Bd. 8, St. 3, Dezember 1774, S. 241–243, hier S. 242; [Christian Heinrich Schmid]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Almanach der deutschen Musen 1775. Zitiert

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Es fällt außerdem auf, dass über das Textthema große Einigkeit herrschte.

Der Roman zeige vermittels differenzierter Charakterisierung und sorgfältiger Motivierung, wie eine emotional begabte Figur mit entsprechender psychischer Disposition aus unglücklicher Liebe Selbstmord begeht.23 Ein Rezensent meinte in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur:

Der Hauptvorzug dieses, eben dadurch ganz vortreflichen Romans, besteht in der vol-komnen Bearbeitung des Charakters der Hauptperson; der so ein Ganzes ausmacht, wel-ches in allen seinen Bestimmungen eine so volständige Einheit bildet, daß man sich kein wahreres und nach der Natur getreuer gezeichnetes Bild eines menschlichen Charakters vorstellen kan. Die Schluskatastrophe, worauf alles abzwekt, entspringt nicht nur natür-lich aus dem Charakter, und läßt sich wohl damit zusammenreimen: das findet man in mehrern Romanen und Gedichten. Hier aber, und dazu gehört gewis ein ganz besonders Genie, sieht man, daß es unmöglich ist, daß die Katastrophe nicht erfolge.24

Vielfach wurde die Lebensnähe und Wahrscheinlichkeit des Erzählten betont und positiv bewertet. Der Verfasser von Etwas über die Leiden des jungen Werthers bemerkte:

|| nach Julius W. Braun (Hg.): Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte, Notizen, Goethe und seine Werke betreffend, aus den Jahren 1773–1786. Berlin 1883, S. 134 f.;

[Christian Friedrich Daniel Schubart]: [Rezension von Schlettwein: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, und anderen]. In: Deutsche Chronik. St. 53, 3. Juli 1775, S. 422–424, hier S. 423. Beispiele finden sich darüber hinaus in anderen Textsorten.

23 Vgl. z. B. [Wagner]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 731 f. und 732; [Schubart]: [Rezen-sion von Goethe: Werther], S. 575; [Anon.]: [Rezen[Rezen-sion von Goethe: Werther]. In: Hallische gelehrte Zeitungen. St. 99, 12. Dezember 1774, S. 789; [Wieland]: [Rezension von Goethe:

Werther], S. 241 f.; [Christian August Bertram oder Johann Wilhelm Bernhard von Hymmen]:

Etwas über die Leiden des jungen Werthers, und über die Freuden des jungen Werthers. [Dres-den] 1775, S. 16. Das oben Festgestellte ist offenkundig eine Rekonstruktion des in den Quellen Gesagten mithilfe literaturwissenschaftlicher Terminologie. Die zeitgenössische Rezeption deckt sich hier mit der Selbstwahrnehmung des Autors. Über seinen Roman schrieb er in einem Brief an G.F.E. Schönborn, der zwischen dem 1. Juni und dem 4. Juli 1774 entstand, es gehe um eine „Geschichte“, „darinn ich einen iungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, biss er zulezt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften, be-sonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schiesst“. – Johann Wolf-gang Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 28: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 bis 30. Oktober 1775. Hg. von Wilhelm Große. Frankfurt a. M. 1997, S. 374–380, hier S. 374 f.

(Nr. 258).

24 [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deut-schen Litteratur. Bd. 8 (1775), S. 500–510, hier S. 501 f.

Kurz, meine Herren, meinen Werther geb’ ich nicht für zwanzig Grandisone und derglei-chen überschönen Leutderglei-chen hin. Denn er ist doch ein Mensch, der zu unser wirkliderglei-chen Welt gehört. Wo sollen wir aber einen Grandison suchen? Und wann wir ihn suchen, wer-den wir ihn unter uns armen Erwer-densöhnen auch finwer-den? Weg also mit Schilderungen, die vielleicht von Engeln hergenommen sind! Weg mit Masken, die auf kein Gesicht von Fleisch und Blut passen! Man zeige mir den Menschen, der zuweilen bei aller seiner Weis-heit und Tugend dennoch seinem Schicksal unterliegt, – den schwachen Menschen – den will ich sehen. Oder scheuen wir uns einen solchen Menschen zu sehen? Mit einem sol-chen Karakter werd’ ich sympathisiren, ich werd’ ehr fühlen, daß ich etwas Aehnliches mit ihm haben könnte, als mit jenem himmlischschönen Menschen, der nur im Gehirn des Dichters war.25

Dazu ließen sich ebenfalls zahlreiche weitere Beispiele anführen.26

Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, ob das Dargestellte ganz oder in Teilen fiktiv oder faktual sei, ob also ein fiktionaler Text oder eine Tatsachen-schilderung vorliege und zumindest Teile des Erzählten sich wirklich so zuge-tragen haben.27 Anonym erschien sogar eine Schrift mit dem Titel Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers, in der es zwar am Beginn hieß, dass es „ei-ne höhere Gattung des Unsinns verrathen [würde], wenn man in ei„ei-nem Werk dieser Art die vollkomm’ne historische Richtigkeit verlangen wollte“; einem in der Wahrnehmung des Verfassers berechtigten Publikumsinteresses folgend,

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25 [Bertram oder Hymmen]: Etwas über die Leiden des jungen Werthers, S. 11 f.

26 Vgl. z. B.: [Claudius]: [Rezension von Goethe: Werther], n. p.; [Wagner]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 731; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Hallische gelehrte Zeitungen. St. 99, 12. Dezember 1774, S. 789 und 790; [Wieland]: [Rezension von Goethe:

Werther], S. 242; [Schubart]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 574 und 575; [Anon.]: [Rezen-sion von Goethe: Werther, und Nicolai: Freuden des jungen Werthers]. In: Neueste critische Nachrichten. Bd. 1, St. 20 (1775), S. 154–156, hier S. 155; [Schmid]: [Rezension von Goethe:

Werther], S. 134 f.; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Magazin der deutschen Critik.

Bd. 4, T. 1 (1775), S. 61–68, hier S. 62; [Anon.]: Fortsetzung der Annalen der teutschen Littera-tur. Magazin der deutschen Critik. Bd. 4, T. 1 (1775), S. 204–219, hier S. 211.

27 Vgl. z. B. die Einschätzungen in: [Claudius]: [Rezension von Goethe: Werther], n. p.; [Wag-ner]: [Rezension von Goethe: Werther], S. 732 f.; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther, und Nicolai: Freuden des jungen Werthers]. In: Neueste critische Nachrichten. Bd. 1, St. 20 (1775), S. 154; [Anon.]: [Rezension von Goethe: Werther]. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Bd. 8 (1775), S. 508; [Johann Heinrich Merck]: [Rezension von Goethe:

Werther, und Nicolai: Die Freuden des jungen Werthers]. In: Allgemeine deutsche Bibliothek.

Bd. 26, St. 1 (1775), S. 103–105, hier S. 103; [Bertram oder Hymmen]: Etwas über die Leiden des jungen Werthers, S. 7 f.

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präsentierte er dann jedoch eine ganze Reihe von Informationen über Wetzlar und den Selbstmord Jerusalems.28

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Rezeption des Romans Anlass war zu daran anschließenden Praktiken, von denen zumindest ein Beispiel erwähnt werden soll. Eine Quelle berichtet mit erkennbar wenig Sympathie von einer „Procession nach dem Grabe des jungen Jerusalems“ im Frühjahr 1776.29 Eine Gruppe gebildeter und sozial hochstehender Menschen beiderlei Ge-schlechts habe, so die Quelle, in Wetzlar eine Art Trauerfeier veranstaltet. Man habe Goethes Roman gelesen, sich tränenreich seinen Gefühlen hingegeben, den Selbstmord aus Liebe für erlaubt gehalten und sich um Mitternacht zum Grabe Jerusalems begeben, wo man thematisch an Goethes Roman anschlie-ßende Lieder wie Reitzensteins „Ausgelitten hast du, ausgerungen“ gesungen habe. Eine Wiederholung derartiger Zusammenkünfte sei durch das Einschrei-ten der Obrigkeit unterbunden worden.

Diese Formen zeitgenössischer Rezeption lassen sich in hohem Maße auf die Beschaffenheit des Textes zurückführen, wie sich anhand einiger hinläng-lich bekannter Aussagen über den Roman zeigen lässt. Zu nennen ist zunächst die Herausgeber- und Authentizitätsfiktion, die punktuell durch vermeintliche Anonymisierungen und Fußnoten verstärkt wird. Der Herausgeber legt in seiner vorredeartigen Einleitung eine durch Mitleid, Bewunderung und Trost geprägte Rezeptionshaltung nahe. Es dominiert die Perspektive Werthers, während sich der, so die Fiktion, zur erzählten Welt gehörende aber nicht am Geschehen be-teiligte Erzähler auf das Notwendigste beschränkt. Besonderes Augenmerk ver-dient der Umstand, dass das im Roman Geschilderte sich einer doppelten Aus-wahl verdankt. Zum einen berichtet Werther in seinen Briefen an Wilhelm nur einen Teil dessen, was er erlebt hat. Zum anderen gibt der Herausgebererzähler so gut wie nie vollständige Briefe wieder, sondern nur Auszüge, die zum Teil recht kurz sind und stets auf das Wesentliche beschränkt. Der Text erhält

Diese Formen zeitgenössischer Rezeption lassen sich in hohem Maße auf die Beschaffenheit des Textes zurückführen, wie sich anhand einiger hinläng-lich bekannter Aussagen über den Roman zeigen lässt. Zu nennen ist zunächst die Herausgeber- und Authentizitätsfiktion, die punktuell durch vermeintliche Anonymisierungen und Fußnoten verstärkt wird. Der Herausgeber legt in seiner vorredeartigen Einleitung eine durch Mitleid, Bewunderung und Trost geprägte Rezeptionshaltung nahe. Es dominiert die Perspektive Werthers, während sich der, so die Fiktion, zur erzählten Welt gehörende aber nicht am Geschehen be-teiligte Erzähler auf das Notwendigste beschränkt. Besonderes Augenmerk ver-dient der Umstand, dass das im Roman Geschilderte sich einer doppelten Aus-wahl verdankt. Zum einen berichtet Werther in seinen Briefen an Wilhelm nur einen Teil dessen, was er erlebt hat. Zum anderen gibt der Herausgebererzähler so gut wie nie vollständige Briefe wieder, sondern nur Auszüge, die zum Teil recht kurz sind und stets auf das Wesentliche beschränkt. Der Text erhält