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I. Heinrich von Kleist

5. Täuschung – Die Zeichenwirkung der Ohnmacht

[...] In Ohnmacht! Schamlose Posse! Sie hielt sich, weiß ich, die Augen bloß zu.534

5. 1 Kunigunde – Verstellungskünste

Neben den bisher betrachteten Figuren, die durch eine Erschütterung der eigenen Weltsicht, durch eine erschreckende Einsicht Erkenntnis- und Verdrängungsohn-machten erleiden, finden sich in den Werken Heinrich von Kleists, in Parallele zu den Ergebnissen Birgit Trummeters für die französischsprachige Literatur des gleichen Zeitraums,535

Die kleistschen Figuren reagieren in der Regel durchaus wohlwollend auf die Ohnmacht anderer. Sie springen den fallenden Figuren bei,

auch einige Figuren, die Besinnungslosigkeiten bewusst inszenieren. Hier stellt sich zum ersten Mal explizit die Frage nach der Signalwirkung des Phänomens.

Liegt doch der Anreiz zur Nachahmung nicht etwa in der Förderung der eigenen Erkenntnisfähigkeit, sondern ist vielmehr in der Möglichkeit zur Manipulation der Wahrnehmung Dritter begründet. Die Täuschenden erwarten eine bestimmte Reaktion ihrer Umwelt, von der sie sich eine Begünstigung der eigenen Interessen erhoffen.

536 sie rufen um „Hülfe“,537 sie fangen sie auf,538 sie zeigen sich insgesamt verständnisvoll, mitleidig und fürsorglich.539 Die Ohnmacht wird von ihnen als Zeichen der Bedürftigkeit und Machtlosigkeit der Betroffenen erkannt und ist daher geeignet, als Empathie und Sympathie stiftendes Mittel eingesetzt zu werden. Ein typisches Beispiel dafür ist Piachis Bereitschaft, Nicolo trotz aller Bedenken aus der pestverseuchten Stadt mitzunehmen, nachdem dieser vor Erschöpfung540 ohnmächtig geworden ist.541

534 Heinrich von Kleist: Epigramm: Die Marquise von O…, in: Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleist. Band I: Gedichte. S. 22.

Darüber hinaus kann die

535 Sie spricht von „fingierter Ohnmacht“ und führt als Beispiel Beaumarchais‘ Le Barbier de Seville an.

Trummeter: Ohnmacht. S. 193-201.

536 Sembdner (Hg.): Der Findling: S. 204.

537 Ders. (Hg.): Die Familie Schroffenstein. S. 74.

538 „Sie [Alkmene, J.F.] fällt in Amphitryons Arme“. Ders. (Hg.): Amphitryon. S. 319; „Prothoe und Meroe halten sie [Penthesilea, J.F.]“. Ders. (Hg.): Penthesilea. S. 268.

539 Für eine Gesamtübersicht vgl. Tabelle IIa.

540 Es ließe sich in Einklang mit der Deutung des Charakters des Nicolo als durch und durch skrupellos auch annehmen, dass das Kind die Ohnmacht im Wissen um dessen Zeichenwirkung nur vortäuscht. Das halte ich - im Gegensatz zu Margarete Berger (Dies.: Ohnmachtszenarien. S. 260-261) - jedoch für un-wahrscheinlich.

104 Bewusstlosigkeit als akzeptierter Ausdruck echter Bewegtheit der Bestätigung tiefer-gehender Gefühlsregungen, und, wie in Kapitel 4 bereits angerissen, der Demonstration der Tugendhaftigkeit der Figuren dienen, deren Vortäuschung unter Umständen Vorteile verspricht. Lediglich in Fällen, in welchen andere Aspekte die Zeichenwirkung der Ohnmacht überschatten, reagiert das Umfeld zum Teil gleichgültig oder gar negativ. So lässt sich die Mutter der Marquise von deren zweiter Ohnmacht keineswegs deshalb nicht beeindrucken, weil sie für Bewusstlosigkeiten ihrer Tochter grundsätzlich un-empfänglich wäre oder kein Mitgefühl verspürt. Sie glaubt jedoch nicht, dass diese sich wirklich an keinen sexuellen Akt erinnern kann, sodass ihre Empathie von ihrer Wut und Enttäuschung überlagert wird.542

Es muss zudem, hier ebenso wie in Bezug auf die Frage der Sexualität, in gewisser Weise zwischen männlichen und weiblichen Figuren differenziert werden. Beinahe alle bisher angeführten Beispiele der Mitleidsbekundung beziehen sich auf weibliche Bewusstlosigkeiten.543 Männern hingegen wird eine Ohnmacht, vor allem von Ver-tretern ihres eigenen Geschlechts, zum Teil als Schwäche ausgelegt und ruft so eine Abwehrhaltung hervor. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Reaktion des Herrn Otto von Gorgas auf die ständigen Ohnmachten des Junkers Wenzel von Tronka. Er wirft ihm einen „Blick stiller Verachtung“ zu.544 Diese Art der Bewertung spiegelt sich auch in der Eigenanalyse des Sylvester Schroffenstein wider, der zunächst abwehrend und angewidert auf die Nachricht reagiert, er selbst sei in Ohnmacht gefallen.545 In allen anderen Fällen begegnen die kleistschen Protagonisten jedoch auch ohnmächtigen Männern mit Sympathie,546

Kunigunde von Thurneck, die Kleist als Gegenspielerin des Käthchens von Heilbronn zeichnet, ist diejenige Figur im Werk des Autors, welche die Möglichkeiten der Täuschung mit Abstand am effektivsten und umfangreichsten nutzt. Die „Meisterin des betrügerischen Scheins“,

sodass Täuschungen durchaus bei beiderlei Geschlecht greifen können.

547

541 „[...] so regte sich des guten Alten Mitleid [...].“ Sembdner (Hg.): Der Findling: S. 199. Vgl dazu auch Berger: Ohnmachtszenarien. S. 260-261.

wie Gert Ueding die Figur sehr treffend charakterisiert, übt

542 Für weitere Beispiele dieser Art vgl. Tabelle IIa.

543 Die einzige Ausnahme bildet Nicolo. Dieser ist jedoch noch ein Kind.

544 Sembdner (Hg.): Michael Kohlhaas. S. 39.

545 Ders. (Hg.): Familie Schroffenstein. S. 81-82.

546 17-mal fällt die Reaktion rein positiv aus. Vgl. dazu Tabelle IIa.

547 Ueding: Käthchen. Hier S. 180.

105 Macht aus, indem sie Hilflosigkeit vorgibt.548

Der Graf Friedrich Wetter von Strahl ist nach dem Burggrafen von Freiburg und dem Rheingrafen von Steinburg der Dritte, dem sie eine Heirat in Aussicht stellt. Auch in seinem Fall geht es keinesfalls um persönliche Zuneigung. Der von ihr unter dem Vorwand der Sentimentalität an Käthchen ergehende Auftrag, das Bild des Grafen aus dem Feuer zu holen, welcher sich schließlich als durch bloßes Interesse an der Besitz-urkunde motiviert herausstellt, macht ihre Ichbezogenheit und Skrupellosigkeit für den eingeweihten Leser

Sie bringt die sie begehrenden Männer mit falschen Versprechungen von Liebe und Heirat dazu, kriegerische Auseinander-setzungen zu führen, die ihr persönlich materielle Vorteile bringen, nur um sie danach durch jemanden zu ersetzen, der vielversprechender erscheint.

549 nur allzu deutlich. Diese Begebenheit zeigt jedoch zugleich, wie geschickt sie ihre tugendhafte Fassade gegenüber ihrer Umwelt aufrecht zu erhalten weiß. Ihre durch allerlei Hilfsmittel vorgetäuschte Schönheit550 wird zum zentralen Sinnbild dieser Fähigkeit.551 Zu der Palette ihrer „berechnenden Sozialtechniken“552

Kunigundes erste Inszenierung einer solchen vorgetäuschten Ohnmacht fällt mit ihrer Einführung in den Handlungsverlauf zusammen und ist so für ihre Charakterisierung von großer Bedeutung. Problematisch erscheint zunächst die Tatsache, dass das Urteil, sie täusche die Bewusstlosigkeit nur vor und sei nicht aufgrund großen Schreckens ohnmächtig geworden, durch ihren früheren Verehrer Graf Freiburg erfolgt, der sie zwecks persönlicher Rache für ihren Liebesbetrug an ihm entführt hat. Doch es wird schnell deutlich, dass dieser nicht durch seine Enttäuschung geleitet wird, sondern vielmehr ihr wahres Wesen erkannt hat.

gehört auch der wiederholte Einsatz falscher Ohnmachten.

548 Vgl. dazu auch Drux, Rudolf: Kunigundes künstlicher Körper. Zur rhetorischen Gestaltung und Interdiskursivität eines "mosaischen" Motivs aus Heinrich von Kleists Schauspiel Das Käthchen von Heilbronn, in: Kleist-Jahrbuch (2005), S. 92-110.

549 Der Leser weiß, anders als der Graf von Strahl, zu diesem Zeitpunkt bereits vom ihrem Umgang mit Männern. Sembdner (Hg.): Das Käthchen von Heilbronn. S. 482-483.

550 „Sie [Kunigunde, J.F.] ist eine mosaische Arbeit, aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt.

Ihre Zähne gehören einem Mädchen aus München, ihre Haare sind aus Frankreich verschrieben, ihrer Wangen Gesundheit kommt aus den Bergwerken von Ungarn, und den Wuchs, den ihr an ihr bewundert, hat sie einem Hemde zu verdanken, das der Schmied ihr, aus schwedischem Eisen, verfertigt hat“. Ebd. S.

520. Beachtenswert ist hier die Parallele zu Die Hermannsschlacht. Thusnelda lässt ihren Verehrer Ventidius von einer Bärin zerfleischen, weil sie erfahren hat, dass dieser sie angeblich töten und ihre Haare anschließend seiner Herrin Livia in Rom zukommen lassen wollte. Sembdner (Hg.): Die Hermannsschlacht. S. 619-620. Auch hier ist der Einsatz von Prothesen also mit Unnatürlichkeit und Täuschung verknüpft.

551 Vgl. Drux: Kunigunde. S. 99.

552 Ebyl: Kleist. S. 162.

106 Obwohl sie bei der Ankunft an der Köhlerhütte „wie tot“553 zu Füßen ihres Pferdes liegt, zeigt sie sich laut der Aussage des Köhlerjungen kurz nach ihrem Eintreten ins Innere der Hütte, außer Reichweite des Grafen Freiburg und seiner Leute, wach und aktiv.554 Sie treibt demnach tatsächlich „Possen“555 mit dem Grafen und seinen Unter-gebenen, um sie milde zu stimmen. Zu vermuten ist, dass sie hofft, durch die Ver-stellung das Mitleid der Anwesenden zu erregen und so eine Freilassung herbei-zuführen. Doch während Ritter Schauermann ihren Erwartungen entsprechend reagiert und über ihre Leblosigkeit erschrickt, hat Graf Freiburg aus seinen früheren Er-fahrungen mit ihr gelernt. Es ist aus dem Stück nicht eindeutig zu ersehen, ob er bereits zuvor unechte Ohnmachten ihrerseits miterlebt hat und sich auf diese beruft oder ob er von ihrer Persönlichkeit, deren Fragwürdigkeit sich ihm in der Zeit mit ihr offenbart hat, auf eine Täuschung auch in diesem Bereich schließt.556 Das Resultat bleibt jedoch dasselbe. Ihre Bemühungen erweisen sich als fruchtlos.557

Anders verhält es sich bei Kunigundes erster Begegnung mit dem Grafen von Strahl.

Dieser weiß zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens noch nicht einmal ihren Namen und begegnet ihr zunächst völlig unvoreingenommen. Er betrachtet sie als hilflose Gefangene, die er gemäß seines „ritterliche[n] Eid[es]“558 in jedem Fall zu schützen hat.

An dieser Stelle setzt Kunigunde an, um ihn zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. Sie betont zunächst verbal ihre „Unschuld“559 und Bedürftigkeit, weil sie angesichts der gesellschaftlichen Norm mit einer positiven Reaktion auf diese Attribute rechnet. Und tatsächlich schlägt der Graf von Strahl ihren Entführer schließlich in rechtschaffender Empörung nieder, um sie zu verteidigen. Als er aber erkennt, um wen es sich bei seinem Gegner handelt, wendet sich das Blatt. Statt weiterzukämpfen und ihn an seinem Blut ersticken zu lassen, wie Kunigunde es verlangt,560

553 Sembdner (Hg.): Das Käthchen von Heilbronn. S. 458.

lässt Strahl den befreundeten Ritter

554 Ebd. S. 463. An dieser Stelle ist auch zu überlegen, warum Kunigunde gerade dem Köhlerjungen gegenüber ihre Verstellung aufgibt. Auch von ihm erhofft sie sich Hilfe, sie glaubt jedoch scheinbar nicht, dass in den sozial niederen Rängen die gleiche Taktik fruchtet wie in Ritterkreisen.

555 Ebd. S. 458.

556 Auf Zweiteres deutet sein Hinweis auf ihre „falschen Zähne“, es ist jedoch zu vermuten, dass es sich bei der vorgetäuschten Ohnmacht um eine altbewährte Praxis der Kunigunde handelt, deren Wirkung sie mehrfach erprobt hat. Ebd.

557 Ihre Rettung wird durch den Grafen von Strahl und den Köhlerjungen bewirkt, die sie zu manipulieren weiß, ist jedoch keine Folge ihrer ersten Verstellungsohnmacht.

558 Sembdner (Hg.): Das Käthchen von Heilbronn. S. 464.

559 Ebd.

560 Ebd. S. 466.

107 nicht nur verarzten, sondern weist die Gerettete in ihren Tötungsforderungen auch streng zurecht.561 Daraufhin greift diese auf eine vorgetäuschte Ohnmacht zurück, um verstärkte Empathie bei ihrem Gegenüber hervorzurufen und ihn so wieder für sich zu gewinnen:

Kunigunde: Nichts, nichts – Es ist – Wer hilft? – Ist hier kein Sitz? – Weh mir! Sie wankt.

Der Graf von Strahl: Ihr Himmlischen! He! Gottschalk! Hilf!562

Kunigunde verhält sich damit eindeutig manipulierend. Zwar fällt sie am Ende nicht um, sie taumelt jedoch und lässt sich von dem erwartungsgemäß sofort alarmierten Strahl auf einen Sitz führen. Besonderes Geschick beweist sie vor allem dadurch, dass sie die Symptome einer nahenden Bewusstlosigkeit vortäuscht, die Frage aber, ob es ihr schlecht ginge, zugleich verneint. Damit wirkt sie ganz wie die bescheidene und aufopferungsvolle Dame, die sie darstellen möchte, und erreicht dennoch ihr Ziel, indem sie ihren Retter von der Sorge um Freiburg ablenkt.

Dass es sich tatsächlich um eine Täuschung handelt, wird darin deutlich, dass zwischen der kurz zuvor gezeigten fordernden, gefassten Haltung Kunigundes und ihrer anschließenden Begründung für ihre Schwäche eine große Diskrepanz besteht. Sie spricht von der Angst vor dem, was Freiburg mit ihr vorhatte, als Auslöser der sich anbahnenden Ohnmacht.563 Diese ist in der konkreten Situation, Freiburg ist außer Gefecht gesetzt und Kunigunde befreit, aber gar nicht mehr angebracht. Zudem ist die Szene vor dem Hintergrund der zuvor bereits von ihr fingierten Ohnmacht vor der Köhlerhütte und der Kunigundes Figur im Drama prägenden „berechnenden Sozial-techniken“564

An Kunigundes Beispiel zeigt sich, in welch starkem Kontrast die vorgetäuschte Ohn-macht zu den bisher betrachteten echten ErschütterungsohnOhn-machten steht. Das Phänomen Ohnmacht, welches im Werk Heinrich von Kleists zumeist auf eine kurz zuvor stattgefundene erschreckende Erkenntnis hindeutet, durch welche Illusionen durchbrochen werden, wird zu einem Werkzeug, um die ausgeprägte Tendenz der

zu bewerten.

561 „Beruhigt Euch! – Wie er darnieder liegt, wird er auch unbeerdigt Euch nicht schaden“. Ebd. S. 466.

562 Ebd.

563 „Ach, mein großmütger Retter und Befreier, Wie nenn ich das? Welch ein entsetzensvoller, Unmenschlicher Frevel war mir zugedacht? Denk ich, was ohne Euch, vielleicht schon jetzt, Mir widerfuhr, hebt sich mein Haar empor, Und meiner Glieder jegliches erstarrt.“ Ebd.

564 Ebyl: Kleist. S. 162.

108 kleistschen Figuren zur Verkennung der Realität zu fördern und schließlich aus-zunutzen. Auch Verdrängungsohnmachten können wichtige Einsichten hinauszögern und behindern. Doch sind sie eine unkontrollierbare Reaktion der Betroffenen auf eine Erschütterung ihrer Weltsicht, ein Schutzmechanismus, der nur indirekt Einfluss auf einen anderen Erkenntnisprozess als den eigenen hat. Der Einsatz von Verstellungs-ohnmachten durch die Protagonisten erfolgt im Gegensatz dazu vorsätzlich manipulativ und ist bewusst auf die Täuschung und Beeinflussung Dritter ausgerichtet. Oberste Priorität hat dabei, als Grundvorrausetzung jeglichen Betrugs, immer die Aufrecht-erhaltung der eigenen Glaubwürdigkeit, weswegen der Verstellungskünstler Menschen mit grundsätzlich hohem Verdrängungspotentials als Opfer bevorzugt565

Trotz aller Vorsicht ist eine Entlarvung jedoch nie ausgeschlossen. So versucht die Gruppe um Jeronimo und Josephe in Das Erdbeben in Chili vergeblich sich zu retten, indem sie Donna Constanze eine Ohnmacht vortäuschen lassen, da der Mob in der Kirche sich für Mitleidsempfindungen nicht empfänglich zeigt.

und Kontrolle vorwiegend unter dem Deckmantel der ‚Ohn-Macht’ ausübt.

566 Im Falle der Kunigunde führt die Bloßstellung ihrer Intrige zur gesellschaftlichen Ächtung.567 Bedeutsamer aber ist der allgemeine Zweifel an der Authentizität des Phänomens Ohnmacht, den die Erkenntnis der Tatsache, dass diese auch vorgetäuscht werden kann, zwangsläufig mit sich bringt. Die Bewusstlosigkeit wird damit selbst zum zweideutigen Zeichen der undurchschaubaren Welt der kleistschen Werke und spiegelt damit den zeitgenössischen kritischen Blick auf die Natürlichkeit von Sprach- und Körperzeichen wider.

5. 2 Rupert Schroffenstein – Verkennende Rache

Die Verunsicherung, die in Folge der Fingierbarkeit und Zweideutigkeit des Zeichens Ohnmacht auftritt, findet in Bezug auf das Werk Heinrich von Kleists sowohl im Urteil der literaturwissenschaftlichen Forschung als auch in der Reaktion der ersten

565 Zu diesen gehört auch Strahl. Seine Empfänglichkeit für Kunigundes Taktik hat seinen Ursprung in der bereits bestehenden ungesunden Verdrängung seiner Liebe zu Käthchen. Er meint, sich diese auf-grund der gesellschaftlichen Unterschiede nicht erlauben zu können und macht sich deswegen vor, Kunigunde sei diejenige, die ihm im Traum versprochen worden ist. Ebd. S. 454. Vgl. dazu auch Harlos:

Frauengestalten. S. 99-105.

566 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 156.

567 Kunigunde erfährt nach der Bekanntwerdung ihres Betrugs nur noch Ablehnung und wird durch die öffentliche Bloßstellung, die der unangekündigte Wechsel von ihr zu Käthchen als Braut des Grafen von Strahl für sie bedeutet, schwer bestraft.

109 Rezipienten des frühen 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck. Anschauliches Beispiel dafür ist die Kontroverse über die erste Bewusstlosigkeit der Marquise von O…. Bis heute kommt es zu Forschungsdiskussionen über die Echtheit der Bewusstlosigkeit der Prota-gonistin568 und Kleists ironische Bemerkung „Ohnmacht? Schamlose Posse! Sie hielt sich ja, weiß ich, die Augen bloß zu!“569

Das entspricht dem damaligen Zeitgeist, gerät doch die Ohnmacht, die spätestens seit der Zeit um 1700 einen festen Bestandteil der kulturell codierten Körpersprache darstellt, am Ende des 18. Jahrhunderts grundsätzlich in den Verdacht der Fingiert-heit,

zeigt, dass diese Frage bereits bei der ersten Veröffentlichung der Erzählung gestellt worden ist.

570 während sie zunächst im Kontrast zur als unzulänglich empfundenen Sprache571 als Zeichen der Empfindsamkeit eines Menschen572

Allerdings scheinen die Figuren der kleistschen Werke von diesem Unsicherheitsfaktor fast gänzlich unberührt. Sie erleben die Ohnmachten ihrer Mitmenschen in den seltensten Fällen als mehrdeutig oder zweifelhaft und haben dazu auch keinen Grund.

und als Garant für die Authentizität der Gefühle galt.

573

Eine Ausnahme bilden die Bewusstlosigkeiten der Kunigunde, deren gesamtes Wesen auf Täuschung und Verstellung beruht und deren Entlarvung, statt auf grundsätzlicher Zweifelhaftigkeit des Phänomens Ohnmacht, eher auf den individuellen Erfahrungs-werten des Grafen Freiburgs mit ihr basiert. Der einzige andere Protagonist, der die Authentizität der Ohnmacht eines Anderen anzweifelt, ist Rupert von Schroffenstein. In seinem Fall aber wird die Deutung der Ohnmacht als böswilliger Verstellungsakt statt aus einer Erkenntnis aus der Verkennung der Realität geboren.

Es ist sehr gut nachvollziehbar, dass Kleist das Szenario des fälschlichen Infragestellens einer Ohnmacht im Drama „Die Familie Schroffenstein“ ansiedelt. Sind doch der voreilige Verdacht und die Zweideutigkeit der Zeichen die zentralen Themen des Stückes574

568 Vgl.Teil I: Kapitel 4.1.

und der Graf von Rossitz einer der Hauptvertreter der vorherrschenden

Miss-569 Heinrich von Kleist: Epigramm: Die Marquise von O…, in: Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleist. Band I: Gedichte. S. 22.

570 Zu einer differenzierten Analyse der Entwicklung der Ohnmacht vom „Körperbild“ zum

„Körperzeichen“ vgl. Trummeter: Ohnmacht. Besonders Kapitel I und III. Hier S. 96.

571 Vgl. dies.: Ohnmacht. S. 18-24.

572 Das Thema der Empfindsamkeit ist eng mit der Geschichte der Ohnmacht verknüpft, kann in diesem Kontext jedoch nicht ausgeführt werden. Vgl. dazu Teil I: Einleitung.

573 Vgl. Teil I: Kapitel 5.1.

574 Vgl. dazu Seeba: Verdacht. S. 122.

110 trauensmentalität.575 Bereits die Geschehnisse der ersten Szene weisen ihn als blind-wütigen Rächer aus. Ohne seinen Verdacht, Sylvester habe seinen Sohn Peter ermorden lassen, genauer zu „prüfen“,576 ruft er dort zu „Haß“577 und Gewalt gegen das Haus Warwand auf.578 Die Verdächtigung an sich ist nicht unbegründet.579 Doch Ruperts Reaktion auf die ihm zur Verfügung stehenden Informationen zeugt von seiner Neigung zum Extremen. Dieser Charakterzug bestimmt sein Verhalten bis zum Ende des Dramas nachhaltig und lässt ihn immer wieder nach dem gleichen Muster handeln. Er legt die durchaus verdächtigen Fakten ohne zu hinterfragen so aus, wie sein von Verkennung und Misstrauen geprägtes Weltbild es vorgibt. Vergeltungs- und Rachsucht behindern seinen Intellekt580

Rupert bezweifelt grundsätzlich nicht, dass dieser bewusstlos werden könne. Doch macht ihn die Tatsache, dass sein Herold ausgerechnet während der kurzen Zeitspanne dieser Ohnmacht gegen den Wunsch des Grafen von Warwand von dessen Leuten getötet worden sein soll, misstrauisch. Das ist verständlich. Es fällt jedoch auf, dass Rupert sich ganz auf das Urteil des Wanderers verlässt, der ihm von dem Vorfall berichtet und die Unglaubwürdigkeit der Strafpredigt Sylvesters gegenüber den Mördern des Herolds betont. Statt weitere Nachforschungen anzustellen und sich zu bemühen, den Tathergang aus erster Hand geschildert zu bekommen, bildet er sich sein Urteil ausgesprochen schnell. Passen List und Bosheit doch nur zu gut in das Charakter-bild, das er von Sylvester entworfen hat. Er ist davon überzeugt, dass dieser böswillig gehandelt hat und schlimmer noch, dies nun nicht zugeben will, sondern stattdessen feige und niederträchtig Unschuld vortäuscht.

und wecken in ihm den unreflektierten Drang, Anderen Schaden zuzufügen. So auch im Falle des Ohnmachtsanfalls seines Verwandten Sylvester.

581

Als er von der Ankunft Jeronimus’ erfährt, der von Sylvester als Vermittler zu ihm geschickt worden ist, um Klärung und Versöhnung einzuleiten, beschließt er, sich an Aus seiner Empörung darüber erwächst bei ihm ein Racheplan.

575 Vgl. dazu Michelsen: Rechtgefühl. S. 66-67.

576 Sembdner, Helmut (Hg.): Die Familie Schroffenstein. S. 53.

577 Ebd.

578 „Sag, ich dürste nach sein und seines Kindes Blute.“ Ebd. S. 54.

579 Selbst Jeronimus, der für die Vernunft steht und sich bemüht, keine voreiliges Urteil zu fällen, schließt aus der Tatsache, dass einer der bei der Leiche des Jungen gefundenen Warwander Sylvesters Namen genannt hat, zunächst auf die Schuld desselben.

580 Vgl. dazu auch Irlbeck: Freiheit. S. 78.

580 Vgl. dazu auch Irlbeck: Freiheit. S. 78.