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I. Heinrich von Kleist

1. Friedrich Schiller – Das freie Individuum

1.1 Schiller und Kleist – Vergleichswerte

1.2.3 Leonore – Opfer der Inszenierung 810

Neben der auf sich selbst und ihre Einflussnahme auf die Umwelt bezogenen Verblen-dung, durch welche sich die Figuren selbst überschätzen und ein verzerrtes Bild von sich selbst und ihren Gefühlen aufweisen, findet sich in den Werken Friedrich Schillers noch ein weiterer Subtyp des Ohnmachten forcierenden Verkennens, der ebenso Teil der kleistschen Ohnmachtssystematik ist. Bei diesem meint der Charakter, sein Gegenüber vollständig durchschauen und somit sein Verhalten vorhersagen zu können.

Wird das häufig ideale und von den eigenen Wunschvorstellungen beeinflusste Bild, welches er sich von seinen Mitmenschen gemacht hat, dann durch unerwartete Offen-barungen oder Taten zerstört, erfolgt eine schmerzhafte, in einer Ohnmacht mündende Desillusionierung.

Leonore, die Ehefrau Fieskos, erleidet in dem Moment eine Erschütterungsohnmacht, da sie erkennen muss, dass ihr Ehemann sich, anders als von ihr erwartet, nicht von seinen Plänen abbringen lässt. Das Bild, das sie von ihm hat, zerbricht ebenso wie ihr Vertrauen in sich selbst. Sie ist nicht imstande, das zu ertragen, und wird dramaturgisch folgerichtig ohnmächtig. Damit ergeht es ihr grundsätzlich wie vielen der kleistschen Figuren.811

809 Vgl. dazu auch die Tabellen I und V.

Im Vergleich mit diesen stellt sie allerdings insofern einen Sonderfall dar,

810 Aufgrund der Nebenrollenfunktion dieser Figur ist der Einblick in ihre Gefühlswelt begrenzt. Da die Anzahl der schillerschen Erschütterungsohnmachten, gegenüber den bei Kleist zu findenden, jedoch stark begrenzt ist, werden hier auch solche Fälle – im Bewusstsein der damit verbundenen Schwierigkeiten – in die Analyse einbezogen.

811 Vgl. Teil I: Kapitel 2.

155 als sich ihre Verblendung auf jemanden bezieht, der sich aufgrund seines eigenen Verdrängungszustandes selbst nicht wirklich kennt und gegen seine Gefühle handelt.

Bereits bei ihrem ersten Auftritt zu Beginn des Stückes ist Leonores Fiesko-Bild ernsthaft bedroht. In seinem Verhalten gegenüber Julia, der Nichte des Herzogs, meint sie, seine Liebe für diese andere Frau zu erkennen812 und kann dies, ebenso wie sein gesamtes oberflächliches Verhalten der vorangegangenen Zeit, nicht mit dem Fiesko vereinbaren, den sie kennt.813 Sie bemüht sich, alles zu seinen Gunsten auszulegen und die negative Deutbarkeit des Geschehens zu verdrängen.814 Doch die Vorstellung, die sie von ihm als in „Fürtrefflichkeit“815 glänzender Retter Genuas816 oder auch nur als liebevoller und treuer Ehemann hatte, lässt sich angesichts ihrer jüngsten Erfahrungen nicht länger aufrechterhalten. Sie glaubt, akzeptieren zu müssen, dass Genua „seinen Helden“ und sie „ihren Gemahl verloren“ hat.817

Auf den ersten Blick scheint Leonore, zuvor in einer ähnlich irrationalen Vergötterung ihres Ehemannes wie Kleists Alkmene gefangen,818 hier zum ersten Mal mit der wahren, bisher unbekannten Natur eines geliebten Menschen konfrontiert zu werden.

Doch genaueres Hinsehen offenbart Besonderheiten. Erstens beruht die empfundene Desillusionierung, wie der Rezipient sehr bald erfährt,819

812 „[…] – daß er sie liebte? – Julien! […]“. NA. Fiesko. S. 14.

auf eindeutigen Miss-verständnissen Leonores. Fiesko hat sie in seine Pläne nicht eingeweiht, und so deutet sie sein eigens für den Herzog inszeniertes Verhalten, einschließlich seiner Liebelei mit Julia, als wahrhaftig. Dies hieße zunächst natürlich nur, dass sie die richtigen Schlüsse, nämlich, dass Fiesko anders ist als von ihr angenommen und sie ihn daher nicht wirklich kennt, unter falschen Voraussetzungen zieht. Denn Fieskos Intrigenspiel, welches allem zugrunde liegt, ist mit dem Bild, das sie von ihrem Ehemann hatte, ebenso wenig vereinbar wie das vermeintlich echte Verhalten, welches ihr nun die Augen geöffnet hat. Auch die Tatsache, dass sie Fieskos Ränkespiel nicht durchschaut, scheint in gleicher Weise wie sein vermeintlicher unerwarteter Charakterwandel

813 Sie wählt explizit die Wendung „Da er noch Fiesko war – […]“, als sie von ihrer Hochzeit und der Zeit zuvor spricht. Ebd.

814 Sie möchte sein Verhalten gegenüber Julia gern als bloße Galanterie abtun und will nicht glauben, dass es seine Stimme ist, die sie mit Julia lachen hört. Ebd. S. 13-14.

815 Ebd. S. 15.

816 Eine solche Vorahnung hatte sie am Hochzeitstag vor dem Altar. Ebd.

817 Ebd.

818 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 2.3.

819 Fiesko offenbart sich relativ bald seinen Mitverschwörern. NA. Fiesko. S. 62.

156 geeignet, zu verdeutlichen, dass sie Fiesko nicht richtig einschätzen kann. Aber Leonores ursprüngliche Einschätzung des Fiesko basiert zweitens nur bedingt auf der blinden Verherrlichung eines geliebten Menschen, entspricht sie in gewisser Weise doch tatsächlich der Realität.

Leonore sieht Fiesko zu Anfang genauso, wie er wäre, befände er sich gerade nicht in einem Verkennungszustand.820 Sie ist somit in bestimmter Hinsicht hellsichtiger als ihre Umgebung und vor allem Fiesko selbst, ist sie doch in der Lage, sein wahres Ich zu erkennen. Ihre Reaktion auf die Änderung in Fieskos Verhalten zeigt jedoch, wie sehr sie dieser Blickwinkel gleichzeitig einschränkt. Sie blendet die Möglichkeit eines Verkennungszustandes Fieskos aus, sodass sie die inszenierte Situation als Teil eben jener Verblendung nicht als solche identifizieren, sondern nur als echten Charakter-wandel Fieskos fehldeuten kann. Statt zu erkennen, dass Fiesko sich unter Verdrängung von Realität und wahren Gefühlen in einem wahnhaften Spiel verfangen und ihr eine Rolle darin zugedacht hat, verstrickt sie sich, in ihrer Natürlichkeit und Naivität durch seine politische Farce verwirrt, immer stärker in ihrer eigenen Verkennung.821

Eigentlich geeignet, in desillusionierender Funktion Leonores von Beginn an vor-handene Verkennung des Verdrängungspotentials Fieskos aufzuheben, bewirken ihre jüngsten Erfahrungen, in deutlicher Parallele zu Kleists Littegarde,822

820 Vgl. dazu auch das vorangegangene Kapitel zum Thema Leonore, deren Figur für die positiven moralischen Werte und Gefühle Fieskos steht. Als er Leonore tötet, sterben mit ihr auch seine durch sie symbolisierten Werte.

nur eine Ver-stärkung ihrer Verblendung. Leonore erkennt richtig, dass sie Fiesko falsch eingeschätzt hat. Da sie dies jedoch statt auf ihre Verdrängung seiner Neigung zur Selbstverkennung auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung seines Charakters zurückführt, lässt sie sich über ihre nur bedingt aufgebrochene ursprüngliche Verblendung hinaus nun auch noch zusätzlich in ihrem durchaus sicheren Gespür für seinen wahren Charakter beirren.

An Leonores Verhalten nach ihrer ‚Desillusionierung‘ zeigt sich, dass die Wahrheit erneut in ihr Bewusstsein vorzudringen versucht. Sie ist nicht völlig blind für Fieskos wahres Wesen geworden. Sie verliert die Achtung ihm gegenüber nicht, was beweist, dass sie unbewusst noch immer von seinem Potential überzeugt ist. Auch möchte sie

821 Hier vertrete ich eine andere Auffassung als Graham, die davon ausgeht, dass Leonore eigentlich wisse, dass Fiesko nur schauspielert, sich aber dennoch zu ihm hingezogen fühle. Dies.: Drama. S. 19.

822 Diese meint, aus dem Gottesurteil schlussfolgern zu müssen, dass sie wahnsinnig ist, statt die Unles-barkeit göttlicher Zeichen anzuerkennen und gerät darüber in große Verzweiflung. Vgl. dazu Teil I:

Kapitel 3.1.

157 weiterhin an seine Liebe glauben. Trotz der persönlichen Begegnung mit Julia, welche ihr schadenfroh das Liebespfand des Fiesko präsentiert823 und sie so in ihren Befürch-tungen bestärkt, wehrt sie den unmittelbar folgenden Annäherungsversuch Kalkagnos mit dem Verweis auf dessen Vertrauensbruch gegenüber Fiesko und ihre unverbrüch-liche Treue ab.824 Erst die Annahme, sie hätte durch ihre Unzulänglichkeit und die daraus resultierende Unfähigkeit Fieskos, sie zu lieben, den Mordanschlag auf ihn verursacht,825 lässt sie – unter Berufung auf ihr schmerzendes Herz – ihn bitten, zu ihrer Mutter zurückkehren zu dürfen.826 Hier bricht die Schuld, die sie angesichts ihrer neu empfundenen Unfähigkeit, ihn wirklich zu verstehen, spürt, endgültig durch. Zwar wirft sie ihm vor, ihre Gefühle zu missachten,827 doch es ist ihr eigenes Defizit, das sie zu ihrem Trennungswunsch veranlasst. Leonores Unterbewusstsein verbietet ihr, Fiesko die volle Verantwortung anzulasten, ahnt sie doch, wenn nicht um seine konkreten Beweggründe, so doch um seinen wahren Charakter: „Meine Leonore? – Himmel, habe dank! Das war wieder ein ächter Goldklang der Liebe. […]“828

Als Leonore schließlich von Fieskos Plänen erfährt, ist sie tief erschüttert.829 Die Erleichterung, welche sie empfindet, als sich die Liaison mit Julia und damit auch Fieskos verwerfliches Verhalten als inszeniert herausstellen, ist bereits aufgrund der grausamen Bloßstellung ihrer vermeintlichen Rivalin durch Fiesko mit Bestürzung gemischt: „Mein Gemahl, das war allzustreng.“830

823 NA. Fiesko. S. 38-39.

Doch zunächst überwiegt die Hoff-nung, ihr ursprüngliches Bild von Fiesko wieder neu etablieren zu können. Zwar würde damit ihr Wissen um die Unfähigkeit, ihn richtig einzuschätzen, nicht eliminiert und sie müsste einsehen, dass sie die Geschehnisse falsch gedeutet hat. Dennoch wäre die Erkenntnis, dass sein wahrer Charakter jenem positiven Bild entspricht, das sie anfäng-lich von ihm hatte, eine Genugtuung für sie. Die Offenbarung Fieskos, dass er den Herzogsthron besteigen will, zerstört auch diese vage Aussicht auf Harmonisierung augenblicklich wieder. Erneut sieht sich Leonore mit einem ihr, wenn auch auf andere

824 „Nicht genug, daß er das heilige Siegel des Vertrauens erbrach, auch an den reinen Spiegel der Tugend haucht dieser Heuchler seine Pest, und will meine Unschuld im Eidbrechen unterweisen.“ Ebd. S. 41.

825 „Weh, über mich, seine Mörderin! Hätte Fiesko mich lieben können, nie hätte er sich in die Welt gestürzt, nie in die Dolche des Neids!“ Ebd. S. 51.

826 Ebd. S. 68.

827 Ebd.

828 Ebd. S. 69.

829 „Gott! […] Ich bin verloren!“ Ebd. S. 99.

830 Ebd. S. 97.

158 Weise, fremden Fiesko konfrontiert.

Ihm unmittelbar gegenüberstehend und in der Lage, ihn diesmal offen zu allem zu befragen, erkennt Leonore im Gegensatz zur Eingangsszene, dass Fiesko in einer aus Verkennung geborenen Illusion gefangen ist. Ihr wird bewusst, dass er eigentlich genau das tut, was sie sich an ihrem Hochzeitstag von ihm wünschte: Er will Genuas Tyrannen töten und ihr die Welt zu Füßen legen.831

Zunächst sagt sie Fiesko seinen möglichen Tod durch sein Vorhaben voraus und setzt ihre Angst um ihn, welche sowohl bei ihrer Argumentation als auch bei ihrer anschließenden Ohnmacht als Auslöser eine Rolle spielt, als Überzeugungsmittel ein.

Anschließend kommt sie auf seinen gotteslästerlichen Größenwahn zu sprechen und stellt ihn vor die Entscheidung zwischen „LIEBE“ und „HERRSCHSUCHT“, welche miteinander unvereinbar wären.

Dabei aber ist er in dem Wahn verstrickt, sich anschließend selbst zum Herrscher erheben zu müssen. Damit sieht sich Leonore einerseits aufs Neue desillusioniert, muss sie sich nun doch mit allen Facetten ihrer bisherigen Verblendung auseinandersetzen. Andererseits keimt in ihr die Hoffnung, Fiesko könne mit ihrer Hilfe seinen Verblendungszustand überwinden und zu sich selbst zurückfinden. Mit allen Mitteln versucht sie, ihn in die Realität zurückzuholen.

832 Denn ein diesbezüglicher Erfolg gäbe ihr die Möglichkeit, zu ihrem ursprünglichen Glauben an einen authentischen, selbstlos hero-ischen und vor allem verblendungsresistenten Fiesko zurückzukehren. Zunächst scheint dies auch tatsächlich zu gelingen,833 doch schließlich muss Leonore erkennen, dass Fieskos Verkennung stärker ist als von ihr angenommen.834 Seine Entscheidung für den Kampf um Genua führt ihr nicht nur ihre Einschränkung in Bezug auf ihre eigene Erkenntnisfähigkeit gegenüber Fieskos erneut deutlich vor Augen. Sie muss einsehen, dass ihr Einfluss auf ihn, welchen sie eng an seine von ihr gerade neu entdeckte Liebe zu ihr knüpft,835 stark begrenzt ist. Von der vollständigen Desillusionierung bedroht und den folgenden Entwicklungen gegenüber ‚ohnmächtig‘, fällt Leonore in eine Er-schütterungsohnmacht.836

831 Ebd. S. 15.

832 Ebd. S. 100.

833 „Leonore, was hast du gemacht? […] Ich werde keinem Genueser mehr unter die Augen treten – […]“.

Ebd. S. 101.

834 Er entscheidet sich für die Herzogswürde. Ebd. S. 102.

835 Sie zeigt ihm Liebe und politische Macht als zwei miteinander unvereinbare ‚Lebenswege‘ auf. Ebd.

S. 100-101.

836 Auch Alt spricht hier von „seelischer Zerrüttung“. Ders.: Schiller. S. 342.

159 Die Frage, ob es sich bei Leonores Bewusstlosigkeit um eine Erkenntnis- oder Ver-drängungsohnmacht handelt, lässt sich trotz einer fehlenden Erwachensszene und des wenigen Darstellungsraumes, welchen Schiller dieser Figur zwischen Ohnmacht und ihrem bald darauffolgenden Tod zugesteht, eindeutig beantworten. Der Umstand, dass sie sich bei ihrem einzigen Auftritt zwischen beiden Ereignissen kurz nach Beginn der Schlacht zunächst übermäßig ängstlich und fast wahnhaft um ihren Ehemann besorgt zeigt,837

Leonores vernünftige Sicht der Dinge hält nicht lange an. Ihr Bewusstsein wird von den Erkenntnissen überfordert und eine neue schützende Verkennung etabliert sich. Ihr mit der Desillusionierung einhergehendes Gefühl der Unzulänglichkeit führt dazu, dass sie in dieselbe Gemütsverfassung des Größenwahns gerät, aus welcher sie Fiesko vor ihrer Ohnmacht befreien wollte.

offenbart, dass sie die anstehenden Ereignisse, und damit auch ihr Scheitern, ihren Ehemann umzustimmen, nicht verdrängt hat. Sowohl seine für sie unüberwind-bare Verkennung als auch ihre eigene Beeinflussung durch ihre inzwischen über-wundene Verblendung sind ihr offenbar geworden. Zudem ist sie sich im Klaren darüber, dass Fieskos Überzeugung, zu gewinnen und wohlbehalten aus allem hervor-zugehen, aus seinem Gotteskomplex resultiert und das Risiko für ihn durchaus sehr groß ist. Damit weist ihre Besinnungslosigkeit deutlich alle Zeichen einer Erkenntnisohn-macht auf.

838 Sie schwärmt von Fieskos „Größe“839 und deklariert seinen Weg unter Ausblendung der moralischen Aspekte und Risiken als den richtigen.

Dennoch ist ihr durchaus immer noch bewusst, dass Fiesko in seiner Verblendung einen Fehler begeht: „[…] Mein Brutus [Hervorhebung von J.F.] soll eine Römerin umarmen.

[…] Ich bin Porcia.“840

In Parallele zu Kleists Thusnelda

841

837 „[…] Auf Fieskos Herz deuten ihre gähnenden Rohre – Auf das Meinige Bella – Sie drüken ab – Haltet! Haltet! Es ist mein Gemahl.“ NA. Fiesko. S. 106.

will sie sich ihrem Ehemann, an dem sie bezüglich eines rechtzeitigen Erkennens seiner Verblendung versagt und sich so schuldig gemacht

838 Interessant ist hier, dass sich der Wandel endgültig vollzieht, nachdem sie sich das Gewand des Herzogsneffen angezogen hat (Ebd. S. 107). Der Bewusstseinswechsel wird durch den Kleiderwechsel deutlich gemacht.

839 Ebd.

840 Ebd. „[…] Ist das Lavagna? Hör ich sie fragen – den niemand bezwingen kann, der um Genua eiserne Würfel schwingt, ist das Lavagna? – Genueser! Er ists werd ich sagen, und dieser Mann ist mein Gemahl und ich hab auch eine Wunde.“ Ebd. S. 108.

841 Auch Thusnelda möchte Hermann trotz aller gegenteiligen Anzeichen achten und lieben und kehrt nach der Ermordung ihres Geliebten verblendet in die Arme des grausamen Kriegsherrn zurück. Vgl. Teil I: Kapitel 2.4.

160 zu haben meint, nun auf andere Weise würdig erweisen und durch die Teilnahme an der Schlacht selbst zur Heldin werden.842 Die Teilhabe an Fieskos Sichtweise ist für sie der einzige Weg, die schmerzhafte Realität wiederum auszublenden. Indem sie sein Ver-halten als erstrebenswert einstuft und an seiner Seite aktiv wird, kann sie ihr Gefühl der Hilflosigkeit überwinden und gleichzeitig in potenzierter Form zu ihrer anfänglichen Verblendung zurückkehren. Leonore ignoriert nicht nur unter Fokussierung auf Fieskos wahren Charakter dessen Verkennungsneigung, ihr wird seine Verblendung sogar zur erstrebenswerten Lebenseinstellung. Sie ist nun tatsächlich vollständig in einer ihren Ehemann verherrlichenden utopischen Weltsicht gefangen, ein Zustand, welcher dem einer Thusnelda oder Alkmene in nichts nachsteht.843

Die Ohnmacht ist hier insofern handlungsrelevant, als ihre Erkenntniswirkung zu Leonores verzweifeltem Wahn und dieser zu ihrem Tod führt. Der Ablauf erinnert an die Wirkung der Bewusstlosigkeit Penthesileas, die ihre Täuschung und damit auch die verblendete Raserei nach ihrer teilweisen Desillusionierung ermöglichte.

844

Grundsätzlich finden sich alle Elemente der Bewusstseinsentwicklung Leonores auch bei Kleist. Neu ist über die Verblendung des Verkennungsobjekts hinaus, dass eine Figur sich trotz Erkenntnisohnmacht am Ende in einer sogar tieferen Form der anfänglichen Verkennung befindet. Vor allem Kleists, aber auch die bisher betrachteten schillerschen Figuren reagieren auf eine Erkenntnisohnmacht entweder mit einer vollständigen Desillusionierung, meist gepaart mit Verzweiflung,

Zwar lässt sich nicht sagen, inwieweit das Ausbleiben der Ohnmacht den Ausgang beeinflusst hätte, doch steht sie mit diesem eindeutig in ursächlichem Zusammenhang.

845 oder mit einer konträren Fehldeutung.846 Zudem zeigt Leonore, wie Fiesko und Franz, im Vergleich zur Kleist-Schematik geschlechterspezifisch abweichendes Verhalten. Obwohl An-gehörige des bei Kleist dafür prädestinierten Geschlechts, verdrängt sie keine Gefühle,847

842 „Nein! Eine Heldin soll mein Held umarmen.“ NA. Fiesko. S. 107.

sondern ein spezielles Wissen. Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass bei ihrer Bewusstlosigkeit – in Parallele zu ihren schillerschen Pendants – Schuld, Ohnmachtsgefühle und Angst eine entscheidende Rolle spielen, während diese Aspekte

843 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 2.3 und 2.4.

844 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 1.2.

845 Dazu zählen der sächsische Kurfürst, Elvire, Amphitryon, Alkmene und Homburg. Vgl. Tabelle I.

846 Dazu zählen Piachi und Sylvester. Vgl. Tabelle I.

847 Eine Ausnahme ist ihre potenzierte Verdrängung am Ende. Dort spielen auch moralische Gefühle eine untergeordnete Rolle.

161 bei den kleistschen Bewusstlosigkeiten nur von untergeordneter Bedeutung sind. Das für Kleist so wichtige Element einer insgesamt eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit ist hier ebenso wenig wie bei Franz und Fiesko von Belang. Leonores Versagen ist auf eine individuelle Verklärung ihres Ehemannes zurückzuführen und eng mit der Verblendung Fieskos verknüpft.