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I. Heinrich von Kleist

2. Johann Wolfgang Goethe – Ausgleich, Wandlung und Extreme

2.1 Goethe und Kleist – Vergleichswerte

Auch für Goethe gilt die bereits für Kleist und Schiller getätigte Feststellung, dass sich in der Sekundärliteratur zum Thema keine umfassende Untersuchung findet, welche sich explizit mit den Ohnmachten der dort dargestellten Figuren befasst und dem Phänomen auch in Einzelanalysen und Monografien zumeist nur geringe Aufmerksam-keit zuteilwird.960

Goethe weiß in gleichem Maße wie Schiller und Kleist um psychologische Zusammen-hänge und den Wirkmechanismus der Psychosomatik,

Allerdings steht diese Tendenz innerhalb des Gesamtwerks des Autors hier in Einklang mit der vergleichsweise geringen Gewichtung der Bewusst-losigkeit.

961 und auch er setzt dieses Wissen ein, um das Verhalten seiner Figuren nachvollziehbar zu gestalten.962 Seelische Erkrankungen, wie Melancholie,963 Schizophrenie964 und Hysterie,965

959 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. Band 1: Gedichte und Epen I:

Vermischte Epigramme. S. 204-234. Doppelter Irrtum. S. 229.

Schlaf und Traum

960 Nur in einigen der ausgewerteten Werke der Sekundärliteratur werden konkret in den Stücken zu findende Ohnmachten erwähnt und im Textzusammenhang gedeutet. Besondere Beachtung findet das Phänomen vor allem durch Lockemann, Thomas: Der Tod in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Rösch, Ewald (Hg.): Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. Darmstadt: 1975, S- 161-174. Besonders S.

169-172; Michelsen: Mensch; Matussek, Peter: Faust I, in: Goethe Handbuch. 3 Bde, hg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Weimar: 1997. Band 2: S, 363-380. Besonders S. 369; Hermann, Elisabeth: Die Todesproblematik in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. Berlin: 1998. Besonders S. 197;

Schmidt, Jochen: Goethes Faust. Grundlagen – Werk – Wirkung. München: 2001. Besonders S. 235;

Weber, Albrecht: Goethes Faust. Noch und Wieder? Phänomene – Probleme – Perspektiven. Würzburg:

2005. Besonders S. 67, 80 und 115; Oberlin: Goethe. Besonders S. 197.

961 In einem Brief an Schiller aus dem Jahr 1795 berichtet Goethe im Zusammenhang mit dem Tod seines Kindes von eigenen Erfahrungen in dieser Hinsicht: „Man weiß in solchen Fällen nicht, ob man besser tut, sich dem Schmerz zu überlassen, oder sich durch Beihülfen, die uns die Kultur anbietet, zusammen zu nehmen. Entschließt man sich zu letzten, wie ich es immer tue, so ist man dadurch nur für einen Augen-blick gebessert, und ich habe bemerkt, daß die Natur durch anderer Krisen immer ihr Recht behauptet.“

(Hamburger Ausgabe. Goethes Briefe und Briefe an Goethe. 6 Bde. 1988. Band 2: 21. November 1795, S.

205) Er hatte 14 Tage nach dem Ereignis einen Blutsturz erlitten. Vgl. dazu auch Hermann: Wahl-verwandtschaften. S. 28.

962 Dies hat zuletzt Oberlin in seiner Studie überzeugend nachgewiesen: Goethe sei einer der ersten Autoren, der die Literatur als „Labor der Psychologie“ nutze, u.a. in Faust I oder Die Wahl-verwandtschaften. Oberlin: Goethe. S. 175.

963 Beispiele sind hier unter anderem Faust, Ottilie, Mignon und Werther. Vgl. dazu ausführlich Schmidt, Jochen: Faust als Melancholiker und Melancholie als strukturbildendes Element bis zum Teufelspakt, in:

Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 125-139 und Valk: Melancholie.

185 als besondere Wahrnehmungszustände966

Während in den 14 untersuchten Stücken von Kleist 47 Ohnmachten zu verzeichnen sind, finden sich bei Goethe in 31 analysierten Stücken (Prosa, Drama, Epen) nur 28 Ohnmachten.

und körperliche Reaktionen als Hinweis auf die Wechselwirkung von Körper und Geist nehmen in seinen Werken viel Raum ein.

Die Ohnmacht sticht dabei jedoch nicht besonders hervor und wird im Vergleich zum schillerschen und vor allem kleistschen Werk nur selten eingesetzt.

967 In 17 der Stücke Goethes kommen keine Ohnmachten vor.968 Zudem werden 57, 14% der Goetheschen Bewusstlosigkeiten durch minderen Schock (Kleist 17,00%), weitere 32, 14% durch körperliche Schmerzen ausgelöst (Kleist 25, 00%).969 Die Anzahl der handlungsrelevanten Erschütterungsohnmachten ist dagegen sehr gering. Während bei Kleist 51,00% aller Ohnmachten zu dieser Kategorie gehören, sind es bei Goethe nur 7,14%, wobei ausschließlich Erkenntnisohnmachten zu verzeichnen sind.970 Auch die vorgetäuschte Ohnmacht kommt nur ein einziges Mal vor971 und kann, da von Goethe unverändert aus der Vorlage Gottscheds übernommen,972

Daneben finden sich auch in der Geschlechterverteilung deutliche Unterschiede zwischen Goethe und Kleist. Goethe ordnet das Phänomen der Ohnmacht sehr viel häufiger als Kleist dem weiblichen Geschlecht zu. Während im Werk Kleists die Verteilung ausgewogen ist (16 Frauen und 16 Männer erleiden Bewusstlosigkeiten), nicht als Teil seiner eigenen Ohnmachtskonzeption angesehen werden.

964 Hier ist vor allem an Gretchen zu denken. Vgl. dazu genauer Teil II: Kapitel 2.3.2.

965 Hier ist unter anderem an das seelenkranke Mädchen in Die Wahlverwandtschaften zu denken. Als sich ihr Verdacht bestätigt, nach dem Tod ihres Geschwisters, den sie verschuldet zu haben meint, angestarrt zu werden, erleidet sie einen hysterischen Anfall. Johann Wolfgang von Goethe. Werke.

Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 6: Romane und Novellen 1: Die Wahlverwandtschaften. S. 242-490. Hier S. 400. Vgl. dazu auch Boa, Elizabeth: Die Geschichte der O oder die (Ohn-)Macht der Frauen:

Die Wahlverwandtschaften im Kontext des Geschlechterdiskurses um 1800, in: Johann Wolfgang Goethe.

Romane und theoretische Schriften. Neue Wege der Forschung, hg. vom Bernd Hamacher und Rüdiger Nutt-Kofoth. Darmstadt: 2007, S. 74-96. Hier S. 88.

966 Hier ist unter anderem Fausts Heilschlaf zu Beginn des Faust II zu nennen, welcher ihn vergessen lässt. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. Band 3: Dramatische Dichtungen I: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. S. 146-364. Hier S. 146-148. Vgl. dazu Mattenklott, Gert:

Faust II, in: Goethe Handbuch. 3 Bde., hg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Weimar: 1997, S. 395-441. Hier S. 396.

967 Vgl. dazu Tabelle VII.

968 Vgl. dazu Tabelle VIII.

969 Vgl. dazu Tabelle I und VII.

970 Vgl. Tabelle VII.

971 In Reineke Fuchs behauptet dieser, seine Frau sei ohnmächtig geworden und habe des Trostes bedurft, um einen Mord zu vertuschen. Vgl. Tabelle VII.

972 Bieling, Alex (Hg.): Quellenschriften zur neueren deutschen Literatur. Gottscheds Reineke Fuchs.

Abdruck der hochdeutschen Prosa-Übersetzung von 1752. 1975-2000. S. 64.

186 sind bei Goethe doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen.973 Zudem fallen trotz des Fehlens von Verdrängungsohnmachten fast nur Frauen mehrmals innerhalb eines Stückes in Ohnmacht, sodass insgesamt 71, 43% aller Bewusstlosigkeiten bei Goethe Frauen betreffen (Kleist 57, 40%).974

Besonders bemerkenswert ist die epochenspezifische Gesamtverteilung der Bewusst-losigkeiten. In Goethes Sturm- und Drang Phase finden sich insgesamt eher wenige Ohnmachten. Diese sind entweder krankheits- oder schockbedingt. Beide Er-schütterungsohnmachten sowie die um zusätzliche Bedeutungsaspekte erweiterten Fälle von Bewusstlosigkeit sind für die Klassische Zeit zu verzeichnen. Damit steht Goethe im Gegensatz zu Schiller, dessen Ohnmachten sich vor allem in der Sturm- und Drang-Epoche konzentrieren. Ebenso wie bei diesem treten die Ohnmachten jedoch auch gehäuft in Werken auf, deren Nähe zur Romantik bzw. eine entsprechende vor-bereitende Funktion diskutiert werden.

975

Doch nicht nur in Anzahl und Verteilung, sondern auch grundsätzlich weicht Goethe deutlich von dem für Kleist und zum Teil auch Schiller konstatierten Ordnungsschema der Ohnmachten ab. Zwar finden sich beinahe alle bei Kleist und Schiller vor-kommenden Arten der Ohnmacht auch bei Goethe. Jedoch sind die Übergänge zwischen den verschiedenen Typen der Bewusstlosigkeit fließender, und vorhandene Kategorien können oftmals zusätzlich in diverse Unterkategorien aufgeteilt werden. Auch die Funktion, welche mehreren Ohnmachten derselben Art innerhalb des Handlungsverlaufs zukommt, differiert häufig. Es lassen sich lediglich zwei Erschütterungsohnmachten feststellen, die sich nur bedingt in das kleistsche Ordnungsschema einfügen und sehr individuell gestaltet sind.976

973 Vgl. dazu Tabelle I und VII.

Dafür finden sich, anders als bei Kleist, einige durch geringfügigen Schock ausgelöste Bewusstlosigkeiten, welche kurzfristige Amnesien auslösen und damit in die Nähe von Verdrängungsohnmachten rücken. So weiß Stella

974 Vgl. dazu Tabelle I und VII.

975 Sowohl Faust II als auch Die Wahlverwandtschaften, in welchen wichtige Ohnmachten zu verzeichnen sind, gehören zum Spätwerk, in welchem Goethe nach vorheriger Verurteilung des Romantischen, wenn auch unter teilweise beibehaltener Skepsis, versucht, klassische und romantische Elemente zu verbinden.

Vgl. dazu Appel, Sabine: Johann Wolfgang von Goethe. Ein Porträt. Köln: 2009. S. 235. Jochen Schmidt argumentiert, dass Goethe die negative Sicht auf die Romantik nie aufgibt, spricht jedoch auch von einer Synthetisierung von Klassischem und Romantischem im Faust II. Ders: Faust. S. 254. Zum Verhältnis Goethe und Romantik allgemein vgl. den Sammelband Hinderer, Walter (Hg.): Goethe und die Romantik.

Würzburg: 2004.

976 Vgl. dazu ausführlich Teil II: Kapitel 2.3.

187 nach ihrer Ohnmacht beispielsweise nicht sofort, wer die Umstehenden sind.977 Weitere Vertreter dieses im kleistschen Werk für die Interpretation eher unbedeutenden Ohnmachtstyps werden von Goethe mit der Bedrohung der eigenen Identität sowie dem Schamempfinden beim Anzweifeln weiblicher (sexueller) Unschuld verknüpft.978 Auch muss in dieser Kategorie nochmals zwischen einer Ohnmacht, die aufgrund einer plötzlich eintretenden Schreckreaktion einsetzt, und einer solchen, welche durch eine zeitlich verzögerte Schockwirkung ausgelöst wird, differenziert werden. Diese Differen-zierung ist gegenüber Kleist und Schiller neu. Dort findet sich nur die spontane Schockreaktion, nicht die allmähliche Überwältigung durch ein Gefühl, für die vor allem Orests Ohnmacht in Iphigenie auf Tauris ein Beispiel ist. Orest wird nach und nach von gemischten Gefühlen aus Freude und Verzweiflung überwältigt, als seine wiedergefundene Schwester ihn drängt, vom schweren Schicksal der Familie zu berichten, und ihm bewusst wird, dass sie nun ihn hinrichten soll.979

Der hier festzustellende Variantenreichtum in Bezug auf die Ohnmachten

980 steht in engem kausalem Zusammenhang mit dem für Goethe häufig festgestellten fort-währenden poetologischen Wandel.981

977 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 4: Dramatische Dichtungen II: Stella, S. 307-351. Hier S. 339.

Jene Flexibilität bewirkt auch, dass Goethe, noch stärker als Schiller und ganz im Gegensatz zu Kleist, für die Darstellung möglicher Ohnmacht auslösender Situationen auch verschiedenste andere Bilder verwendet und zwischen diesen häufig variert. Das kann ein Grund dafür sein, dass die Anzahl der Ohnmachten in Goethes Werk trotz aller Vielfalt begrenzt ist. So fungiert beispielsweise der Schlaf häufig als Ohnmachtsersatz, indem er vor durch Erkenntnis ausgelösten Traumata schützt und ein Vergessen ermöglicht. Ein Beispiel dafür ist Fausts Heilschlaf

978 Hier ist die Parallele zu Schiller auffällig. Vgl. Teil II: Kapitel 1.3.1.

979 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5: Dramatische Dichtungen III: Iphigenie auf Tauris, S. 7-67. Hier S. 39-41. Vgl. auch Tabelle VII. Ähnlich ergeht es auch Helena. HA. Faust II. S. 269. Vgl. dazu Teil II: Kapitel 2.2.1.

980 Dieser spiegelt sich auch in der Wortwahl Goethes im Zusammenhang mit den Ohnmachten wider.

Eine Differenzierung ist nicht klar zu erkennen. Der Terminus „Bewusstlosigkeit“ taucht bei Goethe nie auf. Stattdessen finden sich Synonyme, die Kleist nicht verwendet (Schwindel, Ermattung etc.). Vgl. dazu Tabelle VII.

981 Bereits Emil Staiger verweist darauf, dass Goethe sich im Gegensatz zu Kleist, der dies von Anfang an getan und Schiller, der dies ab Wallenstein getan habe, nie poetologisch festgelegt habe. Ders.: Goethe. 3 Bde. Zürich: 1957-1959. Bd: 3. S. 363-364. Friedrich Sengle versucht einheitliche Tendenzen in Goethes Werk herauszuarbeiten, verweist dabei jedoch auch auf die große Wandelbarkeit des Dichters. Ders.:

Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk. Heidelberg: 1999 (posthumer Abdruck einer in den 60er und 70er Jahren entstandenen Vorlesung zum Thema).

188 zu Beginn des Faust. Der Tragödie Zweiter Teil.982

Darüber hinaus spielt hier Goethes Verhältnis zur Sprache eine entscheidende Rolle.

Auch er setzt sich mit der Sprache als Kommunikationsmittel auseinander und erkennt ihre Defizite. Doch sein Bewusstsein von der Unzulänglichkeit der Sprache ist im Gegensatz zu Kleist nie absolut. Vielmehr sucht er, wie Schiller, nach Wegen, die Natürlichkeit des sprachlichen Zeichens zu erhalten, und glaubt, durch die Stilmittel der Bildhaftigkeit und Verfremdung das wahre Wesen der Dinge offenbar werden lassen zu können.

983 Dadurch aber hat er, im Vergleich mit Kleist,984 auch weniger Anlass, regel-mäßig auf Körperzeichen als das authentischere Gestaltungsmittel zurückzugreifen, was die allgemeine Anzahl der Ohnmachten im Gesamtwerk weiter herabsetzt.985

Zunächst stellt Goethe seine Figuren und ihre Möglichkeiten weniger negativ dar, was laut eigener Aussage mit seiner frühen Sicht auf die Welt korrespondiert. Wie er in Dichtung und Wahrheit beschreibt, nimmt Goethe nach der frühen kindlichen Erfahrung der göttlichen Natur in ihrer Unkontrollierbarkeit und zerstörerischen Kraft

Der eben-falls sparsame Einsatz von Erschütterungsohnmachten lässt sich aber wohl vor allem darauf zurückführen, dass das in Goethes Werken dargestellte Menschenbild bzw. die damit beabsichtigte Wirkung in mehreren entscheidenden Punkten von der kleistschen Sichtweise abweicht.

986

982 HA. Faust II. S. 146-148.

durch den Kontakt und die Aneignung der Rokokodichtung schon in seiner frühen Jugend und

983 Vgl. dazu Lange, Victor: Bilder. Ideen. Begriffe. Goethe-Studien. Würzburg: 1991. S. 30-35 sowie Bartl: Zweifel. S. 129-138.

984 Natürlich sind bei Kleist Körperzeichen auch nicht authentisch, aber sie sind doch zumindest in etwas geringerem Maße zweideutig als die Wortsprache. Auf jeden Fall sind sie unmittelbarer, wenn auch vortäuschbar. Vgl. Teil I.

985 Selbstverständlich nutzt Goethe grundsätzlich auch die Körpersprache seiner Figuren. Sein dies-bezügliches Interesse bestätigt sich auch durch seine freundschaftliche (ab 1173), wenn auch zunehmend distanzierte Fasziniertheit von Lavater und dessen Lehren der Physiognomie. Vgl. dazu Pestalozzi, Karl:

Physiognomische Fragmente, in: Witte: Goethe-Handbuch, S. 655-658. Zudem erreicht auch ihn spätestens in seinem Alterswerk die Tendenz zur Anzweiflung der Authentizität gestischer Zeichen, die Kleists Werk von Anfang an vordergründig durchzieht. Vgl. dazu Neumann, Gerhard: „Der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch“. Goethe und Heinrich von Kleist in der Geschichte des physiogno-mischen Blicks, in: Kleist-Jahrbuch (1988), S. 259-275. Zudem lässt sich auch bei Goethe eine Verknüpfung von der Unfähigkeit, sprachlich zu kommunizieren, und dem Auftreten von Ohnmachten feststellen.

986 „Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon […] So behauptete von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür. […] Gott hatte sich, indem er die Gerechten und Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.“ Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. Band 9: Autobiographische Schriften I: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. S. 29-31.

189 ersten Werkperiode an der Universität Leipzig einen eher skeptischen Blick auf Welt an („Barockpessimismus“).987

Eine nachhaltige Erschütterung von ihm anerkannter Normen (im Sinne der Kleist-Krise) erfährt jedoch schließlich auch er durch eine Phase langer Krankheit, aus welcher die Erkenntnis der Existenz unwiderstehlicher Seelenneigungen des Individuums und damit der Polarität des Menschen hervorgeht.988 Dabei sieht Goethe Körper und Seele, Gut und Böse nun im dialektischen Zusammenhang, ohne weiterhin im Sinne des dualistischen Weltbildes zwischen beidem zu unterscheiden.989 Von diesem Zeitpunkt an meint Goethe, nach und nach ein Konzept hinter dem Weltgeschehen zu erkennen, nach welchem der Mensch nicht mehr wirklich frei ist, sondern notwendigerweise immer wieder (tragisch) mit dem Ganzen kollidiert.990 Vorherige Sinnkonstruktionen wanken und lassen sich bis ins hohe Alter nicht mehr vollständig etablieren.991

Er [Goethe spricht hier von seinem jüngeren Selbst in der dritten Person, J.F.] glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinem Begriff, noch viel weniger unter einem Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig […]. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zu-sammenhang. […] es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. […] Dieses Wesen, das zwischen alle Übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch […].

In Dichtung und Wahrheit berichtet er, seine aktuelle Einstellung dort wiederfindend, rückblickend auf die Schaffensphase des Egmont:

987 Vgl. dazu Sengle: Wandlung. S. 37-44. Sengles Einführung zu Goethe ist heute umstritten, doch schreibt auch Gerhard Sauder in seiner kritischen Rezension: „Einem umfangreichen ersten Kapitel über den jungen Goethe kommt tatsächlich das Verdienst zu, Rokoko, Empfindsamkeit und Sturm und Drang […] genauer beschrieben zu haben. […] Die Darstellung ist gewiß im Hinblick auf die Historisierung von Goethes Werk verdienstvoll.“ Ders. Friedrich Sengle: Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk, in: Lenz-Jahrbuch 8/9 (1998/99), S. 366-369. So sind die Grundtendenzen in Sengles Goethe-Momographie, auf die hier Bezug genommen wird, auch heute noch gültig.

988 Ebd. S. 54-56. Conrady schreibt korrespondierend dazu: „In dieser Verfassung war Goethe prä-disponiert, auf Angebote zu hören und vielleicht einzugehen, die ihm nicht nur punktuelle, sondern umfassende Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Daseins versprachen und einige Sicherheit verhießen.“ Ders.: Goethe. S. 76.

989 Sengle: Wandlung. S. 61-78.

990 Vgl. dazu auch Jeßing, Benedikt: Dichtung und Wahrheit, in: Witte: Goethe-Handbuch, S. 287-330.

Hier S. 315.

991 Sengle weist darauf hin, dass für Goethe in der frühen Weimarer Zeit (Iphigenie) der unmenschliche Bereich zwar noch existiert, aber verdrängbar geworden ist. Goethe versucht die Spannung zwischen seiner neuen Aufgabe und seinem Wesen zu bewältigen, hofft die Gesellschaft bessern zu können, muss sich nach der italienischen Reise sein diesbezügliches Scheitern eingestehen, will nur noch sich selbst retten. In der klassischen Zeit, vor allem aber im Alter kehrt der Fokus auf das ‚Dämonische‘ wieder in vollem Maße zurück. Ders.: Wandlung. S. 143-229.

190 Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen manifestieren kann […] so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der mora-lischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, so doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen.992

Goethe kommt hier Kleists diesbezüglichen Schlussfolgerungen bemerkenswert nahe, indem er den menschlichen Trieben nach seiner Krise eine dominante Einflussnahme einräumt und die Mittel, mit welchen die Menschen diesen und den äußeren will-kürlichen Geschehnissen Herr werden können, als sehr begrenzt darstellt. Anders als Kleist gestaltet er die daraus entstehenden Konflikte in seinen Werken aber dennoch selten bis zum Ende ausschließlich negativ aus, was dem Bemühen um die Bewältigung seiner eigenen Angst vor dieser unbekannten Macht zuzuschreiben sein dürfte.993 Jochen Schmidt formuliert sehr treffend:

Während Goethe einmal sagte, er sei für das Tragische zu konziliant, und als Klassiker auf vielfache Weise das Gefährlich-Elementare zurückdrängte [um dessen Existenz er durchaus wusste], hat Kleist von Anfang an das Zerstörerische, auch das Selbstzerstörerische, das Goethe mit dem Werther hinter sich lassen wollte, bewußt zum Äußersten getrieben. […] [Kleists Menschen sind] in besonderer Weise der Entstellung und inneren Zerstörung ausgeliefert. Mehr als alles andere war das geeignet, um Goethe auf Distanz gehen zu lassen.994

So sind auch Goethes Figuren Getriebene, denen definitiv weniger Handlungsspielraum als Schillers Protagonisten eingeräumt wird.995

992 HA. Dichtung II. S. 175-177.

Anders als die kleistschen Figuren sind sie dem Unvorhersehbaren und dem in ihnen selbst verborgenen ‚Dämonischen‘ aber nicht ohne Anker und Orientierung bis zur Verzweiflung ausgeliefert. Sie haben dem

993 „Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu schützen, indem ich mich, meiner Gewohnheit nach, hinter ein Bild flüchtete“ schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit, und meint damit den Egmont, der ihm bei der Bewältigung der neuen Erkenntnisse hilft. HA. Dichtung II. S. 176.

994 Schmidt, Jochen: Goethe und Faust, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 111-119. Hier S. 119. Auch Sengle formuliert in seinem Aufsatz „Goethe und Kleist“ diese These: „Wir kennen Goethes zweideutiges Verhältnis zur Tragödie. Er fürchtet das Tragische nicht deshalb, weil er unempfindlich dafür wäre, sondern weil er es nicht unbedingt gelten lassen will. Alle Vorbedingungen zum Tragischen sind bei Goethe gegeben, insofern die überlieferten religiösen und sittlichen Normen bei ihm erschüttert sind und der Einzelne ungeborgen vor der Welt steht. Aus dem Goethschen Ansatz folgen die verzweifelten Tragödien Kleists, Grabbes und Hebbels unaufhaltsam, denn: Wo ist der Sinn für den Einzelnen, der, selbst dämonisch getrieben, zum Teil des unberechenbaren Ganzen wird? […]“. Eine solche Aus-gestaltung aber „widerspricht Goethes Drang zur Bejahung, seinem Wunsch zu heilen und zu retten. Er muss eine Kraft gegen das Ungeheure anrufen.“ Sengle: Wandlung. S. 245.

995 In Einwirkung der Neueren Philosophie berichtet Goethe davon, dass Schiller immer die Freiheit des

995 In Einwirkung der Neueren Philosophie berichtet Goethe davon, dass Schiller immer die Freiheit des