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Die vorliegende Arbeit strebt an, die Lücke innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung, die hinsichtlich der Relevanz der Ohnmacht für die deutsche Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts festzustellen ist, im Rahmen eines

104 Ebd. S. 237-243.

105 Winter, Hans-Gerd: „Ein kleiner Stoß und denn erst geht mein Leben an!“ Sterben und Tod in dem Werk von Lenz, in: „Unaufhörlich Lenz gelesen…“. Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz, hg.

von Inge Stephan und Hans-Gerd Winter. Weimar: 1994, S. 86-108. Hier S. 91-92.

106 Glarner, Hannes: Diese willkürlichen Ausschweifungen der Phantasey. Das Schauspiel Der Engländer von Jakob Michael Reinhold Lenz. Bern: 1991 (Zürcher Germanistische Studien, Band 34), S. 139.

107 Tommek, Heribert: J.M.R. Lenz. Sozioanalyse einer literarischen Laufbahn. Heidelberg: 2003.

108 Zur genaueren Auseinandersetzung vgl. das Hoffmann-Kapitel Teil II/Kapitel 4.

109 McGlathery, James: Mysticism und Sexuality. Part Two. Interpretation of the Tales. Bern: 1985 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Band 819).

110 Ringel, Stefan: Realität und Einbildungskraft im Werk E.T.A. Hoffmanns. Köln: 1997.

111 Lediglich für Sophie Mereaus Amanda findet sich eine konkrete Auseinandersetzung mit einer Ohn-macht durch Hammerstein. Hammerstein, Katharina von: Sophie Mereau-Brentano. Freiheit – Liebe – Weiblichkeit. Trikolore sozialer und individueller Selbstbestimmung um 1800. Heidelberg: 1994. S. 229.

19 entwurfs zumindest in Teilen zu füllen. Dazu werden alle Ohnmachtsszenen innerhalb der Gesamtwerke Heinrich von Kleists, Johann Wolfgang von Goethes, J.M.R. Lenz‘, E.T.A. Hoffmanns, Sophie la Roches und Sophie Mereaus untersucht, kategorisiert und untereinander verglichen. Die Thematisierung der Ohnmacht um 1800 bildet hier einen Bezugspunkt, wobei der Kontext ‚Körperzeichen’, neben den philosophisch-medizini-schen Aspekten besondere Beachtung findet.

Wie die folgende Analyse zeigen wird, bilden vier Grundtypen der Bewusstlosigkeit112

Die krankheits- oder verletzungsbedingte Ohnmacht wird durch körperliche Schwäche oder starken körperlichen Schmerz ausgelöst. So führen beispielsweise eine Verletzung im Kampf oder ein Fieber bei den Protagonisten sehr häufig zur Bewusstlosigkeit.

die Basis für den Einsatz von Ohnmachten innerhalb der Literatur dieser Zeit: die körperlich bedingte Ohnmacht, die durch leichten Schock ausgelöste Bewusstlosigkeit, die Erschütterungsohnmacht und die fingierte Ohnmacht. In den ersten drei Fällen wird die Ohnmacht von den Autoren – im Einklang mit dem sich im Zedler präsentierenden medizinischen zeitgenössischen Ohnmachtsbegriff – grundsätzlich als ein spontaner Schutzmechanismus vor körperlicher oder seelischer Überlastung ausgestaltet, der von den Betroffenen nicht kontrolliert werden kann. Der vierte Typus hingegen stellt keine unwillkürliche Reaktion dar, sondern ahmt eine solche in der meist böswilligen Absicht der Durchsetzung bestimmter eigennütziger Ziele der Figuren nach.

113

Die ebenfalls oft ausgestaltete leichte Schockreaktion114

112 Die Begriffe ‚Ohnmacht‘, ‚Bewusstlosigkeit’ und ‚Besinnungslosigkeit‘ werden synonym verwendet, da die Autoren selbst keine einheitliche Unterscheidung treffen. Genauso verhält es sich auch mit den Termini ‚Sinken’ und ‚Fallen’. Zu einer differenzierten Betrachtung der sprachlichen Umsetzung des Ohnmachtskonzepts und der damit verknüpften Symbole bei Kleist Teil I: Kapitel 6 und Tabelle IIa.

findet sich in Situationen, in denen eine Erkenntnis oder neue Information für eine Figur schmerzhaft oder er-schreckend ist, ohne dabei ihr Selbst- oder Weltbild in Frage zu stellen. Hier wird bei manchen Autoren zusätzlich noch einmal zwischen dem Subtyp des allmählich ein-tretenden Schockzustands und dem Subtyp der plötzlichen Erkenntnis unterschieden. So kann die schockbedingte Ohnmacht beispielsweise Folge der langsamen Realisierung des Wissens um den nahenden eigenen Tod oder spontane Reaktion auf die plötzliche Nachricht vom Verlust eines geliebten Menschen sein. Die im Weiteren immer als Erschütterungsohnmacht bezeichnete Art von Bewusstlosigkeit tritt immer dann auf,

113 Vgl. dazu die Tabellen im Anhang.

114 Vgl. ebd.

20 wenn eine bestimmte Einsicht die gesamte bisherige Weltsicht der Protagonisten be-droht und diese an der neugewonnen Einsicht, zuvor etwas verkannt oder Unliebsames verdrängt zu haben, verzweifeln.

Bei der Erschütterungsohnmacht, die häufig handlungsbestimmend115

Je nachdem, was während des Ohnmachtsprozesses mit dem prekären Wissen geschieht, muss bei den Erschütterungsohnmachten zusätzlich zwischen der sogenannten Ver-drängungsohnmacht und der Erkenntnisohnmacht differenziert werden. Bei ersterem Subtypus fungiert die Ohnmacht häufig als Verdrängungsmechanismus, durch welchen die gefährliche Erkenntnis (wieder) tief im Unterbewussten begraben wird oder erst gar nicht ganz durchbricht, und die Figur aus ihrer Ohnmacht ‚unwissend’ in Bezug auf das zuletzt Geschehene wieder erwacht. In solchen Fällen ist der Betroffene auch nach dem Erwachen noch, oder vielmehr wieder, buchstäblich ‚bewusst-los’, das heißt ohne Bewusstsein der vorherigen Erkenntnis. Im zweiten Szenario markiert die Ohnmacht den Punkt der endgültigen Desillusionierung und unterstützt in ihrer Eigenschaft als Zugangsmedium zum Unterbewussten die Bewusstwerdung. Sie hilft, zuvor Verdrängtes wieder an die Oberfläche zu bringen und den Erwachenden die eigene Begrenztheit bis hin zur Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen einsehen zu lassen.

eingesetzt wird und daher von besonderer Bedeutung ist, ist zwischen unterschiedlichen Arten der Ver-drängung bzw. Verkennung der einzelnen Protagonisten zu unterscheiden. Einige über-schätzen sich selbst und ignorieren Wahrheiten in Bezug auf die eigenen Grenzen, andere idealisieren oder verteufeln ihr Gegenüber und verkennen sein wahres Wesen.

Wieder andere meinen, den göttlichen Willen deuten zu können oder blenden, konform der zeitgenössischen Moralvorstellung, die eigene Sexualität aus. In jedem Fall sind die betroffenen Figuren auf die eine oder andere Weise verblendet und wollen sich nicht mit der schmerzhaften Realität konfrontieren. Geschieht dies doch, tritt häufig der Schutzmechanismus der Ohnmacht in Kraft.

Der Kontext der Verrätselung eröffnet noch eine zweite Perspektive auf das Phänomen der Ohnmacht und damit auf den vierten Grundtypus der Besinnungslosigkeit, die fingierte Ohnmacht. Dabei nutzen Figuren die in der Regel positive Reaktion des Umfelds auf die Ohnmacht aus, um andere manipulieren zu können. Die

115 Als handlungsbestimmend sind hier und im Folgenden diejenigen Ohnmachten zu verstehen, deren Einsatz den weiteren Handlungsverlauf entscheidend beeinflusst.

21 losigkeit ist damit bei vielen hier untersuchten Autoren nicht nur Teil des Bewusst-werdungsprozesses der Figuren, sondern kann ebenfalls in ihrer Eigenschaft als Kommunikationsmittel betrachtet werden.116

Über diese vier Grundtypen der Ohnmacht hinaus finden sich zusätzlich noch einige autorenspezifische Arten der Bewusstlosigkeit. Bei der durch geistige Manipulation ausgelösten Ohnmacht werden unter Missbrauch der Praktiken des animalischen Magnetismus Figuren, welche besonders anfällig für die Etablierung von Selbst-täuschungen und Illusionen sind, von anderen Protagonisten, welche ihre Macht demonstrieren wollen, psychisch beeinflusst. Bei der durch bloße Rührung ausgelösten Bewusstlosigkeit überwältigen Gefühle unterschiedlicher Art die betroffene Figur in emotionalen Momenten. Zudem kommt in einem Fall auch die komische Funktion der Ohnmacht als zusätzlicher Darstellungsaspekt zum Tragen. Auch diese speziellen Formen werden gesondert untersucht und zu den Grundtypen der Ohnmacht in Beziehung gesetzt. Dabei gilt es zu hinterfragen, warum der Einsatz jener Arten der Bewusstlosigkeit auf bestimmte Autoren und Einzelfälle begrenzt bleibt.

Das verweist wiederum auf den zeit-genössischen Kontext, gerät die Ohnmacht in ihrer Funktion als Körperzeichen doch auch gesellschaftlich mehr und mehr in den Verdacht mangelnder Authentizität.

In einer Erweiterung der Klassifizierung der Ohnmachten auf anderer Ebene wird den geschlechterspezifischen Differenzierungen besondere Beachtung geschenkt, wobei der Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Tugend- und Weiblichkeitsideal in die Analyse einbezogen wird. Zudem stellt die Beantwortung der Frage nach einer mög-lichen genre- sowie epochenspezifischen Gesamtverteilung der Ohnmachten ein weiteres Ziel der Arbeit dar, weswegen die Schematik auch eine zusätzliche Unter-teilung in diese Kategorien beinhaltet.

Die hier dargelegte Typologie spiegelt sich im Aufbau der Tabellen wider, in welchen alle Ergebnisse der Analyse der Ohnmachtsszenen im Detail aufgeschlüsselt sind.117

116 Vgl. zu auch Berger: Ohnmachtszenarien. S. 165.

Dort sind die Gesamtwerke der jeweiligen Autoren nach Titeln aufgeführt und diejenigen Texte, in welchen Ohnmachten zum Einsatz kommen, in Abhängigkeit zu Gattung und Epoche der Entstehung markiert. Darüber hinaus werden alle Bewusstlosigkeiten eines jeden hier untersuchten Autoren, geordnet nach Art, Geschlecht der betroffenen Figur und der sprachlichen Umschreibung der spezifischen

117 Vgl. Anhang.

22 Ohnmacht, systematisch erfasst und im Textzusammenhang verortet. Das ermöglicht die Auswertung der prozentualen Verteilung, welche Rückschlüsse über quantitative und qualitative Relationen sowohl zwischen den Ohnmachten unterschiedlicher Autoren als auch zwischen den verschiedenen Bewusstlosigkeiten innerhalb des Gesamtwerkes eines bestimmten Autoren erlaubt.

Der erste Teil der Untersuchung beschäftigt sich ausschließlich mit den Werken Hein-rich von Kleists. Dort finden sich insgesamt 47 Ohnmachten, die es zu analysieren gilt.

Die Analyse konzentriert sich auf diejenigen Bewusstlosigkeitstypen, die, basierend auf den in den Tabellen dargelegten Ergebnissen, die höchste Relevanz für die Inter-pretation des kleistschen Werkes aufweisen. Damit scheiden sowohl die krankheits- und verletzungsbedingten als auch die durch Angst oder minderschweren Schock aus-gelösten Ohnmachten aus. Diese sind für den Handlungsverlauf von nur untergeordneter Bedeutung. Zudem machen erstere nur 25,53%, zweitere nur 17,02% aller Ohnmachten bei Kleist aus.118 Der Fokus liegt stattdessen auf der Erschütterungsohnmacht, die im Werk Heinrich von Kleists mit 51,06% am häufigsten und darüber hinaus immer hand-lungsbestimmend ist.119 Alle Erschütterungsohnmachten finden Eingang in die Detail-analyse.

Der Erschütterungsohnmacht kommt im kleistschen Schaffenswerk eine ganz besondere Bedeutung zu. Wie Friedrich Koch in seiner Analyse sehr treffend beschreibt,120 leben die von Kleist gestalteten Figuren, in Einklang mit seinem von persönlicher und er-kenntnistheoretischer Verunsicherung geprägten Menschenbild,121

118 Ihre genaue Positionierung im Werk wird der Vollständigkeit halber in Tabelle I nachgewiesen.

durchweg in einer Welt, deren komplexen Funktionsplan sie aufgrund ihrer eingeschränkten Erkenntnis-fähigkeit nicht vollständig erfassen können. Um eine Orientierung dennoch überhaupt möglich zu machen, schaffen sie sich, in Bezug auf Gott, ihre Mitmenschen oder auch sich selbst, bestimmte Erklärungsmodelle, welche auf ihrer persönlichen, also

subjek-119 Bei Kleist sind Ohnmachten somit nie ein Zeichen von innerer Konfliktlosigkeit wie beispielweise von Trummeter für Prevost und Marivaux nachgewiesen. Dies.: Ohnmacht. S. 137-156.

120 Zur gängigen These, dass Kleist eine unsichere, von Missverständnissen geprägte Welt in seinen Werken gestaltet, vgl. unter anderem grundsätzlich auch Müller-Seidel: Versehen, Schmidt: Kleist und Strässle: Kleist.

121 Kleist erlebt diese Verunsicherung seit der sogenannten Kantkrise, welche zu eben jener Weltsicht führt, die er in seinem Werk unter anderem auch unter Zuhilfenahme der Ohnmacht vermittelt. Diese, in der Forschung ausführlich und kontrovers diskutierte (Vgl. dazu Kapitel 2 der Einleitung) Krise soll hier nicht im Detail nachgezeichnet werden, da die Arbeit nicht biographisch ausgerichtet ist. Die Weltsicht selbst wird unter der gegebenen Fragestellung nach der Bedeutung der Ohnmacht jedoch deutlich anhand der literarischen Zeugnisse Kleists herausgearbeitet werden.

23 tiven Wahrnehmung und Erfahrung der Dinge gründen. Diese zunächst einmal prak-tische Überlebenstechnik birgt die Gefahr der Verallgemeinerung der eigenen Vor-stellungen. Das verdeutlicht Kleist anhand der von ihm beschriebenen Reaktion seiner Protagonisten auf unangenehme und ihrem Wunschdenken widersprechende Tat-sachen122 immer wieder in psychologischer Schärfe.123

Den Figuren fällt es offensichtlich schwer, zuvor verdrängte unliebsame Wahrheiten in Bezug auf sie selbst sowie das Wissen um ihre begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit und ihre damit einhergehende Machtlosigkeit anzuerkennen. Geht doch mit seiner voll-ständigen Akzeptanz die Erkenntnis einher, dass nicht nur die bisherigen Orientierungs-werte Teil einer Illusion

124 waren, sondern dass auch alles Folgende nichts anderes sein kann. Der im Kern jedes Werkes stehende Bewusstwerdungsprozess ist damit unum-gänglich und die Erschütterungsohnmacht wird als Reaktion auf die erschreckende Erkenntnis zu einem wichtigen Faktor für die Entwicklung desselben.125

Nur selten verwendet Kleist die vorgetäuschte Bewusstlosigkeit. Doch sie verdient vor dem Hintergrund der beschränkten Erkenntnisfähigkeit der Figuren, welche die Täu-schenden ausnutzen, in jedem Fall Beachtung, da sie den kleistschen Ohnmachtsbegriff um den Aspekt der Zeichenwirkung erweitert. Bei Kleist, der deutliche Kritik an der Vermittlungsfähigkeit von Sprache

Im Folgenden gilt es, sowohl die Umstände, unter welchen die Ohnmacht erfolgt, als auch die Funktion der Ohnmacht und ihre Wirkung auf den Handlungsverlauf genau zu be-leuchten.

126 und sämtlichen anderen Symbolordnungen127

122 Koch: Kleist. S. 45.

übt,

123 Vgl. zu Kleists Einsatz und Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie unter anderem Schmid-bauer, Wolfgang: Kleist. Die Entdeckung der narzisstischen Wunde. Gießen: 2011. Besonders S. 180-186.

124 Illusion meint hier und auch im Folgenden immer die von der Realität abweichende subjektive Vorstellungswelt der Figuren. Auch die Bezeichnung Desillusionierung wird häufiger verwendet werden, womit die umfassende Erkenntnis des vorherigen Irrtums und der tatsächlichen Umstände bezeichnet wird.

125 „Die conditio humana wird bei Kleist bekanntlich im defizienten Zeichen der Ohnmacht thematisch“.

Die Menschen sind ausgeliefert und das „traumatische Dasein“ wird bestimmt von „Doppeldeutigkeit“.

Die Ohnmacht ist nicht nur „resignatives Eingeständnis einer […] Depotenzierung“, sondern auch

„Affirmation einer körperlichen Intensität“. Sie äußert sich im „Gefühl der Machtlosigkeit“, in

„libidinösen Zuständen der Bewußtlosigkeit" und im „somnambulen Zustand“. Wetzel, Michael: Geben und Vergeben. Vorüberlegung zu einer Neudeutung der Ambivalenzen bei Kleist, in: Kleist Jahrbuch (2000), S. 79-103. Hier S. 89-91.

126 Vgl. dazu ausführlich Kapp, Gabriele: "Des Gedankens Senkblei". Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799-1806. Stuttgart: 1999 und Heimböckel: Unaussprechlichkeit.

127 Er legt in seinen Werken den Institutionalisierungsprozess des Symbols offen und hält seinen

„Setzungscharakter“ für „unausweichlich“. Kammer, Stephan: Natur, Ding, Sprache, Körper. Institution

24 sind diese immer defizitär, wobei er den Körperzeichen eine geringfügig größere Verlässlichkeit einräumt.128

Zudem soll gefragt werden, zu welchem Grad und in welcher Weise die sprachliche Umsetzung der Ohnmachtsthematik für die inhaltliche Interpretation der kleistschen Bewusstlosigkeiten von Belang sein kann. Systematisch untersucht werden dafür die Ohnmachtsbezeichnungen selbst sowie die von Kleist in ihrem Umfeld verwendete und auf sie bezogene Symbolik. Überdies wird in diesem Zusammenhang knapp darauf einzugehen sein, welchen Stellenwert die Ohnmacht innerhalb der für das Werk des Autors so wichtigen Gruppe der Körperzeichen einnimmt und ob einige von diesen häufiger als andere in einem textuellen oder inhaltlichen Zusammenhang mit ihr stehen.

Die Ohnmachten werden von den dem Geschehen beiwohnenden Figuren auf eine bestimmte Weise interpretiert und tragen auf diese Weise zur Einschätzung des bewusstlos gewordenen Charakters bei. Auf diese Weise sehen sie sich ihrerseits mit der undurchschaubaren Welt konfrontiert, in welcher alle Zeichen, so auch die Ohnmacht, mehrdeutig sind. Unter Bezugnahme auf die Zeichen-wirkung des Phänomens Ohnmacht werden im Weiteren daher auch Funktion und Folgen der fingierten Ohnmacht im Handlungsverlauf beleuchtet.

Eine Auseinandersetzung mit Kleist führt zu der Frage der Repräsentativität, wird er doch als literarischer und sozialer Außenseiter eingestuft, der keiner Literaturepoche zu-zuordnen ist129 und seiner Zeit weit voraus war.130 Allzu leicht ließe sich hieraus die These ableiten, auch in Bezug auf seinen Ohnmachtsbegriff sei der Autor einzigartig gewesen. Statt jedoch das nicht nur in jüngster Zeit vielfach propagierte Bild vom Ausnahmedichter Kleist, der nirgendwo ganz dazuzugehören scheint,131

und De/Figuration des Symbols bei Kleist, in: Aktualität des Symbols, hg. von Frauke Berndt und Christoph Brecht. Freiburg i. Br.: 2005 (Rombach-Wissenschaften. Reihe Litterae, Band 121), S. 279-312. Hier S. 284-285.

unbesehen zu

128 Vgl. dazu unter anderem auch Heimböckel. Unaussprechlichkeit. S. 293: Die körperlichen Zeichen, seien sie unwillkürlich oder willkürlich, sind bei Kleist auch konventionell und bieten somit „keine letzte Sicherheit“.

129 Vgl. dazu auch Goldammer, Peter: Heinrich von Kleist. Leipzig: 1980 und Beutin, Wolfgang, Ehlert, Klaus, Emmerich, Wolfgang, Hoffacker, Helmut, Lutz, Bernd, Meid, Volker, Schnell, Ralf, Stein, Peter, Stephan, Inge: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5. überarbeitete Auflage. Stuttgart/Weimar: 1994. S. 188.

130 Caroline Wagner nennt ihn einen „Wegbereiter der narrativen Moderne“. Dies.: Subversives Erzählen.

E.T.A. Hoffmann und Heinrich von Kleist. Würzburg: 2012 (Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte, Bd. 27). S. 242.

131 Vgl. hier in jüngster Zeit stellvertretend Blamberger, Günter: „Nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis“. Über das Unzeitgemäße an Kleist. Rede zur Eröffnung der Kleist-Ausstellung am 20. Mai 2011 im Ephraim-Palais, in: Kleist-Jahrbuch (2011), S. 37-42. Hier. S. 39-40: „Kleist fällt aus seiner Zeit und aus allen Träumen des deutschen Idealismus heraus. Er wird dadurch unter den großen der

25 übernehmen, macht es sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe, die Annahme seines Sonderstatus im Detail zu prüfen.

Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich daher der Frage nach der Über-tragbarkeit des kleistschen Ohnmachtsverständnisses auf die Gesamtwerke anderer wichtiger Autoren in der Zeit von ca. 1750-1830. Hierfür wird ihre Verwendung der Bewusstlosigkeit mit der Vorgehensweise Kleists sowie untereinander verglichen. So gilt es vor allem, die Gründe für den Bewusstseinsverlust sowie dessen Zeichenwirkung zu berücksichtigen, wobei auch hier, abgesehen von autorenspezifischen Typen der Bewusstlosigkeit, prinzipiell die Frage nach der Bedeutung der Erschütterungsohnmacht und der fingierten Ohnmacht bei der Analyse im Vordergrund stehen wird. Der Unter-suchungsschwerpunkt liegt mit Werken von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Jakob Michael Reinhold Lenz, Novalis und E.T.A. Hoffmann auf der deut-schen Literatur. Nur punktuell wird vergleichend auf die englische und französische Literatur der Zeit um 1800 verwiesen, da eine genauere Untersuchung dieses durchaus fruchtbaren Gebiets den Rahmen dieser Arbeit sprengte. Zusätzlich werden einzelne Ohnmachtsszenarien anderer deutschsprachiger Autoren, wie beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing, als Vergleichspunkte in die Analyse einbezogen. Eine differenzierte Betrachtung der Werke Novalis‘ ergab, dass der Autor das Gestaltungsmittel der Ohnmacht nur in einem Fall und dort nicht handlungsbestimmend einsetzt und Erschütterungsohnmachten gar nicht verwendet, sodass ihm kein eigenes Kapitel und keine Tabellen gewidmet sind. Dennoch fließen auch die für ihn eruierten Resultate in die Erörterung der Thematik ein.132

Um die Grundlage für eine Diskussion der Bedeutung des Geschlechts für Quantität und Qualität der untersuchten Ohnmachten zu erweitern, finden auch die Werke der Auto-rinnen Sophie La Roche und Sophie Mereau Eingang in die Untersuchung. Dabei werden dieselben Kriterien wie bei den männlichen Autoren angelegt, die Ergebnisse aber zusätzlich unter der Fragestellung der besonderen sozialen Voraussetzungen für die Autorinnen beleuchtet.

deutschen Literatur zum denkbar größten Ausnahmefall bis heute: zu einem skeptischen Moralisten und illusionslosen Analytiker menschlichen Verhaltens, der die Helden seiner Dramen und Erzählungen in Krisen und Katastrophen treibt und dabei die Welt zur Kenntlichkeit entstellt.“ Zudem sei auf Kristina Fink verwiesen, die Kleist als „eine Art Limesfigur der Epochenschwelle um 1800“ bezeichnet. Dies.:

Kantkrise. S. 210.

132 Vgl. dazu Teil II: Kapitel 4.

26 Eingang in die Analyse finden sowohl Dramen als auch Erzählungen, wobei sich herausstellen wird, dass Funktion und Wirkung der Bewusstlosigkeit in der Regel nicht von der Zuordnung zu der einen oder anderen Gattung abhängig sind und sich auch in der Darstellung keine generellen Unterschiede zeigen.133

Im ersten Teil der Arbeit sind die übergeordneten Kapitel nach der jeweiligen Ver-blendung bzw. Illusion sortiert, auf deren Erkenntnis der Protagonist mit seiner Ohnmacht reagiert, während die einzelnen Unterkapitel sich jeweils der Entwicklung einer bestimmten Figur widmen. Auf diese Weise lassen sich die jeweiligen Ver-drängungs- oder Erkenntniseffekte der Bewusstlosigkeiten innerhalb des Gesamttextes verknüpfen. Gleichzeitig ermöglicht eine solche Anordnung, anders als im Falle eines subtypspezifischen Aufbaus, eine einheitliche Betrachtung der jeweiligen Figuren-entwicklung. Die fingierte Ohnmacht im Werk Heinrich von Kleists wird am Ende des ersten Teils gesondert erläutert, da ihrer Betrachtung ein Wechsel der Perspektive von Ursachenorientierung auf die Zeichenwirkung des Phänomens vorausgehen muss. Im zweiten Teil der Untersuchung werden aus Gründen der Übersicht die Ohnmachten jedes Vergleichsautors in einem separaten Kapitel abgehandelt. Deren Unterkapitel sind jeweils nach der Art der zu untersuchenden Ohnmacht geordnet, wobei jede betroffene Figur im Rahmen des Handlungskontexts noch einmal einzeln betrachtet wird.

Im ersten Teil der Arbeit sind die übergeordneten Kapitel nach der jeweiligen Ver-blendung bzw. Illusion sortiert, auf deren Erkenntnis der Protagonist mit seiner Ohnmacht reagiert, während die einzelnen Unterkapitel sich jeweils der Entwicklung einer bestimmten Figur widmen. Auf diese Weise lassen sich die jeweiligen Ver-drängungs- oder Erkenntniseffekte der Bewusstlosigkeiten innerhalb des Gesamttextes verknüpfen. Gleichzeitig ermöglicht eine solche Anordnung, anders als im Falle eines subtypspezifischen Aufbaus, eine einheitliche Betrachtung der jeweiligen Figuren-entwicklung. Die fingierte Ohnmacht im Werk Heinrich von Kleists wird am Ende des ersten Teils gesondert erläutert, da ihrer Betrachtung ein Wechsel der Perspektive von Ursachenorientierung auf die Zeichenwirkung des Phänomens vorausgehen muss. Im zweiten Teil der Untersuchung werden aus Gründen der Übersicht die Ohnmachten jedes Vergleichsautors in einem separaten Kapitel abgehandelt. Deren Unterkapitel sind jeweils nach der Art der zu untersuchenden Ohnmacht geordnet, wobei jede betroffene Figur im Rahmen des Handlungskontexts noch einmal einzeln betrachtet wird.