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I. Heinrich von Kleist

1. Friedrich Schiller – Das freie Individuum

1.1 Schiller und Kleist – Vergleichswerte

1.2.4 Johanna – (Pflicht-)Gefühle

Die drei bisher untersuchten Beispiele haben anschaulich gezeigt, welch große Bedeutung auch Schiller der menschlichen Neigung zur Missdeutung als Ursprung tragisch endender Fehlleistungen beimisst. Dabei gesteht er den Erschütterungs-ohnmachten innerhalb seiner Stücke großen spezifischen Einfluss auf die Bewusstseins-entwicklung seiner Figuren zu, welche sich in jedem Fall komplex gestaltet. Noch vielschichtiger als Franz Moor, Fiesko oder Leonore aber präsentiert sich Johanna in Die Jungfrau von Orleans,848

Im Prolog offenbart Johanna, Gott habe zu ihr gesprochen und sie dazu berufen, als seine Kämpferin in die Schlacht zu ziehen, um Frankreich von den Engländern zu befreien.

deren zu Ohnmacht und Krise führender Trugschluss Merkmale unterschiedlichster Utopien und Konflikte in sich vereint.

849 Die Liebe zu einem Mann, Heirat und die Gründung einer Familie seien ihr dagegen nicht bestimmt.850 Der Helm, welchen Bertrand gemeinsam mit seinen Berichten über die Kriegsereignisse bringt, sei das „Zeichen“,851 welches Gott ihr zur Markierung des richtigen Zeitpunkts für den Aufbruch zum König und anschließend in die Schlacht verheißen habe. Dieser Ablauf scheint sie zunächst in eine Reihe mit Kleists Käthchen zu setzen, welches durch ihr Silvesternachterlebnis in die für sie von Gott vorgesehene Zukunft eingeweiht wird.852

848 NA. Jungfrau.

Anders als in diesem Fall gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, dass Johanna tatsächlich Einsicht in die göttlichen Pläne erhalten

849 „Denn wenn im Kampf die Mutigsten verzagen, wenn Frankreich letztes Schicksal nun sich naht.

Dann wirst du meine Oriflamme tragen, Und wie eine Schnitterin die Saat, den stolzen Überwinder niederschlagen, umwälzen wirst du seinen Glückes Rad, Errettung bringen Frankreichs Heldensöhnen, und Reims befrein und deinen König krönen!“ Ebd. S. 181.

850 „[…] Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren mit sündgen Flammen eitler Erdenlust, nie wird ein Brautkranz Deine Locken zieren, Dir blüht kein lieblich Kind an Deiner Brust […].“ Ebd.

851 Ebd.

852 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 3.3.

162 hat. Im Gegenteil deuten sowohl die nicht eindeutig christliche Bildlichkeit853 ihrer Vision als auch ihre nationalistische Kriegsrhetorik854 darauf hin, dass Schiller ihre Gottesbegegnung als nie wirklich stattgefunden angelegt hat und diese lediglich die Projektion ihrer „nationalen[n] und kriegerische[n] Spontaneität“855 auf einen ihr Handeln legitimierenden Bereich darstellt.856 Die Imagination eines himmlischen Auftrags, an deren Existenz sie selbst fest glaubt, ermöglicht es ihr, ihre eigentliche, für eine Frau unangemessene857 und mit Ruhmsucht in Verbindung zu bringende858 Motivation zu verdrängen und Selbstvertrauen für ihr Vorhaben zu schöpfen.859 Damit gehört sie eindeutig in die Reihe derer, welche den totalen Anspruch auf Ver-wirklichung ihrer Wünsche auf höchster Ebene vollziehen und bestimmte Gegeben-heiten als für sie vorteilhafte göttliche Zeichen interpretieren. In einer gesteigerten Form der Utopie Jeronimos860

Ihre eigene Verblendung intuitiv als unabdingbare Vorrausetzung der Verwirklichung ihres Vorhabens etablierend, ist sich Johanna nicht bewusst, dass sie sich auf diese ist Johanna nicht nur der Ansicht, den göttlichen Willen klar deuten zu können, sondern meint sogar, in ständiger persönlicher Zwiesprache mit Gott zu stehen und von diesem direkt in ihrem Handeln geleitet zu werden.

853 Christliche Motive werden mit heidnischen vermischt, sodass die Rolle der Transzendenz unklar wird.

Zum ausführlichen Nachweis dieser These am Text verweise ich auf Guthke: Dramen. S. 247-248.

Darüber hinaus stellt Johanna die Überbringung der göttlichen Botschaft an sie nicht einheitlich dar.

Nachdem sie zunächst die Stimme Gottes beschreibt, ist es später die Jungfrau Maria gewesen, mit welcher sie Zwiesprache gehalten hat. NA. Jungfrau. S. 180 und 207.

854 Beispiele: „Dies Reich soll fallen? Dieses Land des Ruhms, das schönste, das die ewge Sonne sieht in ihrem Lauf, das Paradies der Länder […] die Fesseln tragen eines fremden Volks!“ und „Der Retter naht, er rüstet sich zum Kampf. Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern, sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif. Mit ihrer Sichel wird die Jungfrau kommen, und seines Stolzes Saaten niedermähn […]“. NA.

Jungfrau. S. 178 und 177.

855 Guthke: Dramen. S. 247.

856 Viele Vertreter der aktuellen Schiller-Forschung teilen diese These oder konstatieren zumindest eine Unsicherheit bezüglich der Echtheit der Visionen. So ist Julie Prandi davon überzeugt, dass kein göttlicher Auftrag existiert (Dies.: Heroes. S. 75-77). Alt geht davon aus, dass Johanna zwar Kraft aus ihrem Glauben schöpft, doch primär national motiviert ist. Er ist sich nicht sicher, ob die Erscheinungen echt sind, jedoch ist klar, dass sie fest an diese glaubt (Ders.: Schiller. S. 519-520). In der älteren Forschung dagegen hält man ihren göttlichen Auftrag zumeist für tatsächlich existent augestaltet. Vgl.

unter anderem Wiese: Schiller; Storz: Schiller; Graham: Drama.

857 Vgl. dazu auch Stephan, Inge: „Da werden Weiber zu Hyänen...“. Amazonen und Amazonenmythen bei Schiller und Kleist, in: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18.

Jahrhunderts, hg. von ders., S. 113-134. Hier S. 125 sowie Albert: Schiller. S. 58. Anders als diese bin ich nicht der Ansicht, dass die Geschlechterthematik in Schillers Drama die Hauptrolle spielt. Ich stimme mit ihnen jedoch darin überein, dass das Amazonische in Johanna durch den göttlichen Auftrag zurück-gedrängt wird. Dieser ermöglicht es ihr, legitimiert aus ihrer Frauenrolle herauszutreten.

858 Sie selbst thematisiert eine solche Motivation, verneint sie durch den Verweis auf ihren göttlichen Auftrag jedoch sofort wieder. NA. Jungfrau. S. 180.

859 Johannas Glauben an Gott korrespondiert mit ihrem Glauben an sich selbst. Pikulik: Psychologe. S.

262.

860 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 3.2.

163 Weise selbst in einen schwerwiegenden Konflikt hinein manövriert, welcher dem der Amazonenkönigin Penthesilea sehr ähnlich ist. Die Bedingungen ihres ‚göttlichen Auftrags‘, welche ihr Bewusstsein festlegt, um die gesteckten Ziele erreichen zu können, fordern von ihr, moralische Maßstäbe und persönliche Emotionen zu verdrängen,861 ist sie doch der Meinung, ihr Kriegshandwerk nur so plangemäß und konsequent ausführen zu können. Wie im Falle der Amazonenkönigin lassen sich die unterdrückten Gefühle von ihr jedoch nicht langfristig unter Verschluss halten.862 Gerade deren Verbot‘ führt dazu, dass sie umso stärker an die Oberfläche drängen und mit dem selbst auferlegten ‚Gesetz‘ kollidieren. Wo eine von Vornherein bestehende bewusste Akzeptanz des Spannungsverhältnisses unter Prüfung der ultimativen Gültig-keit der Bestimmungen863

Bereits zu Beginn des Stückes weist Johannas Vater darauf hin, dass der Verschluss des Herzens gegen jedwedes Gefühl

zu einer möglichen Vereinbarkeit beider Aspekte verholfen hätte, sabotiert nun gerade dessen Verdrängung den Erfolg desjenigen Vorhabens, welches durch die Verkennungshaltung realisiert werden sollte. Eine ständige Ver-drängung bringt neue Formen der Verkennung hervor. Die unabwendbare Bewusst-werdung des Konflikts führt darüber hinaus zu übermäßiger Verwirrung und Ver-zweiflung.

864 häufig mit „sündgen Hochmut“865 einhergeht. Und tatsächlich wird Johannas von Anfang an vorhandenes, wenn auch ausgeblendetes Verlangen nach persönlichem Ruhm im Verlauf der Handlung durch aufkeimende Hybris866

861 Darin, dass Johanna ihre Gefühle bzw. ihre menschliche Seite unterdrückt, ist man sich in der Forschung seit langer Zeit einig. Während Wiese dies jedoch als ihre göttliche Bestimmung und ihre Verhaftung im Menschlichen als Schwäche ansieht (Ders.: Schiller. S. 738), ist in der neueren Sekundär-literatur durchweg von einem negativ zu bewertenden Verkennungszustand die Rede. Vgl. stellvertretend Alt: Schiller. S. 518 und Pikulik: Psychologe. S. 269.

und unnötige Grausamkeit gegenüber ihren Feinden ergänzt. In dem

ange-862 Im Unterschied zu Johanna ist Penthesilea in einem noch ausgeprägteren Konflikt gefangen. Sie fühlt sich den Gesetzen der Amazonen unterworfen, mit denen sie aufwuchs, aber die sie nicht selbst festgelegt hat. Ihre Gefühle für Achill sind auch an die Vorhersage ihrer Mutter gebunden, welche ebenso für das Amazonenreich steht. Die Unlösbarkeit des Konflikts beruht hier wie bei Johanna auf der Akzeptanz eines Gesetzes, welches in seiner Gültigkeit zu prüfen ist, sowie der gleichzeitigen Verdrängung von Gefühlen und dem damit einhergehenden Konflikt, welcher anerkannt als solcher durchaus gelöst werden könnte. Vgl. dazu Teil I: Kapitel 1.2.

863 Timothy Sellner weist treffend darauf hin, dass es bei Johannas Liebesverbot nicht nur um das Bewahren ihrer Jungfräulichkeit, sondern auch um die Vermeidung jeglicher zärtlicher Gefühle geht und dies ein Anspruch ist, dem sie ohnehin nur durch Verdrängung gerecht werden kann. Ders.: The Lionel-Scene in Schiller’s Jungfrau von Orleans, in: The German Quarterly, L (1977), 264-282. Hier S. 272-273.

864 NA. Jungfrau. S. 169.

865 Ebd. S. 171.

866 Vgl. dazu auch Graham: Drama. S. 182.

164 strengten Versuch, Emotionen und Moral zu unterdrücken,867 überzeugt sie sich selbst immer mehr von ihrer vermeintlich göttlichen Inspiration und schlussfolgert daraus ihre Unbesiegbarkeit868 und die Unumgänglichkeit der Unerbittlichkeit gegenüber ihren Feinden.869

Der Punkt, an welchem Johanna ihre Emotionen nicht länger unter Verschluss halten kann, wird schließlich durch die Begegnung mit Montgomery markiert. Seine Ermordung, sie tötet ihn trotz seiner Kapitulation und des Bittens um Gnade,

In deutlicher Parallele zu Franz Moor und Fiesko ist sie, bedingt durch ihre Verblendung, zunächst von dem Erfolg ihrer Mission sowie deren Richtigkeit über-zeugt.

870 hebt sich von der Vielzahl ihrer im Kampf durch ihre Hand gestorbenen Gegner ab, Johanna beginnt zu zweifeln:871

Erhabne Jungfrau, du wirkst Mächtiges in mir! Du rüstest den unkriegerischen Arm mit Kraft, dies Herz mit Unerbittlichkeit bewaffnest du. In Mitleid schmilzt die Seele und die Hand erbebt, als bräche sie in eines Tempels heilgen Bau, den blühenden Leib des Gegners zu verletzen, schon vor des Eisens blanker Klinge schaudert mir, doch wenn es not tut, alsbald ist die Kraft mir da und nimmer irrend in der zitternden Hand regiert das Schwert sich selbst, als wär es ein lebendger Geist.872

In diesen Worten zeigt sich, dass moralische Bedenken von Johanna Besitz ergreifen.

Indem sie die eigentliche Tat auf das ‚göttliche‘ Schwert projiziert, gelingt es ihr, sich von der von ihr begangenen Verwerflichkeit zu distanzieren. Zudem wird deutlich, wie sehr Johannas kämpferisches Geschick und ihre Kraft von ihrem Glauben an eine göttliche Beseelung abhängen.873

867 Bereits die Etablierung der Ursprungsverblendung fiel ihr nicht leicht, wie sich deutlich an ihrer Rede gegenüber dem französischen König zeigt, in welcher sie die Überbringung des Kampfbefehls durch die Jungfrau Maria beschreibt. Sie berichtet, sie habe sich zunächst gesträubt, der Aufforderung, statt Gefühlen den Krieg zu wählen, nachzukommen, Maria aber habe schließlich an ihre Pflicht appelliert.

NA. Jungfrau. S. 208.

Mit den aufkeimenden Zweifeln schwindet auch ihr Selbstvertrauen und ein Teil ihrer Verblendung beginnt aufzubrechen. Sie wird anfällig

868 Als ihre Mitstreiter sie vom Kampf abhalten wollen, setzt sie dem ihre Bestimmung, an diesem Tage nicht zu fallen, entgegen: „[…] Wo die Gefahr ist, muss Johanna sein, nicht heut, nicht HIER ist mir bestimmt zu fallen […]“. Ebd. S. 225.

869 Sie ist der Ansicht, alle Briten töten zu müssen: „Du bist des Todes! Eine britische Mutter zeugte dich.

[…] Doch tödlich ists der Jungfrau zu begegnen. Denn dem Geisterreich, dem strengen, unverletzlichen, verpflichtet mich der furchtbar bindende Vertrag, mit dem Schwert zu töten alles Lebende, das mir der Schlachten Gott verhängnisvoll entgegen schickt.“ Ebd. S. 228.

870 Ebd. S. 229-231.

871 Vgl. dazu auch Guthke: Dramen. S. 251.

872 NA. Jungfrau. S. 231.

873 Vgl. dazu auch Richards, David: Mesmerism in Die Jungfrau von Orleans, in: Publications of the Modern Language Association of America 91 (1976), 4, S. 856-870. Hier S. 861.

165 für die in ihrem Unterbewusstsein verschlossenen (Schuld-)Gefühle und Unsicherheiten bezüglich der Motivation ihres Handelns.

Trotz aller Bemühungen gelingt es Johanna anschließend nicht mehr, durch Ver-drängung vollständig in ihre ursprüngliche Rolle zurückzufinden. Sie verschont ihren nächsten Gegner, den Herzog von Burgund, und ihre Berufung auf den göttlichen Wunsch nach Versöhnung der Kinder Frankreichs874 verschleiert ihr eigentliches Motiv, ihren Wunsch nach Abkehr vom Töten, nur lückenhaft. Erst die Heiratsanträge La Hires und Dunois‘ vermögen es, die zuvor durch ihren festen Glauben an ihre Bestimmung Unantastbare so tief zu verunsichern, dass sie sich in der verzweifelten Hoffnung auf eine damit einhergehende Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Illusion erneut auf das Schlachtfeld flüchtet.875 Ihre Verblendung flammt erneut in obsessiver Weise auf,876 um schließlich mit ihrer Erschütterungsohnmacht ihr vorläufiges Ende zu nehmen.

Eingeleitet wird ihre Desillusionierung zunächst durch die Erscheinung des Schwarzen Ritters, in welchem sich all ihr unterbewusstes Wissen, ihre verdrängten Zweifel, ihre Emotionen und Schuldgefühle manifestieren.877 Er weist sie auf ihre Selbstüber-schätzung hin und warnt sie vor erneutem Kampf:

Entlasse Das Glück, das Dir als Sklave hat gedient, eh es sich zürnend selbst befreit, es haßt die Treu und dient keinem bis zum Ende.878

Doch statt auf seinen Rat zu hören und zum König in den Palast zurückzukehren, wo ein langsamer Bewusstwerdungsprozess vielleicht eine Versöhnung mit ihren Emo-tionen ermöglicht hätte, interpretiert sie ihn als Boten der Hölle, welcher sie von ihrem

874 NA. Jungfrau. S. 249.

875 Der vehemente Aufruf des Königs, sie möge doch wenigstens nach dem Kampf ihre weiblichen Gefühle zulassen, lässt sie wild um sich schlagen: „[…] Die Neigung trüge zu dem irdschen Mann! Mir wäre besser, ich wär nie geboren! […]“ Ebd. S. 254. Sie wird hier mit Gefühlen konfrontiert, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Verblendung unbedingt weiterhin verdrängen muss. Besonders die Berührungen der um sie werbenden Männer machen ihr dies jedoch schwer. Vgl. dazu Sellner: Jungfrau. S. 274-275.

876 „Schlacht und Kampf! Jetzt ist die Seele ihrer Banden frei. […]“ NA. Jungfrau. S. 254.

877 Vgl. dazu auch Richards: Mesmerism. S. 861; Hermann, Gernot: Schillers Kritik an der Verstandesaufklärung in der Jungfrau von Orleans. Eine Interpretation der Figuren des Talbot und des Schwarzen Ritters, in: Euphorion 84 (1990), S. 163-186. Hier: S. 183-184; Guthke: Dramen. S. 251;

Pikulik: Psychologe. S. 270. Abweichend urteilt Alt, dass der Ritter eine Reflektion von Johannas Angst, ihrer Rolle nicht gerecht zu werden, sei (Ders.: Schiller. S. 516). Da Johanna hier jedoch eindeutig moralische Zweifel äußert, halte ich eine solche Deutung für weniger treffend.

878 NA. Jungfrau. S. 262.

166 göttlichen Auftrag abbringen soll.879 Sie stürzt sich erneut in den Kampf und erfährt in der Begegnung mit Lionel eben jenes plötzliche und irreführende Aufbrechen ihrer Verblendung, vor welchem der Ritter sie schützen wollte.880

In dem Moment, in dem sie Lionels Gesicht erblickt, ist Johanna nicht mehr in der Lage, ihn zu töten.

881 Ohne Helm nimmt sie ihn als individuelles menschliches Wesen wahr882 und wird sich dadurch schließlich vollständig des lange ausgeblendeten Konflikts zwischen ihrem vermeintlichen Auftrag und ihren eigenen (moralischen) Gefühlen bewusst.883 Mit der Erkenntnis, dass ihre bisherigen Taten sie ihre Mensch-lichkeit gekostet haben, dringen auch all ihre unterdrückten Emotionen wieder an die Oberfläche.884 Um die mit dieser Bewusstwerdung einhergehende Schuld und Macht-losigkeit nicht spüren und sich die eigentliche Motivation ihres Handelns nicht ein-gestehen zu müssen, versucht sie verzweifelt, zumindest an ihrer Vorstellung von der Echtheit des göttlichen Auftrags weiterhin festzuhalten.885 Die mit dem Glauben an ein Versagen gegenüber Gott einhergehende Verzweiflung erscheint ihr erträglicher als die vollständige Desillusionierung. Doch die Tatsache, dass Lionel ihre Verletzlichkeit erkennt,886 bringt sie der endgültigen Bewusstwerdung näher. Der sonst so Wort-gewaltigen versagt die Sprache,887 die empfundene Ohnmacht nimmt ihr jegliche körperliche Kraft888 und sie flüchtet sich, verzweifelt bis hin zur Todessehnsucht, in eine vorerst schützende Erschütterungsohnmacht: „Laßt es [mein Blut, J.F.] mit meinem Leben hinströmen!“ Sie liegt ohnmächtig in La Hires Armen.889

879 „[…] Ein trüglich Bild der Hölle wars, ein widerspenstger Geist […]“. Ebd. S. 263.

880 Darüber hinaus kann er im Sinne von Frey auch als Todesbote gedeutet werden (Frey, John: Schillers schwarzer Ritter, in: The German Quarterly 32 (1959), S. 302-315. Hier. S. 311). In mehrfacher Hinsicht sagt er ihr ein Ende voraus.

881 NA. Jungfrau. S. 263. Interessant ist an dieser Stelle, dass Johanna Lionel selbst den Helm vom Kopf reißt. Sie treibt auf diese Weise ihre Bewusstwerdung selbstständig voran, was auf einen unbewussten Wunsch nach dem Ausbrechen aus der sie die Menschlichkeit kostenden Verdrängung hindeuten könnte.

882 Dies wird auch in ihrer späteren Reflektion deutlich: „Warum mußt ich ihm in die Augen sehen! […]

Ein blindes Werkzeug fordert Gott, mit blinden Augen musstest dus vollbringen! […]“ Ebd. S. 270.

883 Vgl. dazu auch Guthke: Dramen. S. 254.

884 Vgl. dazu Sauder, Gerhard: Die Jungfrau von Orleans, in: Hinderer: Interpretationen. S. 217-241. Hier S. 228, Alt: Schiller. S. 524 und Pikulik: Psychologe. S. 271.

885 „Was hab ich getan! Gebrochen hab ich mein Gelübde!“ NA. Jungfrau. S. 265.

886 Vgl. dazu Richards: Mesmerism. S. 863.

887 Zunächst ist sie völlig sprachlos und behilft sich nur mit Zeichen. Dann sind ihre Redeanteile durch Interjektionen und Satzabbrüche gekennzeichnet. NA. Jungfrau. S. 263-267. Vgl. dazu auch Albert:

Schiller. S. 69. Diese deutet die Ohnmacht als „Flucht vor dem Versagen der Sprache“. Ähnlich Sauder:

Jungfrau. S. 228.

888 Als Symbol dafür steht auch der Verlust ihres Schwertes. Sie kann sich nicht dagegen wehren, dass Lionel es ihr entwindet. NA. Jungfrau. S. 265.

889 Ebd. S. 267.

167 Eine Analyse des Monologs im unmittelbaren Anschluss an Johannas Ohnmacht zeigt, dass diese Ohnmacht ihr nicht dazu verhelfen kann, in ihre ursprüngliche Selbsttäuschung zurückzukehren. Sie ist sich des in ihr bestehenden Konflikts bewusst und schwankt zwischen dem Glauben, dass „Mitleid“ und „Menschlichkeit“ nicht

„strafbar“ sein können“890 und der Selbstgeißelung wegen ihres „arglistig[en]

Herz[ens]“, das sie davon abhielt, ihren Pflichten gemäß zu handeln.891 Im extremen Gegensatz zu ihrer vorherigen anmaßenden Haltung zeigt sie sich nun völlig entmutigt und ohne Selbst-vertrauen.892 Verhindert hat ihre Bewusstlosigkeit allerdings die Erkenntnis des wahren Ursprungs ihrer vermeintlichen Pflichten. Johanna will noch immer daran glauben, aufgrund eines göttlichen Auftrags in diesen Zwiespalt geraten zu sein, bewahrt sie dies doch davor, Verantwortung für ihre nun als unmenschlich erkannten Taten zu über-nehmen.893 Wie vor der Ohnmacht zieht sie auch jetzt noch die Anerkennung des Scheiterns eines göttlichen Auftrags dem Bewusstsein ihrer Eigenverantwortlichkeit und der Akzeptanz ihres eigenen Inneren als Ursprung des Konflikts vor. Im Einklang damit steht auch die Tatsache, dass Johanna nicht Mitleid und Menschlichkeit, sondern zärtliche Gefühle für Lionel als Auslöser für ihr Zögern bei dessen Tötung identi-fiziert.894 Sie empfindet eine Schuld, die sie aufgrund der immer noch bestehenden par-tiellen Verdrängung nicht als Folge ihrer fragwürdigen Kampfesmotivation, Eitelkeit und Amoral erkennen kann und projiziert diese auf ihren angeblichen Verstoß gegen das ‚göttliche‘ Liebesverbot. Statt aufgrund ihrer Taten Scham zu empfinden, fühlt sie sich nun widersinnigerweise wegen ihrer Gefühle, die sie als Liebe deutet, schuldig.895

Damit weist Johannas Bewusstlosigkeit sowohl Elemente einer Erkenntnis- als auch einer Verdrängungsohnmacht auf. Erst im weiteren Handlungsverlauf wird deutlich, welcher Aspekt sich final als dominanter erweisen wird.

In der Schiller-Forschung finden sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Inter-pretationen des nun folgenden Prozesses. Unbestritten ist, dass Johanna nach Selbst-vorwürfen wieder mit sich ins Reine kommt und ihre kämpferische Kraft

890 Ebd. S. 269.

891 Ebd.

892 Ebd.

893 „[…] Mich der Schuld dahin zu geben, ach! Es war nicht meine Wahl!“ Ebd. S. 271.

894 „Arglistig Herz! Du lügst dem ewgen Licht, Dich trieb des Mitleids fromme Stimme nicht!“ Ebd. S.

269.

895 Vgl. dazu auch Pikulik: Psychologe. S. 272.

168 gewinnt, was es ihr ermöglicht, den endgültigen Sieg über die Engländer davon-zutragen. Während einige Interpreten der Ansicht sind, dass es Johanna durch die Akzeptanz ihres inneren Konflikts gelingt, bewusst und in Einklang mit sich selbst zu neuer Stärke zu finden,896 was auf eine erkenntnisfördernde Funktion ihres Bewusst-seinsverlusts hinwiese, deuten vor allem die Verfasser der jüngeren Sekundärliteratur Johannas erneute Transformation als Rückkehr in ihren ursprünglichen Verblendungs-zustand.897

Tatsächlich scheint Johanna sich, im Einklang mit den Schlussfolgerungen der ersteren Forschungsmeinung, ihrer echten Schuld bewusst zu werden, als sie sich der Anklage

Tatsächlich scheint Johanna sich, im Einklang mit den Schlussfolgerungen der ersteren Forschungsmeinung, ihrer echten Schuld bewusst zu werden, als sie sich der Anklage