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I. Heinrich von Kleist

1. Friedrich Schiller – Das freie Individuum

1.1 Schiller und Kleist – Vergleichswerte

1.3.1 Der Magier und Luise Millerin – Täuschung und Verkennung

Ebenso wie Heinrich von Kleist beschäftigt sich Schiller über den literarischen Einsatz von Erschütterungsohnmachten hinaus mit einer weiteren Facette der Bewusstlosigkeit.

Auch in seinen Werken finden sich Figuren, welche eine Besinnungslosigkeit vor-täuschen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Dabei bedienen sie sich des gleichen Mechanismus wie die bereits untersuchten kleistschen Protagonisten. Sie nutzen die durchgängig Empathie und Sympathie stiftende Wirkung des Phänomens sowie dessen allgemeine Anerkennung als Zeichen der Unschuld aus906 und vertrauen auf die mangelnde Erkenntnisfähigkeit ihres Gegenübers, um dieses aktiv zu manipulieren.

Prägnantes Beispiel dafür ist vor allem der Magier in der Erzählung Der Geisterseher, der die Unfähigkeit des Prinzen, zwischen Wahrheit und Schein zu unterscheiden, für seine eigenen Zwecke missbraucht907 und damit in die Nähe von Kleists Kunigunde rückt.908 Der Scharlatan täuscht nicht nur Geistererscheinungen vor, um Hilfesuchende um ihr Geld zu prellen,909

905 NA. Kabale. S. 67.

sondern ist auch in der Fingierung von Ohnmachten geübt, weiß er doch um deren mitleiderregende Wirkung, die er gezielt einsetzt, um seine

906 In noch größerem Maße als bei Kleists reagieren die Figuren auf die Ohnmächtigen positiv. Alle Umstehenden springen Leonore und Fiesko bei, als sie bewusstlos werden (NA. Fiesko. S. 102 und 113).

Johanna wird aufgefangen (NA. Johanna. S. 267). Selbst Franz Moors Ohnmacht löst bei Daniel Mitleid aus, wird es auch von Angst überschattet (NA. Räuber. S. 118). In Die Räuber werden, vergleichbar mit der Darstellung Kleists, Männer, die bei Kleinigkeiten in Ohnmacht fallen („[…] wenn sie eine Gans bluten sehen […]), für schwach erklärt (NA. Räuber. S. 20-21). Doch wird eine solch negative Einstellung bei keiner Ohnmacht im schillerschen Werk tatsächlich umgesetzt.

907 Da an dieser Stelle nicht relevant, wird die Entwicklung des Prinzen hier nicht im Detail nach-gezeichnet. Es ist jedoch zu konstatieren, dass er seine mit der mangelnden Erkenntnisfähigkeit einher-gehende Beeinflussbarkeit niemals ablegt. Zur genauen Analyse der psychischen Metamorphose des Prinzen vom protestantischen Melancholiker über sein Dasein als Freigeist bis zu seiner Konversion zum Katholizismus sowie zu den genauen politischen Zielen des Armeniers vgl. Alt: Schiller. S. 567-585.

Hinderer verweist am Beispiel des Prinzen auf Schillers Qualitäten als „Analytiker der menschlichen Seele“, da sich in der Charaktergestaltung sein zeitgenössisches Wissen über „Seelenlehre“ beweise.

Zudem merkt er an, dass Schiller auf das „kriminelle Potential, das in der Lehre vom Unbewußten und Okkulten steckt“, habe hinweisen wollen. Ders.: Seelenlehre. S. 206-208.

908 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 5.1. Interessant ist hier, dass bei Schiller 100,00% der fingierten Ohnmachten auf Männer entfallen, während es bei Kleist bis auf Rupert Schroffenstein nur Frauen sind. Vgl. dazu Tabelle I und V.

909 Der Magier gibt zu, alle Anwesenden mit der Geisterscheinung getäuscht zu haben und erklärt dem Prinzen seine Vorgehensweise. Schillers Werke. Nationalausgabe. Weimar: 1943-2000. Band 16:

Erzählungen: Der Geisterseher. S. 45-184. Hier. S. 69-72.

171 Farce aufrechtzuerhalten. Nicht nur seine erste Ohnmacht, durch welche er die Wahr-haftigkeit seiner Illusion unterstreichen will, ist vorgetäuscht:

Die Kugel rollte langsam aus dem Altar, und die Gestalt trat unverändert aus dem Rauche. Jetzt sank der Magier ohnmächtig nieder.910

Auch seine zweite Besinnungslosigkeit bei Erscheinen des Armeniers kann als Teil der Verschwörung und damit als fingiert gedeutet werden:

Der Sizilianer drehte sich um, sah ihm genau ins Gesicht, tat einen lauten Schrei und stürzte zu Boden.911

Zwar wird sich der Prinz im Nachhinein dieser Tatsache bewusst,912 dennoch muss die Täuschung als grundsätzlich erfolgreich betrachtet werden. Nicht nur gelingt es dem Prinzen, in Parallele zum Grafen von Strahl,913 nicht von Vornherein selbstständig, die mangelnde Authentizität der Bewusstlosigkeiten zu erkennen, auch tut die Intrige dahingehend ihre Wirkung, dass er sich versöhnt „in den Armen“914

Bei Schiller wird das Verkennungspotential jedoch ebenso wenig wie im Werk Heinrich von Kleists nur von einer Seite aus betrachtet. Neben der Möglichkeit, vorgetäuschte Ohnmachten fälschlicherweise als authentisch zu deuten, beleuchtet er am Beispiel Ferdinands und Luises in Kabale und Liebe

des Armeniers wiederfindet und dieser seinen Einfluss offen ausüben kann. Auf diese Weise endet die Handlung, ähnlich wie im Falle Johannas, mit dem Sieg eines Verkennungszustandes über Wahrheit und Desillusionierung.

915

910 Ebd. S. 61.

auch den Fall, dass eine tatsächliche Bewusstlosigkeit als fingiert angesehen wird. Das sich präsentierende Szenario lässt sich direkt auf die neue Angreifbarkeit des Phänomens zurückführen. Diese basiert auf der sich nunmehr vollziehenden Verdrängung aus dem Status des regelmäßig authen-tischen Körperzeichens. Wie bei allen anderen bisher untersuchen Figuren Friedrich

911 Ebd. S. 62.

912 Er verweist auf die Vortäuschbarkeit von Affekten: „[…] Wie? Der Schrecken des Sizilianers, die Zuckungen, die Ohnmacht […] – all dieses wäre nur eine angelernte Rolle gewesen? […]“. „[…] – Ich habe Richard den Dritten von Garrick gesehen – Und waren wir in diesem Augenblick kalt und müßig genug, um unbefangene Beobachter abzugeben? […]. Ebd. S. 98.

913 Auch dieser kommt nicht allein darauf, dass Kunigunde ihm etwas vorspielt. Erst von dritter Seite wird ihm das bewusst gemacht. Teil I: Kapitel 5.1.

914 NA. Geisterseher. S. 159.

915 NA. Kabale.

172 Schillers ist der fatale Ausgang jedoch auch hier letztlich primär durch das individuelle Versagen in Form einer andauernden Verkennung durch eine der handelnden Figuren bedingt, die solcher Art die Missdeutung befördert.

Ferdinand von Walter ist, darin ist sich die Forschung weitgehend einig,916 von Beginn der Handlung an in einer Verabsolutierung seiner Liebe zu Luise gefangen, welche ihn die Realität verkennen lässt.917 Gleich sein erster Auftritt verdeutlicht, dass er in gleichem Maße wie Franz von Moor oder Fiesko die Möglichkeit eines Scheiterns seiner Pläne verdrängt. Er verneint die nachhaltige Bedrohung einer langfristigen Beziehung zu Luise durch äußere Einflüsse, und ist davon überzeugt, alle Hindernisse überwinden zu können.918

Luise ist sich trotz ihrer Liebe der gesellschaftlichen Kluft und der potentiellen Un-überwindbarkeit der daraus resultierenden Probleme für ihre Verbindung bewusst.

In Parallele zu Johanna ist es jedoch gerade dieser ver-kennende Größenwahn, welcher seinen Traum sabotiert.

919

Ferdinands übersteigertes Gefühl führt aber dazu, dass der Versuch Luises, ihm die Wohlbegründetheit ihrer diesbezüglichen Befürchtungen zu verdeutlichen,920 auf schieres Unverständnis trifft und gefährliche Zweifel an der Wahrhaftigkeit von Luises Gefühlen sät.921 Darüber hinaus trägt die Verdrängung eines möglichen Scheiterns dazu bei, dass Ferdinand seine Verwurzelung in der höfischen Sphäre,922

916 Benno von Wiese spricht von Liebes-„Religion“ (Ders.: Schiller. S. 199), Karl Guthke von verab-solutiertem Liebesanspruch (Guthke, Karl: Kabale und Liebe, in: Hinderer (Hg.): Interpretationen. S. 58-86. Hier S. 71-73), für Hofmann ist er ein „Schwärmer“ (Ders.: Schiller. S. 57), und Pikulik schreibt von Überhöhung ins Religiöse, Realitätsferne und Größenwahn (Ders.: Dramen. S. 155-156). Bernd Fischer sieht Ferdinand als einen „auf metaphysische Absoluta abzielenden Intelektuellen“, gibt ihm jedoch keine Schuld am Ausgang des Geschehens (Ders.: Kabale und Liebe Skepsis und Melodrama in Schillers bürgerlichem Trauerspiel. Frankfurt am Main: 1987. S. 137).

die als zusätzliches Element für seine Fehldeutung und damit auch für die katastrophale Entwicklung der Ereignisse von großer Bedeutung ist, als nicht vorhanden oder zumindest problemlos

917 Seine Einstellung wird von Frau Millerin gespiegelt, welche die möglichen negativen Konsequenzen der Situation ebenfalls verdrängt: „Ich sprech ja nur, man müß den Herrn Major nicht disguschtüren, weil Sie deß Präsidenten Sohn sind.“ NA. Kabale. S. 7.

918 „Laß auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und drüber in Luises Arme fliegen. Die Stürme des widrigen Schicksals sollen meine Empfindung emporblasen, GEFAHREN werden meine Luise nur reizender machen. […] Ich will mich zwischen Dich und das Schicksal werfen […].“ Ebd. S. 14-15.

919 „Du willst mich einschläfern, Ferdinand – willst meine Augen von diesem Abgrund hinweglocken, in den ich ganz gewiss stürzen muß. Ich seh in die Zukunft – die Stimme des Ruhms – deine Entwürfe – dein Vater – mein Nichts.“ Ebd. S. 14.

920 „Ferdinand! […] Man trennt uns!“ Ebd.

921 Bereits ihr Unwohlsein, das eindeutig auf ihre Angst zurückzuführen ist, deutet er als Abflauen ihrer Liebe zu ihm. Ebd. S. 13. Vgl. zum Missverstehen der Gefühle Luises auch Müller-Seidel: Luise. S. 95.

922 „[…] die Stimme des Ruhms – deine Entwürfe […]“. NA. Kabale. S. 14.

173 überwindbar ansieht. Statt seine Schwächen anzuerkennen und damit im zweiten Schritt die Situation und auch den unsicheren Stand seiner Gefühle richtig einzuschätzen, gerät Ferdinand damit in einen Teufelskreis der Verkennung, in welchem der Wunsch nach unbedingter Aufrechterhaltung der ursprünglichen Illusion ein immer intensiveres Eint-auchen in die Verdrängungswelt notwendig macht.

Wie er gegenüber Luise beteuert, versucht Ferdinand, sich durch diverse Schwierig-keiten, mit denen er sich durch seinen Vater, der eine ernsthafte Verbindung mit einem bürgerlichen Mädchen missbilligt, konfrontiert sieht, nicht in seinen Gefühlen gegen-über Luise beeinflussen zu lassen. Es zeigt sich jedoch, dass er eben nicht in der Lage ist, problemlos die dafür notwendige vollständige Loslösung von der Vaterwelt zu vollziehen. Zwar ist ihm der Präsident aufgrund seiner Ehrlosigkeit und Willfährigkeit gegenüber dem Fürsten „abscheulich“, und es ist sein Wunsch, sich moralisch von ihm zu distanzieren.923 Dennoch aber wagt er es letztlich nicht, dessen Befehl, Lady Milford aufzusuchen, zu missachten.924 Und auch an jenen Stellen, an welchen sich seine These, den ihm vorbestimmten Weg mit all seinen Ständeprivilegien und der Verpflichtung gegenüber seinem Vater seiner Liebe zu Luise unterzuordnen, schließlich doch zu be-wahrheiten scheint, ist sein Verhalten nicht ohne Widerspruch. In seiner Diskussion mit Lady Milford beruft er sich bei der Begründung der Legitimität seiner Ablehnung einer Heirat mit ihr bezeichnenderweise auf jene Insignien, welche die Macht derjenigen Institutionen, deren Autorität er nicht anerkennen will, symbolisieren, indem er die

„Sprache“ seines „Herzens“ mit Wappen und Degen gleichsetzt.925 Eben jener Degen ist es auch, welchen er in der augenscheinlichen Krönung seines Lossagungsprozesses zur Verteidigung der ohnmächtig gewordenen Luise gegen seinen Vater erhebt.926

Im Unterbewusstsein Ferdinands sind diese Antagonismen durchaus präsent. Er kann sich seine diesbezügliche Schwäche aber nicht eingestehen, da er dann den ultimativen Anspruch seiner Liebe zu Luise in Zweifel ziehen müsste. Um die Wahrheit weiterhin

923 Ebd. S. 21.

924 Ebd. S. 24.

925 Ebd. S. 31. Zur Bedeutung seines Degens im gesamten Handlungsverlauf in Verbindung mit seiner Verhaftung in der Vaterwelt vgl. auch die sehr treffende Analyse von Lösener. Ders.: Wort. S. 242-250.

Zu Letzterem außerdem Zymner: Schiller. S. 60.

926 NA. Kabale. S. 43. Zudem ist die Geste nur sehr halbherzig. Er lässt den Degen sogleich wieder sinken und kündigt dem Vater lediglich die „kindliche Pflicht“ auf. Vgl. dazu Lösener: Wort.

174 zu unterdrücken, versucht er, die plötzlich empfundenen Selbstzweifel durch eine927 Steigerung seiner Verkennung zu kompensieren.928 Er überträgt seine Zweifel auf Luises Gefühle für ihn, als sie nicht bereit ist, mit der gemeinsamen Flucht die für ihn logische Konsequenz aus der Situation zu ziehen.929 Dies führt wiederum dazu, dass er für die Kabale Wurms und seines Vaters umso empfänglicher wird930

In dem Moment, da Ferdinand den von Luise erzwungenen falschen Brief liest, zeigt sich endgültig, wie schwach seine Liebe zu Luise in Wahrheit gegründet ist.

und seine Affi-nität zur Vaterwelt vollends bestätigt.

931 Sehr rasch ist er bereit, zu glauben, was inszeniert wurde, bestätigen sich doch hier die von ihm spätestens seit der seitens Luise verweigerten Flucht aufgekeimten Zweifel an deren Gefühlen.932 Sein übersteigertes Gefühl lässt ihn falsche Maßstäbe setzen und so die wahren Beweggründe Luises verkennen. Mit seiner rückwirkenden Fehldeutung von Luises Unschuld und Reinheit offenbarender Ohnmacht als „Grimasse“ einer

„Koketten“933 erweist er sich endgültig als „fehlgehender Zeichendeuter“934 und krönt seinen Verkennungszustand mit einer fehlgeleiteten Desillusionierung. Indem er das inszenierte Gebaren bei Hofe und speziell den Einsatz fingierter Ohnmachten935

927 Luise ist in jedem Fall in Bezug auf die ihr vorgeworfene Amoralität unschuldig. Ob sie auch insgesamt keine Schuld an der tragischen Entwicklung der Ereignisse spielt, ist in der Forschung dagegen umstritten. Während Wiese sie als unschuldig gespalten zwischen natürlicher Liebe zum Vater und gott-gegebener Liebe zu Ferdinand sieht (Ders.: Schiller. S. 198) und auch Müller-Seidel ihre Situation als ausweglos betrachtet (Ders.: Luise. S. 101), wirft Zymner ihr vor, dass ihre Bürgermoral für das Scheitern ihrer Liebe sorge. Ist es doch ihr unnötiges Festhalten an ihrem Eid, das Ferdinand die Wahrheit langfristig vorenthält (Ders.: Schiller. S. 57). Luise ist ebenso gefangen in ihrer Welt wie Ferdinand und für den Ausgang der Handlung mitverantwortlich.

unter

928 Nach dem Gespräch mit Lady Milford ist er verzweifelt, weil es entgegen seiner bisherigen Illusion keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Diese führt ihm seine enge Verbindung mit der Vaterwelt vor Augen, indem sie ihn darauf hinweist, dass der Degen, auf den er sich beruft, ihm vom verhassten Fürsten verliehen wurde. Er hyperkompensiert, indem er sich gegen Gott stellt und seine Liebe nun gar ins Religiöse verklärt: „Der Augenblick, der diese zwo Hände trennt, zerreißt auch den Faden zwischen mir und der Schöpfung.“ NA. Kabale. S. 41. Zur Bedeutung der Religion bzw. Religiosität im Stück siehe vor allem die Ausführungen Guthkes (Ders.: Kabale).

929 Wo es Luise um die Pflicht gegenüber ihren Eltern geht, die nun für ihre Liebe mit büßen müssen, sieht Ferdinand nur mangelndes Vertrauen und Gefühl: „Meine Pflicht heißt mich bleiben und dulden.“

„Schlange, du lügst. Dich fesselt was anders hier.“ NA. Kabale. S. 58.

930 Vor allem Wurm erweist sich ähnlich wie Franz Moor als Psychologe und setzt sein Wissen über die Bürgerwelt gezielt ein, um seine Intrige fruchtbar zu machen.

931 Vgl. dazu auch Guthke: Kabale. S. 73.

932 „[…] Darum gab man seinen Anspruch auf meine Liebe mit so viel Heldenmut auf […].“ NA. Kabale.

S. 66-67.

933 Ebd. S. 67.

934 Pikulik: Psychologe. S. 158. Vgl. dazu auch Müller-Seidel: Luise. S. 12.

935 Der Hofmarschall von Kalb ist dafür ein prägnantes Beispiel. Er täuscht eine Ohnmacht vor, um vor einer Audienz die dreckig gewordene Kleidung wechseln zu können. NA. Kabale. S. 19. Interessant ist in

175 erneuter Beweisstellung seiner Unfähigkeit, sich von seiner Prägung zu befreien auf das bürgerliche Milieu überträgt,936 gelingt es ihm, sein falsches Bild von Luise in seine bisherige Illusionswelt zu integrieren und diese wenigstens teilweise aufrechtzuerhalten.

Statt seine Verkennung vollständig aufzugeben und die Schwächen seiner Liebe an-zuerkennen, fühlt er sich lediglich in Bezug auf den Charakter seiner Geliebten ge-läutert.

Er meint, er habe für seine durchaus angemessene Liebe nur ein falsches Objekt gewählt. Dies könnte unter anderem ein Grund dafür sein, dass an dieser Stelle nicht eine ansonsten bei Desillusionierung übliche Bewusstlosigkeit zu verzeichnen ist.937 Wie sowohl bei den kleistschen als auch den schillerschen Figuren sehr häufig nach Erkenntnisohnmachten zu beobachten, schlägt sein vorheriges Gefühl dennoch ins Gegenteil um. Die Unschuldige wird ihm zur Hure.938 Absolute, aber wenig individuelle Liebe und Festhalten am Ideal wird, ähnlich wie bei Kleists Piachi, zu absolutem Hass(-Liebe) und Rachegedanken bis in das Jenseits hinein.939 Nachdem Luise ihren Verrat, gebunden an ihren erzwungenen Eid, gestanden hat,940 vergiftet er schließlich sie und sich selbst.941

Schiller greift hier in ähnlicher Weise wie Kleist das zeitgenössische Verständnis der Ohnmacht auf und verdeutlicht, wie die Bewusstlosigkeit, über ihre Funktion als Schutzmechanismus bei der erschreckenden Erkenntnis eines bisher bestandenen Verdrängungszustandes hinaus, selbst zum fehlgedeuteten Zeichen und so zum Objekt der Verkennung geraten kann. Durch seine Manipulierbarkeit verliert die

diesem Zusammenhang, dass es ausgerechnet jener Hofmarschall ist, mit dessen Person Luise eine Affäre angedichtet wird. Intrige und Ohnmacht sind hier unmittelbar verknüpft.

936 „Was hielt sie nicht selbst die Feuerprobe der Wahrheit aus – die Heuchlerin sinkt in Ohnmacht.

Welche Sprache wirst du jetzt führen, Empfindung? Auch Koketten sinken in Ohnmacht. Womit wirst du das rechtfertigen, Unschuld – auch Metzen sinken in Ohnmacht.“ Ebd. S. 67.

937 Ein weiterer Faktor ist Schillers Wahl verschiedener Stilmittel zur Illustration des Moments der Erkenntnis. Vgl. dazu Teil II: Kapitel 1.1.

938 Wiese: Schiller. S. 209.

939 „Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel! Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad der Verdammnis geflochten – Augen in Augen wurzelnd […] Gott! Gott! Die Vermählung ist fürchterlich, aber ewig.“ NA. Kabale. S. 71.

940 „Sie haben mein Geständnis, Herr von Walter.“ Ebd. S. 94.

941 Ebd. S. 103. Hierzu der Hinweis, dass Ferdinand inzwischen nicht mehr an die Schuld Luises glauben will und erst nach ihrem wiederholten Schuldeingeständnis die Entscheidung zu ihrer Ermordung trifft.

Die Wahrheit scheint kurzfristig zu ihm durchzudringen, wird jedoch durch Luise wieder in sein Unter-bewusstsein verbannt (Ebd. S. 92). Ob er nach der Offenbarung Luises schließlich desillusioniert stirbt, bleibt unklar. Zwar wütet Ferdinand zunächst auf seinen Vater und erkennt die eigene Schuld scheinbar ebenso wenig wie seine Verkennung, doch seine letzte Versöhnungsgeste gegenüber dem Präsidenten könnte als Zeichen einer Erkenntnis in letzter Minute gedeutet werden. Ebd. S. 106-107.

176 gebärde ihre Eindeutigkeit und erschwert es besonders jenen, welche Realitätssinn und Klarsicht verloren haben, sie korrekt zu deuten.942 Wie bei Rupert von Schroffenstein943 erfolgt die Fehlinterpretation Ferdinands allerdings nicht primär wegen der grund-sätzlichen Mehrdeutigkeit des Körperzeichens Ohnmacht, sondern ist Folge einer bereits zuvor bestehenden, hier gesellschaftlich begründeten Verkennungshaltung und der daraus resultierenden Atmosphäre des Misstrauens.944

Besonders bemerkenswert ist, dass sich in Kabale und Liebe die bisher für die Werke Schillers beobachtete Verknüpfung zwischen Ohnmacht und Moral sowie Schuld auch für die fingierten Bewusstlosigkeiten fortsetzt. Zwar handelt es sich bei Luises Besinnungslosigkeit nicht um eine Erschütterungsohnmacht, sondern um eine Schock-reaktion geringeren Ausmaßes.945 Jedoch wird diese durch die Anzweiflung ihrer

„Tugend“ durch Ferdinands Vater ausgelöst.946 Als dieser sie eine „Hure“ nennt,

„stürzt“ sie „nieder“947 und nutzt so das einzige ihr zur Verfügung stehende Mittel, um die Anschuldigung spontan von sich zu weisen.948

Als tatsächlich neues Motiv für das Werk Friedrich Schillers ist dagegen die hier, konform mit der im 18. Jahrhundert gängigen Interpretation der Ohnmacht als Zeichen weiblicher Unschuld, zu verzeichnende explizite Verbindung zwischen Bewusst-losigkeit und Sexualität zu werten. Diese Verknüpfung lässt sich, anders als in den Werken Heinrich von Kleists, für die Erschütterungsohnmachten nicht feststellen. Sie tritt bei der als untergeordnete Schockreaktion zu deutenden Ohnmacht Luises jedoch eindeutig zu Tage. Dabei beruht die Verknüpfung mit dem Erotischen bei Luise, im Gegensatz zum Fall einer Marquise von O oder Elvire,

Natürlich geht es hier im Gegensatz zu den bisher betrachteten Ohnmachtsfällen gerade nicht um das Eingeständnis einer Schuld oder moralischen Verwerflichkeit, sondern um ihre Zurückweisung. Das Bedeutungsfeld ist dennoch dasselbe, da Ferdinand Luises Bewusstlosigkeit in seiner Verkennung in einen Beweis für ihre Schuld und Hinterhältigkeit verkehrt.

949

942 Anders als bei Kleist umfasst diese Gruppe allerdings nicht alle Figuren, sondern lediglich bestimmte mit individueller Schwäche und Verkennungsneigung.

allerdings eben nicht auf der

943 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 2.1.

944 Zum mangelnden Vertrauen Ferdinands vgl. auch Wentzlaff-Mauderer: Kommunikation. S. 132-181.

945 Vgl. dazu Tabelle V.

946 NA. Kabale. S. 43.

947 Ebd.

948 Ein ähnlicher Fall findet sich auch in der Frau des Don Karlos. Sie wird ohnmächtig, als dieser ihr Unzucht vorwirft. NA. Don Karlos. S. 145.

949 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 4.

177 Unterdrückung eines tatsächlich vorhandenen sexuellen Verlangens, sondern nur auf einer entsprechenden Unterstellung. Auf diese Weise wird, im Vergleich zum kleist-schen Werk, der Fokus von der Schutzfunktion, welche die Ohnmacht bezüglich ver-botener erotischer Empfindungen inne hat,950 stärker hin zu der rechtschaffenden Entrüstung tugendhafter weiblicher Figuren als ein Auslöser von Bewusstlosigkeit verschoben.951

Lösener schlägt vor, Luises Ohnmacht sowie ihr zuvor und nachfolgend häufig zu verzeichnendes Niedersinken

Die Ohnmacht aufgrund realen sexuellen Begehrens findet sich bei

Die Ohnmacht aufgrund realen sexuellen Begehrens findet sich bei