• Keine Ergebnisse gefunden

I. Heinrich von Kleist

2. Vertrauen – Von der Unmöglichkeit wahrer Nähe

2.4 Thusnelda – Manipulierte Erkenntnis

Thusnelda ist Alkmene, der Gattin Amphitryons, näher verwandt als es auf den ersten Blick scheinen mag und es die vorliegenden Forschungstexte aufzeigen. Tatsächlich sind die Parallelen zwischen beiden Figuren so zahlreich und vielschichtig wie bei kaum einem anderen Figurenpaar im Werk Heinrich von Kleists.292

Ebenso wie Alkmene verkennt auch Thusnelda den wahren Charakter eines ihr nahe stehenden Menschen und muss im Verlauf des schmerzhaften Bewusstwerdungs-prozesses erkennen, dass das Bild ihres Gegenübers und somit auch das unbedingte Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen auf einer Illusion beruht. Zudem wird die Desillusionierung wie im Falle Alkmenes gezielt von außen initiiert und dafür eine Inszenierung gewählt, welche die Betroffene zum Zwecke der Läuterung und Be-strafung Schuld empfinden lässt.

Der Subplot um Thusnelda in Die Hermannsschlacht spiegelt die Handlung in Amphitryon in einer Weise wider, die bemerkenswerte Rückschlüsse auf dessen Bedeutung erlauben und gleichzeitig die Sonderstellung der Bewusstseinsentwicklung Thusneldas bis hin zum auslösenden Moment ihrer Ohnmacht im hier vorgestellten Schema deutlich macht.

In Die Hermannschlacht ist es jedoch kein außerhalb des Geschehens stehender Gott, welcher manipulierend eingreift, sondern ein Mensch, der – sich im Besitz einer ultima-tiven Erkenntnis wähnend – für sich das Recht einfordert, als solcher zu agieren.

Hermann hält es für unabdingbar, seiner Ehefrau Thusnelda zu vermitteln, dass sein erklärtes Ziel, die „Freiheit“293 der Germanen durch den Sieg über die feindlichen Römer, nur zu erreichen ist, indem diesem Ziel jegliche Moral und jegliches persönliche Gefühl untergeordnet werden.294

292 Vgl. dazu auch McGlathery, James: Desire’s Sway. The plays and stories of Heinrich von Kleist.

Detroit: 1983. S. 122-125.

Thusnelda jedoch plädiert trotz aller

Überzeugungs-293 Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht. Ein Drama, in: Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleist. Band I: Dramen: S. 535-628. Hier S. 547. Zur vagen Definition der Freiheit, welche Hermann zur Legitimation seiner Taten dient, vgl. Hanenberg, Peter: Ein Entwurf der Weltbewältigung. Kleists Hermannsschlacht, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1995, S. 250-266. Hier S. 259.

294 Bereits in der älteren Nachkriegs-Forschung, die Kleists Die Hermannsschlacht fast einstimmig als blutrünstiges Propagandastück interpretiert, wird Hermann jeglicher moralischer Sinn abgesprochen. Vgl.

beispielhaft Reske, Hermann: Traum und Wirklichkeit im Werk Heinrich von Kleists. Stuttgart: 1969.

Auch die neuere Forschung, welche sich um eine differenzierte Betrachtung des Inhalts bemüht, sieht die

61 versuche Hermanns nicht nur immer wieder für eine Unterscheidung zwischen dem einzelnen, unter Umständen ehrenhaften Römer und der Masse der Feinde.295 Sie ent-wickelt sogar Gefühle für den ihr zugeneigten römischen Legaten Ventidius Carbo,296 zu dessen Verführung Hermann sie trotz ihres Widerwillens unter Berufung auf die Liebe einer Ehefrau aus politischen Gründen nötigt, und fordert diesem gegenüber ein moralisch korrektes Verhalten ein.297 So beschließt Hermann, ihr eine Lektion zu er-teilen, wobei, ebenso wie bei Jupiter,298 weniger die persönlichen eifersüchtigen Gefühle für Thusnelda eine Rolle spielen als das Bestreben, seine Ehefrau für das Abweichen von seiner eigenen Weltsicht zu bestrafen.299 Während es aber Jupiter neben der Rache an Alkmene für ihre Missachtung seiner Göttlichkeit tatsächlich um eine Bewusstwerdung derselben geht, will Hermann Thusneldas Verblendung gezielt durch eine andere Verkennung ersetzen. Sie soll seine, an sich bereits fragwürdige Einstellung nicht nur teilen, sondern sich ganz und gar und ohne jeglichen Zweifel dem Römerhass hingeben. Während er selbst sich durchaus darüber bewusst ist, dass es gute und schlechte Römer gibt, dies jedoch verdrängt, um seine Ziele erreichen zu können,300 fördert er bei Thusnelda absichtlich eine blinde Rachsucht.301

Figur Hermanns zumeist als einen jegliche moralische Werte negierenden Propagandisten und mani-pulativen und berechnenden Politiker an. Vgl. beispielhaft Essen, Gesa von: Herrmannsschlachten.

Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen: 1998 sowie Stephens, Anthony: Kleist-Sprache und Gewalt. Mit einem Geleitwort von Walter Müller-Seidel.

Freiburg i. Brsg.: 1999 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Band 64), hier findet sich auch ein detaillierterer Überblick über die verschiedenen Forschungspositionen zu „Die Hermannsschlacht“

bezüglich der Intention Kleists, dieses Stück zu verfassen, und Hanenberg: Weltbewältigung. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Pierre Kadi Sossou, welcher Hermanns Taten im Sinne von Ciceros „bellum-iustum-Doktrin“ als legitimiert versteht. Sossou, Pierre Kadi: Römisch-Germanische Doppelgängerschaft.

Eine ‚palimpsestuöse’ Lektüre von Kleists Hermannsschlacht. Frankfurt am Main: 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Band 1858), S. 43-58.

295 „Dich [Hermann] macht, ich seh, dein Römerhaß ganz blind. Weil als dämonenartig dir Das Ganz’

erscheint, so kannst Du dir Als sittlich nicht den Einzelnen gedenken.“ Sembdner (Hg.):

Hermannsschlacht. S. 557.

296 Um Thusneldas Gefühle weiß Hermann seit ihrer Mitleidsbekundung nach der Jagdszene. Darauf deutet sein Ausspruch „Ich glaub, beim Himmel die römische Tarantel hat -?“ hin. Ebd. S. 551.

297 „[...] Bekämpf ihn, wenn Du willst mit Waffen des Betrugs, da wo er mit Betrug dich angreift, doch hier, wo gänzlich unbesonnen, sein junges Herz sich dir entfaltet, hier wünsch ich lebhaft, muss ich dir gestehn, daß du auf offne Weise ihm begegnest. [...]“. Ebd. S. 556.

298 Vgl. Teil I: Kapitel 2.3.

299 Darauf deuten seine Reaktion auf Thusneldas Offenbarung, sie halte Ventidius Gefühle für echt, die wesentlich heftiger ausfällt, als jene, die er bei der Erkenntnis der Gefühle seiner Frau für den Römer zeigt: „Ich glaub, Du bildst dir ein, Ventidius liebt dich? [...] Nein, sprich im Ernst, das glaubst du? So, was ein Deutscher lieben nennt [...]?“ sowie seine Ankündigung „[...] Wer recht hat, wird sich zeigen.

[...]“. Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 557.

300 „[...] Was! Die Guten! Das sind die Schlechtesten. [...]“. Ebd. S. 593. „Er [der römische Retter eines germanischen Kindes, J.F.] hat auf einen Augenblick, mein Herz veruntreut, zum Verräter an

62 Angesichts seiner im Verlauf der Handlung deutlich gewordenen Tendenz zur Täu-schung und Manipulation überrascht es nicht, dass Hermann diese Techniken, hier wieder in Parallele zu Jupiter, auch in Bezug auf Thusnelda anwendet.302 Mit Hilfe des Wissens um die Locke, die Ventidius ihr gegen ihren Willen entwendet hat, sowie eines gefälschten Briefes sucht er das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Doch dadurch, dass Hermann Thusnelda, indem er ihr den Betrug des Ventidius vortäuscht, selbst betrügt, wird deutlich, dass er, der alle den Feinden vorgeworfenen Eigenschaften in sich vereint,303 sich auch in seiner Liebesbeziehung als wahrhafter Besitzer der negativen Qualitäten zeigt, die er seinem römischen Konkurrenten unterstellt.304

Spätestens als Thusnelda die Echtheit des gefälschten Briefes nicht anzweifelt, obwohl Hermann ihr mehrfach bewiesen hat, dass Täuschung für ihn ein adäquates Mittel zum Erreichen seiner Ziele ist, zeigt sie sich blind gegenüber den wahren Absichten ihres Ehemannes.

Damit aber beruht Thusneldas anfängliche Verblendung auch nicht etwa, wie Hermann sie glauben machen will, auf der Idealisierung des Ventidius bzw. der Römer, sondern manifestiert sich, wie auch im Falle Alkmenes, in der Verkennung des wahren Charakters ihres Ehemannes und ihrer Gefühle für ihn. Paradoxerweise ist Thusneldas ‚Erkenntnis-prozess’ das Ergebnis des vorsätzlichen Eingreifens des Objekts ihrer Illusion und somit augenscheinlich der Weg in eine noch tiefere Verstrickung in Verdrängung und Un-wirklichkeit.

305

Deutschlands großer Sache hat gemacht!“ Ebd. S. 594. Zu Hermanns teilweiser Unsicherheit in Bezug auf das von ihm aufgebaute Freund/Feind-Schema vgl. auch von Essen: Hermannsschlachten. S. 165-169.

Doch ihr unerschütterliches Vertrauen in ihr eigenes Urteilsvermögen hinsichtlich ihres Gegenübers erweist sich bereits zuvor als Ergebnis einer illusorischen Weltsicht. Ähnlich wie Sylvester Schroffenstein sticht sie nur auf den ersten Blick

301 Als er erfährt, dass Thusnelda sich der Rache persönlich hingeben will, bezeichnet er dies als seinen

„ersten Sieg“. Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 599.

302 Gemeinsam mit Regina Schäfer bin ich der Ansicht, dass der Brief, den Hermann Thusnelda vorlegt, gefälscht ist. Zur Argumentation vgl. Schäfer, Regina: Der gefälschte Brief. Eine unkonventionelle Hypothese zu Kleists Hermannsschlacht, in: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 183-194. Für die Echtheit des Briefes argumentiert beispielsweise Pierre Kadi Sossou. Ders.: Hermannsschlacht. S. 119. Selbst jedoch wenn man von der Echtheit des Briefes ausgeht, ist es unverkennbar, dass Hermann Thusnelda gezielt zu der von ihm gewünschten Reaktion treibt. Vgl. Michelsen, Peter: „Wehe, mein Vaterland, Dir!“. Heinrich von Kleists Die Hermannsschlacht, in: Kleist-Jahrbuch (1987), S. 115-136 und Stephens: Gewalt. S. 132.

303 Vgl. stellvertretend von Essen: Hermannsschlachten. S. 181 und Michelsen: Hermannsschlacht. S.

131.

304 Die Forschung hat bereits mehrfach richtig darauf hingewiesen, dass eigentlich Hermann Thusnelda entmenschlicht. Vgl. unter anderem Kennedy, Barbara H.: For the Good of Nation. Woman’s Body as Battlefield in Kleist’s Die Hermannsschlacht, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies, 30 (1) (1994), S. 17-31. Hier S. 19.

305 Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 596-597.

63 positiv aus der Masse der Verkennenden und Betrügenden hervor.306 Zwar diskutiert Thusnelda mit Hermann über sein Verhältnis zu den Römern, lässt sich von ihm jedoch immer wieder besänftigen und in die von ihm gewünschte Richtung leiten. In Bezug auf Hermanns politische Schachzüge agiert sie völlig unbedarft. Trotz der Tatsache, dass Hermann ihr in dem Gespräch, in welchem er ihr das Gerücht bezüglich der Angewohn-heit der Römer, die Haare und Zähne ihrer Feinde für sich selbst zu verwenden, suggeriert, den Angriff auf die Römer bereits indirekt ankündigt,307 zeigt sie sich von diesem völlig überrascht.308

Ihre Verkennung Hermanns manifestiert sich jedoch auch noch auf einer zweiten Ebene.

Während ihr Ehemann längst um ihre wahren Gefühle für Ventidius weiß und sie für seine Zwecke zu nutzen plant, kann sie selbst sich diese Zuneigung nicht eingestehen.

Um den römischen Legaten zu schützen, argumentiert sie auf der Ebene der allgemei-nen Menschenliebe, doch ihre starken Gefühle für ihn werden sehr deutlich, als sie erschrocken und weinend darum bittet, beim Überfall auf die Römer sein Leben zu verschonen:

Sie kann sich seiner Manipulation nicht entziehen, da sie nicht in der Lage ist, zu unterscheiden, wann er die Wahrheit sagt und wann er lügt.

Mein liebster, bester Herzens-Hermann, ich bitte dich um des Ventidius Leben!

Das eine Haupt nimmst du von deiner Rache aus! [...]

Du schenkst sein Leben mir? [...]

O Liebster mein, wie rührst du mich! O Liebster!309

Es fällt auf, dass sich in diesem Abschnitt, in welchem sie um das Leben desjenigen fleht, zu dem sie verbotene Gefühle entwickelt hat, die Koseworte für ihren Ehemann häufen, als wolle sie sich selbst und Hermann davon überzeugen, dass ihre Liebe nur ihrem rechtmäßigen Ehemann gilt.310

306 Gesa von Essen stellt zutreffend fest, dass Thusnelda zwar zwischen Einzelnem und Ganzen unter-scheidet, jedoch unter Gefühlsunsicherheit leidet. Dies.: Hermannsschlachten. S. 159 und 167.

Hier wird wiederum die Parallele zu Alkmene deutlich, die, selbst nachdem sie erkannt hat, dass sie die Nacht mit jemand anderem als Amphitryon verbracht hat, nicht glauben will, dass ihre Gefühle für ihn trügerischer

307 „Je nun, mein Kind. Man schlägt ihn [Varus] wieder `naus [aus Germanien].“ Sembdner (Hg.):

Hermannsschlacht. S. 571.

308 „Sag, liebster Freund, um Himmelswillen, welch ein Gerücht läuft um den Lagerplatz? [...] es würd, in wenig Stunden, dem Crassus [...] ein fürchterliches Blutgericht ergehn!“ Ebd. S. 593.

309 Ebd. S. 594.

310 Zur Verdrängung ihrer wahren Gefühle gegenüber Ventidius vgl. McGlathery: Desire. S. 122-125.

64 sind als erwartet, da dies nicht nur eine Desillusionierung in Bezug auf die eigene Weltsicht, sondern auch unweigerlich das Eingeständnis einer Schuld mit sich brächte.

Im Falle Thusneldas allerdings steht dieser Moment der Verunsicherung zu diesem Zeitpunkt noch aus. Er folgt erst, als Hermann, der Thusneldas Bewusstwerdung in diesem Punkt gezielt herbeiführt, um dadurch ihre durch den vorgetäuschten Betrug ausgelösten Rachegedanken in Bezug auf Ventidius zu fördern, seiner Ehefrau wenig später den gefälschten Brief vorlegt.

Als Thusnelda den Inhalt des Briefes realisiert, sieht sie sich auf mehreren Ebenen mit einer Desillusionierung konfrontiert. Zunächst muss sie erkennen, dass ihre Gefühle für Ventidius doch stärker sind, als sie sich eingestehen wollte, trifft sie sein vermeintlicher Betrug doch ungewöhnlich tief.311

Ihre unmittelbare Reaktion auf die für sie schrecklichen Erkenntnisse gleicht denen Alkmenes und anderer Protagonisten Kleists.

Dies löst in ihr Schuldgefühle gegenüber Hermann aus, die dadurch potenziert werden, dass dieser hinsichtlich des Charakters der Römer im Allgemeinen auch Recht gehabt und sie selbst sich zur Närrin gemacht zu haben scheint. Sie erkennt richtig, dass ihr Urteilsvermögen begrenzt und ihre bisherige Weltsicht illusorisch ist, allerdings basiert diese Einsicht auf der fälschlichen Annahme, sie habe sich in Ventidius geirrt.

312 „Die Sprache geht ihr aus“, „sie verbirgt ihr Haupt“313 und äußert ihre Verzweiflung über die ihr undurchschaubar gewordene Welt. Ihre Worte: „Nun mag ich diese Sonne nicht mehr sehn.“ und ihre Äußerung gegenüber Hermann, er möge sie verlassen, da er, sie selbst und die ganze Welt ihr „verhaßt“314 seien, erinnern an Alkmenes: „Ich will nichts hören, leben will ich nicht, wenn nicht mein Busen mehr unsträflich ist.“315 und drücken sowohl Scham als auch Bestürzung aus; Empfindungen, aus denen heraus sich beide zum Handeln genötigt sehen. Während Alkmene gar Selbstmord in Betracht zieht,316 beschließt Thusnelda, sich selbst einer Läuterung zu unterziehen, um Hermann wieder würdig zu werden,317

311 Gegenüber Gertrud äußert sie später explizit, dass sie in Ventidius verliebt sei. Sembdner (Hg.):

Hermannsschlacht. S. 618.

glaubt sie doch, sich ihm als schlechte Ehefrau erwiesen zu haben. Wie von

312 Vgl. Teil I: Kapitel 4.1. zur Marquise von O….

313 Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 597.

314 Ebd.

315 Ebd. S. 268.

316 Vgl. Teil I: Kapitel 2.3.

317 „Du sollst mit mir zufrieden sein.“ Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 599.

65 Hermann beabsichtigt, führen ihre Schuldgefühle in Verbindung mit ihrem Hass gegenüber dem vermeintlichen Betrüger Ventidius zur potenzierten Übernahme von Hermanns die Moral negierenden Weltsicht, welche sich im Racheakt gegenüber dem geliebten Feind verwirklicht. Statt zu erkennen, dass auch Hermanns Weltsicht keinen Anspruch auf allumfassende Gültigkeit haben kann, fokussiert Thusnelda ihre Wut auf das vermeintliche Objekt ihrer Illusionen und will ihre Gefühle für Ventidius sowie das Bewusstsein um ihre Fehleinschätzung durch dessen Tötung tilgen. Damit gelingt es ihr, die eigentlich aus den Geschehnissen resultierende, noch schmerzhaftere Erkenntnis der allgemeinen Undurchschaubarkeit der Welt vorläufig auszublenden.

Obwohl die verübte Gewalttat sowohl im Falle der Amazonenkönigin Penthesilea als auch im Fall Thusneldas aus einem Irrtum resultiert, stimme ich mit Sigurd Burckhard318 und Ilse Graham319 darin überein, dass Thusnelda, anders als Penthesilea, zumindest teilweise bewusst handelt. Zwar wird sie indirekt von Hermann kon-trolliert,320 das Symbol ihrer Entmenschlichung, die sie durch Ventidius zu erfahren glaubt, den Angriff durch die Bärin, wählt sie jedoch eigenständig.321 Zudem handelt sie nicht unmittelbar im Affekt, sondern plant ihre Tat. Dies zeigt sich deutlich in den Anweisungen, die sie ihrer Dienerin am Vortag der Tat gibt und deren adäquate Ausführung sie vor dem Eintreffen des Ventidius noch einmal überprüft.322 Darin ähnelt sie Piachi, dessen Bewusstwerdung zu einem Umschlagen in das komplementäre Extrem seiner vorherigen Verdrängung führt, sodass er Niccolo in vollem Bewusstsein seiner Tat brutal ermordet.323 Anders als dieser erlebt Thusnelda ihre einzige, in der Kleist-Forschung bisher weitgehend unbeachtete Ohnmacht324

318 Burckhard, Sigurd: The Drama of Language. Essays and Goethe and Kleist. London: 1970. S. 125.

erst nachdem ihre Rache

319 Graham, Ilse: Heinrich von Kleist. Word into Flesh. A Poet’s Quest for the symbol. Berlin: 1977. S.

209.

320 Vgl. dazu Kennedy: Hermannsschlacht. S. 18.

321 „Er hat zur Bärin mich gemacht!“ Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 616. Bemerkenswert ist hier, dass sie sich mit einer eigentlich zahmen Bärin gleichsetzt, welche nur von der Leine gelassen ihren Instinkten folgt. Hier wird wiederum die Parallele zu der Manipulation durch Hermann deutlich. Vgl.

dazu auch Müller, Norbert: Verstörende Bilder in Kleists Hermannsschlacht, in: Kleist-Jahrbuch (1984), S. 98-105. Er spricht von Hermann als „Bärenführer“. Ebd. S. 99.

322 Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 615-616.

323 Vgl. Teil I: Kapitel 2.1.

324 Peter Michelsen, einer der wenigen Interpreten, die diese zu deuten versuchen, spricht von ihr als Folge einer „innerster Verwundung“, ohne jedoch differenzierter darauf einzugehen, was damit gemeint sein könnte. Michelsen: Hermannsschlacht. S. 133. James McGlathery bezieht sich indirekt auf sie, wenn er davon spricht, Thusnelda gebe nach der Tat ihrem Wunsch nach Vergessen nach. McGlathery: Desire.

S. 125. Die Schlüsselrolle, die ihr innerhalb der Charakterentwicklung Thusnelda zukommt, wurde ihr jedoch meines Erachtens nach bisher nicht eingeräumt.

66 vollendet ist. Das deutet darauf hin, dass ihre abschließende Desillusionierung bzw.

Erkenntnis ebenso erst an diesem Punkt greift. Ihre Bewusstseinsentwicklung findet ihren Endpunkt demnach nicht zwangsläufig in der von Hermann bei ihr angestrebten Verblendung.

Die sogenannte Bärenszene ist völlig von Thusneldas Wunsch nach Auslöschung der von ihr gegenüber Hermann empfundenen Schuld geprägt. Wie Sigurd Burckhard zutreffend feststellt,325

Wie schwer ihr diese Unterdrückung fällt, wird in der Schlüsselsymbolik der Tötungs-szene des Ventidius deutlich. Gertrud, die Thusneldas frühere Einstellung repräsen-tiert,

will sie durch ihre Tat nicht nur Ventidius für dessen vermeint-lichen Verrat, sondern auch sich selbst für ihre, ihr nun bewusst gewordenen verbotenen Gefühle und ihren Glauben an seine moralische Integrität bzw. die moralischen Werte an sich bestrafen. Um diesen Akt der gewaltsamen Zerstörung durchzuhalten, ist es für sie essentiell, sowohl ihre Liebe als auch ihr bisheriges Wertesystem zu unterdrücken und sich ganz Hermanns extremer Philosophie hinzugeben, welche sie in Vertiefung ihrer anfänglichen Verkennung als ultimativ wahrhaftig anerkennt und nun auch zu ihrer eigenen machen will.

326 versucht, sie von der geplanten Ermordung des Ventidius abzuhalten und weigert sich, diesen in den Park zu führen. Letztlich verschließt Thusnelda selbst das Parktor und damit auch den Zugang zu ihrem (früheren) Ich.327 Sie weigert sich, den Schlüssel herauszugeben. Erst ihre eigene Erwähnung der Liebe, die Ventidius ihr gegenüber angeblich empfinde,328 veranlasst sie, den Schlüssel wegzuwerfen. Schlag-artig wird so die Verbindung zu ihren verdrängten Empfindungen und moralischen Werten wieder hergestellt. In diesem Moment verliert sie das Bewusstsein:

Sag ihr, daß du sie liebst, Ventidius, so hält sie still und schenkt die Locken dir!

Sie wirft den Schlüssel weg und fällt in Ohnmacht.329

325 Burckhard: Hermannsschlacht. S. 128. Eine Gegenposition nimmt unter anderem Barbara Kennedy ein, welche den Fokus auf dem Racheaspekt sieht. Dies: Hermannschlachten. S. 27.

326 Wie zuvor Thusnelda, versucht sie kaltblütige Morde zu verhindern und bezeichnet jene, die zu solchem bereit sind als „Ungeheu’r“. Sembdner (Hg.): Hermannsschlacht. S. 594 und 620.

327 Es fällt auf, dass Thusnelda ihre Liebe gegenüber Ventidius das erste Mal offen zugibt, bevor sie aktiv zur Tat schreitet. Ebd. S. 618.

328 Ebd. S. 620.

329 Ebd. S. 620.

67 Das deutet auf die Einsicht hin, dass ihre Schuldgefühle gegenüber Hermann sie zu einem Verhalten veranlasst haben, welches ebenfalls auf einer Missdeutung basiert.

Denn die eigentliche Erkenntnis, die aus dem Wissen um ihre eigene Manipulierbarkeit und ihr mangelndes Urteilsvermögen bezüglich ihrer Mitmenschen resultiert, ist nicht die Notwendigkeit der Negierung jeglicher Moral, sondern die unvermeidbare Unzu-länglichkeit des eigenen Bewusstseins und dem damit verbundenen Mysterium der Welt. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Thusnelda an diesem Punkt die vollständige Wahrheit des Betrugs an ihr begreift. Doch da Ohnmachten im Werk Heinrich von Kleists zumeist das (drohende) Durchbrechen einer neuen oder bisher verdrängten Einsicht markieren, liegt es nahe, dass sie zumindest die Wahrhaftigkeit der Gefühle zwischen ihr und Ventidius und dessen Ermordung als Fehler erkennt. Gertrudes Befürchtung ist eingetroffen:

Die Rache der Barbaren sei dir fern!

Es ist Ventidius nicht, der mich mit Sorg erfüllt;

Du selbst, wenn nun die Tat getan,

von Reu und Schmerz wirst du zusammenfallen!330

Wie im Falle Alkmenes von einigen Interpreten vorgeschlagen,331 lässt sich die Ohn-macht Thusneldas auf einer zweiten Ebene auch als Erkenntnis der Machtlosigkeit einer Frau gegenüber manipulierenden Männern sehen. An Plausibilität gewinnt dieser Inter-pretationsansatz vor allem dann, wenn man Thusnelda Bewusstlosigkeit zu der

Wie im Falle Alkmenes von einigen Interpreten vorgeschlagen,331 lässt sich die Ohn-macht Thusneldas auf einer zweiten Ebene auch als Erkenntnis der Machtlosigkeit einer Frau gegenüber manipulierenden Männern sehen. An Plausibilität gewinnt dieser Inter-pretationsansatz vor allem dann, wenn man Thusnelda Bewusstlosigkeit zu der