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I. Heinrich von Kleist

3. Glaube – Von der Unergründlichkeit des göttlichen Willens

3.2 Jeronimo – Sehnsucht nach dem Paradies und kollektive Verdrängung

Die verkennende Haltung bezüglich der Undurchschaubarkeit Gottes, welche die Erzählung um Littegarde bestimmt, findet sich auch in Das Erdbeben in Chili wieder.

Anders als dort wird eine Entscheidung Gottes nicht direkt eingefordert, sondern die überraschend eintretenden Geschehnisse zu den eigenen Gunsten als göttliche Zeichen interpretiert. Doch auch diese einer Utopie gleichkommenden Facette des absoluten Vertrauens in die eigene Urteilsfähigkeit endet unweigerlich in einer Zerstörung der

354 Ebd.

355 Ebd. S. 259.

74 illusorischen Weltsicht und hat hier zudem nicht nur psychisch, sondern auch physisch vernichtende Konsequenzen. Jeronimo muss erkennen, dass seine Fehldeutung des Erdbebens ihn in eine fatale Situation geführt hat und bezahlt diese letztlich mit seinem Leben. Ungleich Littegardes Ohnmachten ist Jeronimos einzige Bewusstlosigkeit je-doch nicht an diesen Moment der Erkenntnis geknüpft, sondern präsentiert sich, wenn nicht als Auslöser, so doch als verstärkendes Element seiner Verkennung. Damit nimmt auch sein Bewusstseinsprozess einen abweichenden Verlauf.

Zu Beginn der Handlung befindet sich Jeronimo in einer Phase der Desillusionierung.

Er sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Geliebte Josephe aufgrund ihrer sexuellen Beziehung zu ihm und dem daraus entstandenen Kind hingerichtet werden soll.356 Der Zustand „vollen Glückes“,357 welchen er durch die Verbindung mit ihr erlebt, die Hoffnung, sein Leben trotz der widrigen sozialen Umstände mit ihr teilen zu können, weil die Gesellschaft ihre Gefühle für einander als wahrhaftig erkennt, wird mit dem tödlichen Urteil des Vizekönigs als Illusion entlarvt. Die drohende Besinnungs-losigkeit im Moment der Erkenntnis deutet ebenso auf die Schmerzhaftigkeit und Tiefe dieser Einsicht hin wie Jeronimos Entscheidung zum Suizid.358 Zwischen beiden Ereignissen ist seine Hoffnung auf Rettung durch Gott positioniert,359

„[...] als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre [...]“

die er jedoch schließlich aufgibt. Das weist darauf hin, dass er an diesem Punkt bereits einsieht, dass die Menschen Gottes Willen weder verstehen oder gar sein Eingreifen steuern können.

Damit befindet er sich in einem Zustand, der bei den meisten der kleistschen Prota-gonisten den häufig nach einer Erkenntnisohnmacht erreichten Endpunkt ihrer Bewusst-seinsentwicklung bildet. Jeronimos Rettung durch das vom Erdbeben ausgelöste Einstürzen seines Gefängnisses bringt jedoch einen abrupten Bewusstseinswandel mit sich.

360

356 Interessant ist hier, dass das sexuelle Erkennen der beiden schließlich zur Zerstörung ihres Glückes führt. Die Parallele zur biblischen Vertreibung aus dem Garten Eden ist auffallend. Als Adam und Eva sich in ihrer Geschlechtlichkeit erkennen, müssen sie das Paradies verlassen. Vgl. dazu auch Teil I:

Kapitel 4. Zudem deutet die Paradiesparallele auf die spätere Zerstörung der trügerischen, aus Ver-drängung geschaffenen Idylle hin.

wird durch die Naturkatastrophe das Wissen um seine verzweifelte Situation aus seinem Gedächtnis

357 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, in: Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleist. Band II: Erzählungen. S. 144-159. Hier S. 144.

358 Ebd. S. 145.

359 „Er warf sich vor dem Bildnisse der heiligen Mutter Gottes nieder, und betete mit unendlicher Inbrunst zu ihr, als der einzigen, von der ihm jetzt noch Rettung kommen könnte.“ Ebd.

360 Ebd.

75 getilgt und Jeronimo lässt sich „besinnungslos“361 nur noch von seinen Überlebens-instinkten leiten.362 Obwohl der eigentliche Zusammenbruch erst nach seiner Rettung aus der zusammenfallenden Stadt erfolgt, scheint Jeronimo bereits während seiner Flucht ohne Bewusstsein des Vergangenen.363 Das Erdbeben verursacht ein „Beben des Bewusstseins“,364 welches in potenzierter Form Symptome einer Ohnmacht hervor-bringt und somit als Auslöser dieses in den vorangegangenen Kapiteln bereits häufig skizzierten Schutzmechanismus fungiert. Zwar tritt die körperliche Ohnmacht verzögert ein, dennoch muss sie in Einheit mit der psychischen Bewusstlosigkeit betrachtet werden. Der Rückzug ins Unbewusste wird hier von der Erkenntnis der Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens und der Zerstörung der bekannten Ordnung365 durch das Erdbeben ausgelöst:

Als Jeronimo das Tor erreicht, und einen Hügel jenseits desselben bestiegen hatte, sank er ohn-mächtig auf demselben nieder.366

Jeronimos Ohnmacht bringt eindeutig Verdrängung mit sich,367 was es ihm ermöglicht, sich nach dem Erwachen in einer Illusionswelt zu verlieren, die erfreulicher als die Realität ist. Kurz nach der Bewusstlosigkeit erinnert er sich weder an seine Todesangst noch an Josephe und ist lediglich von einem „unsäglichen Wonnegefühl“368 erfüllt, welches den brüchigen Idyllcharakter der nächsten Stunden vorausdeutet.369

361 Ebd. S. 146.

Äußere

362 Vgl. dazu auch Marx, Stefanie: Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral. Würzburg: 1994. S. 124 und Liebrand, Claudia: Das suspendierte Bewußtsein. Dissoziation in Kleists Erdbeben in Chili, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Band 36 (1992), S. 95-114.

363 Vgl. Stierle, Karl-Heinz: Das Beben des Bewusstseins. Die narrative Struktur von Kleists Erdbeben in Chili, in: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Erdbeben in Chili. 3. Auflage. München: 1993, S. 55-68. Hier S. 60.

364 Ebd.

365 Vgl. dazu Koch: Kleist. S. 82. Es erscheint zunächst widersprüchlich, dass Jeronimo durch die (vermeintliche) Zerstörung einer Ordnung erschüttert werden soll, die ihn ein eine so verzweifelte Lage gebracht hat, doch, wie Norbert Altenhofer richtig feststellt, sind auch er und Josephe in „der Macht des Bestehenden“ verankert. Zur näheren Erläuterung siehe ders.: Der erschütterte Sinn. Hermeneutische Überlegungen zu Kleists Erdbeben in Chili, in: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modell-analysen am Beispiel von Kleists Erdbeben in Chili. 3. Auflage. München: 1993, S. 29-54. Hier S. 47.

366 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 146.

367 Vgl. dazu auch Silz, Walter: Heinrich von Kleist. Studies in his works und literary caracter.

Philadelphia: 1961. S. 15.

368 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 146.

369 Vera King stellt im Einklang dazu die interessante These auf, dass die Ohnmacht selbst auf das spätere, unbewusst selbst verursachte Ausgeliefertsein Jeronimos in der Kirche vorausdeutet. King, Vera:

„...Es ist nur auf wenige Augenblicke“. Die zweite Verführung in Kleists Das Erdbeben in Chili, in:

Heinrich von Kleist, hg. von Ortrud Gutjahr. Würzburg: 2008, S. 179-206. Hier S. 202.

76 Anzeichen, wie die Trümmer der Stadt und der Ring, der ihn mit Josephe verbindet, lassen ihm zunächst seine Todesangst, dann die Bedrohung seiner Geliebten wieder bewusst werden.370 Bereits innerhalb der kurzen Zeitspanne, in welcher die Bewusst-werdung Verzweiflung in ihm auslöst, neigt er dazu, alles Geschehene als göttlichen Ursprungs anzusehen und nach einer Sinngebung der Ereignisse zu suchen. Als er Josephe und seinen Sohn schließlich gesund wiederfindet, ist er sich sicher, dass das Erdbeben „ein Wunder des Himmels“ gewesen sei, das Gott ihnen zu ihrer Rettung gesandt habe.371 Jeronimo wähnt sich im „Garten Eden“372 und wird wieder ‚bewusst-los’, indem er alle negativen Erfahrungen der Vergangenheit verdrängt. Damit kehrt er zumindest teilweise in den Zustand zurück, in welchem er sich direkt nach der Ohnmacht befand. Zwar weiß er um Josephe und erinnert sich an das Erdbeben, doch hat das alles durch die Deutung als positives göttliches Zeichen ebenso allen Schrecken verloren, wie ihm jegliche Bedrohung durch die alte Ordnung als unmöglich erscheint.

Marjorie Gelus spricht hier sehr treffend von „selektiver Wahrnehmung“.373

Obwohl Jeronimo der einzige Protagonist ist, welcher im Verlauf der Handlung eine körperliche Ohnmacht erleidet, kann seine Bewusstseinsentwicklung jedoch trotzdem als repräsentativ für die der meisten anderen in der Erzählung vorgestellten Figuren gedeutet werden.374 Von der Kleist-Forschung ist Josephe, wegen der Tatsache, dass sie, im Gegensatz zu Jeronimo, angesichts des Erdbebens nicht völlig besinnungslos reagiert, sondern ihren Sohn aus dem Kloster rettet375 und beim Anblick des zusammen-gestürzten Gefängnisses des Jeronimo nur fast ohnmächtig wird,376 zu ihrem Geliebten in Kontrast gesetzt worden. Claudia Liebrand deutet ihr Verhalten als Zurückdrängung des „vorbewußten Egoismus“.377

370 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 147.

Tatsächlich bewahren Josephes Mutterinstinkte sie

371 Zwar ist „Wunder des Himmels“ nicht die Wortwahl Jeronimos, sondern des Erzählers, doch dessen Anrufen der Mutter Gottes, zu welcher er für die Rettung seiner Josephe gebetet hat, macht deutlich, dass er die Geschehnisse ebenso interpretiert. Ebd. S. 148.

372 Ebd. S. 149.

373 Gelus, Marjorie: Josephe und die Männer. Klassen- und Geschlechteridentität in Kleists Erdbeben von Chili, in: Kleist-Jahrbuch (1994), S. 118-140. Hier S. 130.

374 Bis auf Donna Elisabeth verdrängen alle Gruppenmitglieder die realen Gefahren der Situation und wollen die Kirche aufsuchen. Selbst Don Fernando, welcher sich als Anführer der neu entstandenen Gruppe präsentiert, handelt nicht vorausschauend. Vgl. dazu auch Ebd. S. 128 und Ellis: Kleist. S. 52.

375 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 148.

376 Sie „wollte besinnungslos an einer Ecke niedersinken [...]“. Ebd. S. 149.

377 Liebrand: Erdbeben. S. 104.

77 sowohl während des Erdbebens als auch danach378 vor einer völligen Ausblendung alles Geschehenen. Doch auch sie lässt sich vom Idyllcharakter der konkreten Situation sowie der Vorstellung, dass Gott das Erdbeben zu ihrer Rettung geschickt habe, täuschen.379 Mit ihrem „Drang, ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu wer-fen“,380

Abgesehen von Donna Elisabeth ist die gesamte Gruppe um Don Fernando

welcher aus ihrer mit Jeronimo geteilten Verblendung bezüglich der Durch-schaubarkeit Gottes resultiert, ist sie die Initiatorin der Teilnahme am Dankgottes-dienst, welche schließlich zur tödlichen Katastrophe führt.

381 in einer selektiven Amnesie382 gefangen, welche an die üblichen Folgen einer Verdrängungs-ohnmacht erinnert.383 Es scheint, als habe das Erdbeben bei ihnen allen ein „Beben des Bewusstseins“384 ausgelöst, welches zwar keine körperliche, aber dennoch eine psy-chische Bewusstlosigkeit zur Folge gehabt hat. Die Protagonisten leiden unter einer kollektiven Verdrängung, welche unmittelbar mit der „Sentimentalisierung“ des Geschehenen und der „teleologischen Interpretation des Erdbebens“385 verknüpft ist. Sie sehnen sich in ein Paradies ohne Bewusstsein zurück und sind deswegen entschlossen, alles auszublenden, was das positive Bild ihres vermeintlich neu entstandenen Gartens Eden trüben könnte. Donna Elvire heißt Josephe alles Geschehene zu verschweigen, die Berichte über den Tod Unschuldiger und das Aufwallen von Gewalt werden ignoriert,386 und trotz Donna Elisabeths Einwänden387

Die Bewusstwerdung Jeronimos und seiner Gesellschaft erfolgt abrupt, als sie während bricht die Gruppe zur Kirche auf.

378 Während Jeronimo durch die Erfahrungen mit Don Fernandos Gruppe seinen Plan, nach Europa zu fliehen, völlig aufgeben will, besteht Josephe darauf, dass sie die Friedensverhandlungen mit dem Vizekönig zumindest vom sicheren Hafen aus betreiben. Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 153.

379 Folglich teile ich auch die Ansicht einiger Literaturwissenschaftler nicht, welche einen Kontrast zwischen zuvor bestandener negativ besetzter patriarchalischer Gesellschaft und positiver mütterlicher Naturherrschaft mit Josephe als Heldin ausmachen. Vgl. Anker-Mader: Familienmodelle. S. 43-44 sowie Weber, Albrecht: Kleist. Brennlinien und Brennpunkte. Würzburg: 2008. S. 53-55. Mit Marjorie Gelus bin ich der Ansicht, dass die patriarchalische Ordnung nie wirklich außer Kraft gesetzt wird. Gelus:

Josephe. S. 128-130.

380 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 154.

381 Zur Deutung der Person Don Fernandos vgl. Gelus: Josephe.

382 Zum Amnesiegedanken vgl. besonders Liebrand: Erdbeben, Stierle: Beben und Anker-Mader:

Familienmodelle.

383 Besonders die Parallele zu Penthesilea, welche sich nach ihrer Ohnmacht der Illusion hingibt, sie habe Achill besiegt, wird hier sehr deutlich. Vgl. Teil I: Kapitel 1.2.

384 Stierle: Beben. S. 60.

385 Liebrand: Erdbeben S. 107.

386 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 152.

387 Ebd. S. 154. Es ist unklar, warum ausgerechnet Donna Elisabeth von der Bewusstseinsveränderung durch das Beben verschont bleibt. Doch ist sie die einzige, welche Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung setzt. Ihre „Seele“ wird als „der Gegenwart“ teilweise „entflohen“ beschrieben. Ebd. S. 151.

78 des Gottesdienstes schließlich gezwungen sind, einzusehen, dass ihre Deutung des Erdbebens als positives göttliches Zeichen und damit auch ihr Glaube an die Durch-schaubarkeit Gottes auf einer Illusion, resultierend aus ihren eigenen Wünschen und Hoffnungen, basiert. Auch der gewalttätige Mob in der Kirche interpretiert die Natur-katastrophe als göttliches Zeichen, allerdings identifiziert er die ‚Sünden’ des Paares als Auslöser der Zerstörung alles Liebgewonnenen und fordert in Folge dessen Jeronimos und Josephes Tod.388 In Erkenntnis der Vielzahl möglicher Deutungen des Erdbebens und des Fehlens eines verlässlichen Orientierungssystems muss Jeronimo akzeptieren, dass alle scheinbar heilsgeschichtlichen Zeichen ambivalenten und trügerischen Charak-ters sind.389

In Anknüpfung an diesen Gedankengang deutet Claudia Liebrand den Versuch der Gruppe, sich durch eine inszenierte Ohnmacht Donna Constanzens aus der gefährlichen Situation zu befreien,

390 als Symbol für den Wunsch, wieder in den Zustand der Bewusstlosigkeit zurückzukehren.391 Tatsächlich aber beabsichtigt Don Fernando hier lediglich, die Ohnmacht in ihrer Zeichenwirkung, sie erregt zumeist Mitgefühl bei den Anwesenden, zu nutzen.392

Und in der Tat schien [...] der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehn. Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Kloster-herren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen [...] als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.393

Diese Worte, welche die – scheinbare – Situation im Tal beschreiben, stehen in ex-tremen Gegensatz zu der mit Höllenbildern verdeutlichten Gewalt der Szenen, welche sich in und besonders vor der Kirche abspielen.394

388 Ebd. S. 155-156.

Der Kontrast spiegelt die Schreck-lichkeit der Erkenntnis Jeronimos und seiner Gesellschaft wider und erinnert stark an die Vertreibung aus dem Paradies und die damit verbundene „traumatische Wahrheit

389 Altenhofer: Erdbeben. S. 51.

390 „Sie schweigen, Donna, [...] und tun, als ob Sie in eine Ohnmacht versänken [...].“ Sembdner (Hg.):

Das Erdbeben in Chili. S. 156.

391 Vgl. dazu Liebrand: Erdbeben. S. 111.

392 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 5.

393 Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 152.

394 Meister Pedrillo wird als „Fürst der satanischen Rotte“, seine Verbündeten als „Bluthunde“

bezeichnet. Ebd. S. 158.

79 der Erfahrung des Bewusstseins von sich selbst“.395

Der Umstand, dass Jeronimo sich durch die Bedrohung in der Kirche, anders als nach dem Erdbeben, nicht seinem Überlebensinstinkt überlässt, sondern sich zur Rettung Don Fernandos zu erkennen gibt,

396 lässt seine vollständige Desillusionierung möglich erscheinen. Der Moment der absoluten Erkenntnis hätte dann bei ihm, ähnlich wie bei Penthesilea,397 zu der in den Tod führenden Selbstaufgabe geführt. Auch der Blick auf Don Fernando, dem einzigen der Gruppe, in dessen Bewusstsein der Leser nach dem Gewaltakt noch Einblick gewinnt, kann stellvertretend für die Erkenntnislage der Getöteten gedeutet werden. Der letzte Satz der Erzählung398 legt nahe, dass Don Fernando sich damit auf die zwar schmerzliche, doch gleichzeitig erkenntniserweiternde Desillusionierung, welche mit dem Gewinn Philippes einherging, bezieht.399

Das Adoptionsszenario bildet einen idealen Ausgangspunkt für die Entwicklung eines

„Stellvertretersystems“,

Das Szenario erinnert allerdings sehr an die Geschehnisse in Der Findling, sodass aus Sicht des Betrachters durchaus Zweifel an einer solchen Deutung berechtigt sind.

400 wie es für Niccolo und Piachi beschrieben wird. Ein solches aber widerspricht nicht nur allen Kriterien eines weiterentwickelten Bewusstseins, sondern stellt im Gegenteil eine neue Facette der Verblendung, eine Verdrängung der Realität, dar.401 In diesem Licht lässt sich der letzte Satz als Zeichen des ewigen Bestrebens des Menschen nach Interpretation deuten, welche Kleist als durch das begrenztes Bewusstsein bedingt und gleichzeitig zum Scheitern verurteilt darstellt.402

Sowohl Jeronimo als auch Don Fernando verbleiben in diesem Zustand.

395 Stierle: Beben. S. 61.

396 Vgl. Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 157.

397 Vgl. dazu Teil I: Kapitel 1.2.

398 „ [...] und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen.“ Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 159.

399 Karl-Heinz Stierle spricht von einem „durch Choc“ tiefgreifend veränderten Bewusstsein. Ders.:

Beben. S. 61. In diesem Zusammenhang erscheint auch James McGlatherys Ansatz naheliegend, welcher davon ausgeht, dass Fernando Philippe Juan vorzieht, weil er diesen ohne sexuelle Schuld erworben habe.

Ders.: Desire. S. 88. Andere Deutungsansätze bezüglich des letzten Satzes bieten unter anderem Marjorie Gelus und Vera King. Gelus deutet die Adoption als Neuanfang mit positiven Werten. Dies.: Josephe. S.

132. King sieht Don Fernando als Jeronimos Rivalen und interpretiert die Verfassung des Ersteren am Ende des Stückes als Mischung aus Schuld und Triumph. King: Verführung. S. 201.

400 Anker-Mader: Familienmodelle. S. 61.

401 Vgl. Teil I: Kapitel 2.1.

402 Ellis: Kleist. S. 51.

80 3.3 Käthchen – Die göttliche Prophezeiung

Neben dem Prinzen von Homburg ist Käthchen die einzige Hauptfigur in den Werken Heinrich von Kleists, deren Traum Realität wird. Anders jedoch als bei Friedrich von Homburg, der vor dem Erreichen dieses Punktes ein Stadium durchläuft, in welchem er den Illusionscharakter seiner Träume akzeptiert und nur durch diesen schmerzhaften Prozess sein Ziel schließlich unerwartet doch erreicht,403 stellt sich Käthchens Syl-vesternachtserlebnis als wahrhaftige Vorausdeutung der Ereignisse dar. Gott schickt ihr einen Engel, der ihr ihre Zukunft offenbart. Damit befindet sich Käthchen in einer Position, welche von der aller ansonsten von Kleist gezeichneten Protagonisten ab-weicht: Das von ihr ‚Erträumte’ ist keine Illusion, sondern Abbild der (zukünftigen) Realität.404

Angesichts dieser Sonderstellung erscheint es verwunderlich, dass Käthchen nicht nur genauso häufig wie die anderen Figuren, sondern sogar überdurchschnittlich oft Ohn-machten erleidet, deuten diese doch auf eine Diskrepanz zwischen Traum und Realität hin, die hier nicht vorhanden ist. Doch das ihr durch die Prophezeiung vermittelte Wissen um die Zukunft ist tief im Unterbewusstsein Käthchens begraben.

405 Sie lässt sich bereitwillig von diesem leiten. Weil aber das unvermeidbare Ergebnis der Ereignisse, die Verbindung zwischen ihr und dem Grafen von Strahl, ihr nicht bewusst ist, wird sie sowohl von Ereignissen, die ihrem unbewussten Wissen scheinbar wider-sprechen als auch von jenen Begebenheiten, die sie der Realisierung ihres Traumes näher bringen, erschüttert.406

403 Der Kurfürst ist von seiner neuen Haltung beeindruckt und begnadigt ihn. Vgl. Teil I: Kapitel 1.3.

Wie auch alle anderen Protagonisten reagiert sie auf diese

404 Mit dieser Aussage widerspreche ich all jenen Interpreten, welche davon ausgehen, dass sich im Falle Käthchens tatsächlich durch ihre bewusste Willenshandlung die Wirklichkeit der Traumwelt anpasst, wo ansonsten bei Kleist die Illusion durch die Realität zerstört wird. Vgl. stellvertretend Ueding, Gert: Das Käthchen von Heilbronn, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer. Stuttgart:

1981. S. 172-187. Hier S. 182. Eine ähnliche Position wie die meine nimmt Hermann Reske ein. Ders:

Traum. S. 115. Günter Oesterle geht sogar soweit, dass er die Sylvesternachtbegegnung zwischen Käth-chen und dem Grafen von Strahl als tatsächlich geschehen interpretiert. Ders.: Vision und Verhör. Kleists Käthchen von Heilbronn als Drama der Unterbrechung und Scham, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle. Würzburg: 2001 (Stiftung für Romantikforschung, Band XII), S. 303-328. Hier S. 306.

405 Besonders deutlich wird dies in der Antwort, welche Käthchen dem Grafen auf die Frage nach ihren Motiven gibt: „Und läg ich so, wie ich jetzt vor dir liege, vor meinem eigenen Bewußtsein da: Auf einem goldnen Richterstuhle laß es thronen, und alle Schrecken des Gewissens ihm, in Flammenrüstungen, zur Seite stehn; so spräche jeglicher Gedanke noch, auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht.“ Sembdner (Hg.): Das Käthchen von Heilbronn. S. 444.

406 Zur These, dass das Auseinanderfallen oder Zusammentreffen von Traum und Realität die Ohn-machten auslöst, vgl. unter anderem Koch: Kleist. S. 176; Reske: Traum. S. 108 und Horn, Peter: Verbale

81 Erschütterungen mit dem Rückzug in die Bewusstlosigkeit. Ihre Verdrängungsohn-machten entfernen sie von der Wahrheit, während die ErkenntnisohnVerdrängungsohn-machten sie dieser näher bringen. Allerdings erfüllt hier statt der Förderung die Verleugnung des Traumes den Tatbestand der Verkennung, stellt doch der fehlende Glaube in seine Wahrhaftigkeit die Illusion dar, aus der es sich zu befreien gilt. Während Jeronimo und Josephe die Geschehnisse fälschlicherweise als von Gott zwecks ihrer Rettung initiiert inter-pretieren, begeht Käthchen den Fehler, der klar formulierten göttlichen Prophezeiung, zumindest in ihrem Wachbewusstsein, nicht vollständig vertrauen zu können.

Von der ersten Ohnmacht Käthchens407 erfährt der Leser nur indirekt aus der Erzählung Theobalds vor dem Vehmgericht. Dieser berichtet, beim Anblick des Grafen von Strahl

Von der ersten Ohnmacht Käthchens407 erfährt der Leser nur indirekt aus der Erzählung Theobalds vor dem Vehmgericht. Dieser berichtet, beim Anblick des Grafen von Strahl