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I. Heinrich von Kleist

6. Sprachliche Umsetzung – Kleists Metaphorik

6.1 Sprechende Namen – Die Ohnmachtsbezeichnungen

6.2.2 Sturm und Tod – Ohnmachtssymbolik

Die Symbole, welche Kleist zur ergänzenden Beschreibung der Ohnmachten einsetzt, stammen hauptsächlich aus zwei unterschiedlichen Sinnfeldern.

Der Bereich ‚Sturm‘ umfasst zum einen die Blitzmetaphorik. In vier Fällen, bei einer durch leichteren Schock ausgelösten Bewusstlosigkeit und drei Erschütterungs-ohnmachten, verwendet der Dichter die Formulierung „wie vom Blitz nieder-geschmettert“, um das Ohnmachtsszenarium zusätzlich zu veranschaulichen.624

622 Vgl. dazu die Tabellen I und II.

Damit betont er das Element der Plötzlichkeit und suggeriert den Einfluss einer höheren Gewalt. Beides sind Aspekte des unwillkürlichen seelischen und körperlichen Kontroll-verlusts, welcher mit jeder Ohnmacht einhergeht. Maria M. Tatar verweist zudem bereits in ihrer Studie von 1978 sehr treffend auf die zerstörerische Kraft, die mit einem Blitz assoziiert ist und welche auf jene Zerstörung einer Illusion hindeutet, die im Werk

623 Vgl. dazu Tabelle IIa.

624 Vgl. dazu ebd.

120 Heinrich von Kleists immer wieder zu Überforderung und Ohnmacht führt.625 Eine von ihr vermutete626 regelmäßige Verknüpfung von Ohnmacht mit Blitz- und Donner-metaphorik in den Texten des Autors erhärtet sich durch die Untersuchung des Gesamt-werks allerdings nicht.627

Zum anderen ist dem Bedeutungsfeld ‚Sturm‘ das wohl ausdrucksstärkste, wenn auch das am seltensten verwendete Bild für das In-Ohnmacht-Fallen im kleistschen Werk zugeordnet: jenes der umgestürzten Eiche. Während Kleist dieses Sinnbild im Falle der Penthesilea auf die grundsätzliche Tragik ihrer Rolle im Handlungsablauf bezieht,628 ist die Verknüpfung in Die Familie Schroffenstein eindeutig.629

Freilich mag wohl mancher sinken, weil er stark ist. Denn Die kranke abgestorbne Eiche steht

Dem Sturm, doch die gesunde stürzt er nieder, Weil er in ihre Krone greifen kann.

– Nicht jeden Schlag ertragen soll ein Mensch, Und welchen Gott faßt, denk ich, der darf sinken [...] Doch sollen

Wir stets des Anschauns würdig aufstehn.630

Diese Worte spricht Sylvester von Schroffenstein nach dem Erwachen aus seiner Ohn-macht. In ihnen schwingt eine insgesamt positive Bewertung der Ohnmacht mit, scheinen es doch eher die starken Figuren zu sein, welche eine Anfälligkeit für dieses Phänomen aufweisen. Im Gegensatz zur kranken ist es eher die starke und gesunde Eiche, welche anfällig für Sturm und damit auch für den Fall ist. Zudem wird die höhere Gewalt, welche hier eine ebenso wichtige Rolle wie in Bezug auf die Blitzmetaphorik spielt, mit einem positiv belegten Gott in Verbindung gebracht. So wird die

625 Tatar, Maria M.: Spellbound Studies on Mesmerism and Literature. Princeton: 1978. S. 84.

626 Ebd.

627 Vgl. Tabelle IIa.

628 Prothoe vergleicht sie nach ihrem Selbstmord mit der stolzen Eiche, welche vom Sturm gestürzt wird.

Sembdner (Hg.): Penthesilea. S. 428.

629 An einer weiteren Stelle, taucht das Bild der Eiche, wenn auch nicht im gleichen Wortlaut, auf.

Jeronimo nimmt sich nach seiner ersten (Verdrängungs-)Ohnmacht vor, nicht mehr zu „wanken, wenn auch jetzt die Eichen entwurzelt werden […]“. Sembdner (Hg.): Das Erdbeben in Chili. S. 147. Da jedoch nicht klar ist, ob sich seine Äußerung hier auf die Ohnmacht selbst oder auf sein gesamtes Verhalten zu Beginn des Erdbebens bezieht, bleibt eine genauere Analyse der Szene, ebenso wie im Fall der Penthesilea, aus.

630 Sembdner (Hg.): Die Familie Schroffenstein. S. 82.

121 wusstlosigkeit, zumindest aus Sicht der Figur, zum Tor zu Gottes höherer Wahrheit631 Interessant für die vorliegende Untersuchung allerdings ist vor allem, dass diese Deutung keinesfalls uneingeschränkt gilt.

sowie zum Mittel der Weiterentwicklung.

632 Es ist richtig, dass mit einer Ohnmacht eine Desillusionierung und Erkenntnis der Wahrheit einhergeht, welche nicht nur bereits an sich Stärke verlangt, sondern auch die Grundvoraussetzung für jegliche langfristige Bewusstseinserweiterung ist. Entscheidend ist aber, wie man aus dem ‚Fall’ hervorgeht, ob man verdrängt oder erkennt. Nur Erkenntnisohnmachten erfüllen das Kriterium des

„würdigen“ Aufstehens im Sinne einer positiven Funktion der Bewusstlosigkeit633

Das zweite Bedeutungsfeld, welches Kleist Material für die Umschreibung seiner Ohn-machten liefert, ist die Todesmetaphorik. Der Vergleich des Zustandes der Bewusst-losigkeit mit dem Tod ist die am häufigsten zu findende Verknüpfung im Werk des Autors. In neun Fällen ergänzen die Formulierungen „wie tot“ und „leblos“ die üblichen Ohnmachtsbezeichnungen.

und sind von den Verdrängungsohnmachten, welche die vorherigen Tendenzen zur Verblendung lediglich verstärken und eine Bewusstwerdung verhindern, klar zu unterscheiden. Beide haben eine völlig unterschiedliche Bedeutung für die Charakter-entwicklung der Figur und das Werk Kleists insgesamt. So wird das von Sylvester Konstatierte – oder präzise eigentlich das Symbol der gestürzten Eiche – trotz seiner Einzigartigkeit zum potentiellen Differenzierungsmittel für die Ohnmachtsanalyse im Werk Kleists.

634 Dadurch wird die Todesähnlichkeit der Ohnmacht in den Vordergrund gerückt.635 Die bewusstlosen Figuren sind vorübergehend empfindungs- und reaktionslos, was von dem Betrachter (Dramen) bzw. dem Erzähler (Erzählungen) mit dem Zustand einer Leiche assoziiert wird. Hier klingt auch die zeitgenössische Verknüpfung von Tod und Schlaf mit an.636

631 Noch deutlicher wird dies in folgendem Abschnitt: „Was mich freut, Ist, daß der Geist doch mehr ist, als ich glaubte, Denn flieht er gleich auf einen Augenblick, An seinen Urquell geht er nur, zu Gott, Und mit Heroenkraft kehrt er zurück.“Sembdner (Hg.): Die Familie Schroffenstein. S. 82.

632 Hiermit widerspreche ich Ditmar Skrotzki, welcher der Ohnmacht bei Kleist basierend auf Sylvesters Aussage im Allgemeinen die Fähigkeit einer „Verbindung zur Tiefenschicht des Seins“ zuerkennt. Ders.:

Die Gebärde des Errötens. S. 11.

633 Sylvester erkennt sich dieses selbst nicht zu. Sembdner (Hg.): Die Familie Schroffenstein. S. 82. Vgl.

auch die Ausführungen in Teil I: Kapitel 2.2.

634 Vgl. Tabelle IIa.

635 Im medizinischen Diskurs der Zeit wird diese betont. So spricht der Zedler von dem Zustand als „fast todt“. Zedler: Ohnmacht. S. 0519.

636 Vgl. zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Todesthematik Hinderer: Kleist. S. 103-125.

122 Anders als von Birgit Trummeter für die Literatur des französischen Sprachraums festgestellt,637 bleibt es im Werk Kleists jedoch zumeist bei einer bloßen bildlichen Verknüpfung beider Bedeutungsfelder. Weder wird die Ohnmacht von Beobachtern jemals langfristig und handlungswirksam mit dem tatsächlichen Tod verwechselt638 noch hat sie eine unmittelbar todbringende Wirkung.639 Die Ohnmachten beeinflussen zwar den Handlungsverlauf und werden so zu gestalterischen Mitteln, sie bedingen aber nie direkt und unumgänglich einen tödlichen Ausgang.640 Einige Ohnmachten lassen sich unter Umständen als auf den nachfolgenden Tod der Protagonisten vorausdeutend interpretieren. Sowohl Elvire als auch Piachi, denen es nach der Erkenntnisohnmacht nicht mehr gelingt, erneut zu verdrängen, sterben bzw. töten sich selbst.641 Doch von Einheitlichkeit oder großer Häufung ist diesbezüglich nicht zu sprechen. Nur eine einzige Ohnmacht verknüpft das Element der Vorausdeutung mit der vorangegangenen kurzfristigen Fehlinterpretation des bewusstlosen Zustandes als Tod. Agnes von Warwand wird, bedroht durch Johann aus dem Hause Rossitz, ohnmächtig, nur um im späteren Handlungsverlauf von jenem getötet zu werden, der hier grundlos ihr Ableben befürchtete: ihrem Vater.642

Die Todesmetaphorik im kleistschen Werk ist somit primär der Verdeutlichung der Tatsache geschuldet, dass die Ohnmacht immer mit dem drohenden ‚Tod‘ der bis-herigen Weltsicht einhergeht und in einigen Fällen – es sei dabei an das Symbol der gestürzten Eiche erinnert – eine subjektiv der Einheit mit Gott zu verdankende Bewusst-seinserweiterung bewirkt, die traditionell mit dem Leben nach dem Tod assoziiert ist.

Im Einklang mit dieser Deutung findet sich eine Häufung der wörtlichen Kombination

637 Trummeter: Ohnmacht. Zusammenfassung.

638 Sosias spricht in Amphitryon davon, dass der ohnmächtige Amphitryon tot sei und deswegen nichts hören könne. Dies ist jedoch eher als ironischer Hinweis gegenüber Jupiter zu verstehen. Amphitryon selbst wiederum fürchtet Alkmenes Tod nach der Enthüllung Jupiters. Hier geht es jedoch primär um die Frage, ob der Gott diese für sich beansprucht. Sembdner (Hg.): Amphitryon. S. 315 und 320.

Natalie hat in Der Prinz von Homburg wirklich Angst um Friedrich, als dieser fällt, doch die Worte „Die Freude tötet ihn“ sind meines Erachtens nicht auf die Ohnmacht selbst, sondern auf deren mögliche Folgen bezogen. Zudem handelt es sich hier insofern um einen Sonderfall, als dass die Ohnmacht die erwartete Hinrichtung ersetzt und der Symbolbereich ‚Tod‘ vor allem aufgerufen wird, um diese Verknüpfung zu verdeutlichen. Sembdner (Hg.): Der Prinz von Homburg. S. 708.

639 Beides stellt Trummeter unter anderem für Racines Bazajet fest. Dies.: Ohnmacht. S. 122-124.

640 Einen Ausnahmefall stellt hier vielleicht die Geschichte der Penthesilea dar, werden Achill und Prothoe doch nur durch diese in die Lage versetzt, die Amazonenkönigin vorübergehend zu täuschen, was schließlich zum fatalen Missverständnis, der Tötung Achills und ihrem Selbstmord führt. Da sich jedoch nicht sagen lässt, ob das Drama nicht auch ohne die Ohnmacht ähnlich tragisch geendet hätte, lässt sich keine eindeutige Verknüpfung herstellen. Vgl. dazu Teil I: Kapitel 1.2.

641 Vgl. Teil I: Kapitel 2.1. und 4.2 sowie Tabelle I.

642 Sembdner (Hg.): Die Familie Schroffenstein. S. 87.

123 bei durch Krankheit verursachter Besinnungslosigkeit,643 welche, neben der ohnehin vorhandenen Nähe zwischen den Sinnfeldern Tod und Krankheit, von einer übersinnlichen Erfahrung begleitet sein kann.644 Gleiches gilt für beide Arten der Erschütterungsohnmacht,645

die immer mit einer Vorheriges umstürzenden Bewusst-werdung im Zusammenhang stehen.

643 Dies ist der Fall beim Grafen von Strahl und Rupert. Vgl. auch Tabelle IIa.

644 Der Graf von Strahl begegnet Käthchen während seiner durch (vermutlich psychosomatische) Krank-heit bedingten Bewusstlosigkeit. Vgl. dazu detailliert Teil I: Kapitel 3.3.

645 Zu nennen sind dabei Elvire, Alkmene, Amphitryon, Penthesilea, Käthchen (2x) und der Prinz von Homburg. Vgl. auch Tabelle IIa.

124 7. Vorläufiges Fazit

Die vorliegende Analyse hat eindeutig bestätigt, dass die Ohnmacht im Werk Heinrich von Kleists eine bedeutsame Rolle spielt.

Während krankheits- und verletzungsbedingte Ohnmachten häufig von Kleist verwendet werden, jedoch nicht handlungsbestimmend sind, beeinflussen die genauer untersuchten Erschütterungsohnmachten den Erkenntnisprozess der Protagonisten nachhaltig. Dieser ist angesichts der These von der undurchschaubaren Welt für jedes der Werke des Autors von zentraler Bedeutung. Die Erschütterungsohnmachten sind immer als Reak-tion auf die zumeist plötzliche Erkenntnis, dass die eigene Vorstellungswelt nicht mit der Realität übereinstimmt und die Wahrheit nur in sehr begrenztem Maß erkennbar ist, zu verstehen.

Die deutlich gewordenen Missverständnisse betreffen unterschiedliche Aspekte des Lebens. Der sächsische Kurfürst muss einsehen, dass die eigenen Einflussmöglichkeiten begrenzt sind, Alkmene erkennt, dass man den wahren Charakter eines geliebten Menschen häufig verkennt, Littegarde lernt, an der Durchschaubarkeit Gottes zu zweifeln und die Marquise von O… wird mit dem eigenen unterdrückten Verlangen konfrontiert. Sie alle gaben sich einer Illusion hin, deren Zerstörung die Ohnmachten markieren.

Die Erschütterungsohnmachten sind Teil eines Schutzmechanismus, da die erlangten Einsichten unweigerlich mit Schock und Verzweiflung verbunden sind. Die Er-kennenden sehen sich durch das Zusammenbrechen ihrer Werte und ihrer Wissens-grundlagen der Unsicherheit ausgeliefert und sind kaum fähig, dieses Trauma zu bewältigen. Sie verlieren das Bewusstsein, um sich vor der Überforderung ihres Ver-standes zu schützen.

Einigen der Protagonisten gelingt dies, indem in den sogenannten Verdrängungs-ohnmachten das (wieder-)gewonnene Wissen bzw. die erschreckende Konsequenz aus diesem ins Unterbewusstsein verbannt wird. Ein eindrückliches Beispiel dafür stellt die Bewusstlosigkeit der Penthesilea dar, welche dazu führt, dass die Amazonenkönigin in ihre vorherige Illusionswelt zurückkehren kann. Bei der in dieser Arbeit als Erkenntnis-ohnmacht bezeichneten Form der Bewusstlosigkeit hingegen überdauert das Wissen um die Realität den Ohnmachtsanfall.

125 Zu Beginn der Untersuchung wurde die These aufgestellt, dass die Ohnmacht in diesen letzteren Fällen als Verbindungsmedium mit dem Unterbewussten fungiert, die Betroffenen sich eines Teils des dort vorhandenen Wissens auch nach dem Erwachen erinnern und so eine langfristige Läuterung eintritt. Eine genauere Auseinandersetzung mit der Thematik ergab, dass eine solche Wirkung äußerst selten ist. Häufig ersetzen die entsprechenden Protagonisten nach dem Ende ihrer Erkenntnisohnmacht, nach welcher ihnen das erlangte Wissen noch präsent ist, ihre vorherige Verblendung lediglich durch die entgegengesetzte und verfallen, wie Sylvester oder Piachi, in ein neues Extrem.

Diejenigen aber, die den vollen Umfang der Realität tatsächlich erkennen und so den Schritt in Richtung einer erweiterten Erkenntnisfähigkeit gehen, ertragen die Wahrheit in den meisten Fällen kaum. Sie bleiben gebrochen zurück oder setzen ihrem Leben gar ein Ende. Dies ließe sich dahingehend deuten, dass Kleist eine allumfassende Erkennt-nis im Diesseits als zweifelhaft und in Gänze erst als nach dem Tode möglich darstellen will. Die Einzigen, die im Anschluss an eine Erkenntnisohnmacht ein Einsehen haben und sich anschließend augenscheinlich mit ihrem Schicksal arrangieren, sind Homburg, Littegarde, Käthchen und die Marquise. Es bleibt jedoch fraglich, wie lange dieser Zustand der Klarheit andauert bzw. sich mit dem Weiterleben in gewohnter Manier vereinbaren lässt. So ist eine die Erkenntnis fördernde Wirkung der kleistschen Ohn-machten doch sehr begrenzt und steht kaum im Verhältnis zum starken Einfluss der Verdrängungsohnmachten.

Die Bewusstlosigkeiten bestimmen den Erkenntnisprozess der Figuren entscheidend mit. Dadurch kommt ihnen auch auf der Handlungsebene erhebliche Bedeutung zu.

Indem sie Informationen wieder auslöschen oder seltener auch vertiefen, wird durch sie der endgültige Moment der Erkenntnis, der bei Kleist schließlich doch erfolgt, entweder hinausgezögert oder herbeigeführt. Nicht selten beeinflusst dieser Vorgang den Aus-gang der Situation. So hätte zum Beispiel eine frühere Einsicht Sylvesters unter Um-ständen die versehentliche Tötung der Kinder am Ende des Dramas verhindert.

Kleist nutzt die Ohnmacht demnach nach nicht nur als Zeichen, sondern setzt sie auch ein, um die Stücke dramaturgisch zu formen. Dazu passt die Beobachtung, wonach Verdrängungsohnmachten zumeist zu einem frühen Zeitpunkt innerhalb der Charakter-entwicklung angesiedelt sind, während die Erkenntnisohnmachten zu deren Ende hin erfolgen.

126 Einen wichtigen Aspekt bei der Analyse der Ursachen für Bewusstlosigkeit stellt die Verknüpfung mit dem übergeordneten Gefühl der Machtlosigkeit dar. Durch die Erkenntnis der Einschränkung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit erleben die Prota-gonisten auch eine Machtreduzierung, der sich im Verlust der Körperkontrolle zeigt.

Besonders deutlich wird das im Fall derjenigen Akteure, die ihr Weltbild nicht aufgrund einer ihnen vorher völlig unbekannten Information bedroht sehen, sondern durch ein bestimmtes Ereignis mit zuvor Verdrängtem konfrontiert werden. So auch, wenn bereits zuvor Verdrängungsohnmachten erlitten worden sind oder aber ein Bedürfnis oder Wissen von Anfang an unterdrückt worden ist, weil es mit dem Welt- oder Selbstbild des Betroffenen in Konflikt steht. Der sächsische Kurfürst beispielweise reagiert auf das wiederholte Aufzeigen der Begrenztheit seiner Macht immer wieder mit Bewusst-losigkeit. Hier zeigt die Ohnmacht den Moment an, in welchem die prekäre Information nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden kann. Seltener ist dabei auch das Empfin-den von Scham von Bedeutung. Die Betroffenen, wie Thusnelda, Alkmene oder die Marquise, sind angesichts der unerbittlichen Erkenntnis, sich schuldig gemacht zu haben, ihren Schamgefühlen machtlos ausgeliefert, was sich in der Unwillkürlichkeit ihrer darauf folgenden Ohnmacht widerspiegelt.

Kleists sprachliche Umsetzung der Ohnmachtsthematik spiegelt deutlich die inhaltliche Fokussierung auf die bereits konstatierten Bedeutungsaspekte des Phänomens wider.

Die Begriffe „Ohnmacht“ und „Bewusstlosigkeit“, welche der Autor verwendet, um den spontanen Bewusstseinsverlust seiner Figuren zu umschreiben, verweisen einerseits auf die mehrfache Machtlosigkeit der Betroffenen, andererseits auf ihr Streben, eben bewusst Gewordenes aufgrund seiner zerstörerischen Kraft bezüglich der bisherigen Weltsicht wieder im Unterbewusstsein zu verschließen. Die mit der Ohnmacht häufig verknüpften Symbole – Blitz, Tod und gestürzte Eiche – ergänzen das Gesamtbild zusätzlich im Detail. Gemeinsam deuten sie unter anderem auf die Unwillkürlichkeit des Falles im Sinne des Einflusses einer höheren Gewalt hin und assoziieren die Bewusstlosigkeit so mit dem wichtigen Komplex der spontanen, innere Erregung anzeigenden Körperreaktionen, in welchen diese – trotz ihrer klaren Sonderstellung als Fluchtmittel aus der Realität – einzuordnen ist, wie die textuelle Nachbarschaft zu Sprachlosigkeit und Verstummen bestätigt. Die beiden letzteren verweisen darüber hinaus auf die Beschaffenheit der Ohnmacht als Ausdruck unmöglicher gewordener

127 sprachlicher Kommunikation. Die Eichenmetaphorik lenkt den Fokus zudem auf die unterschiedliche Qualität der einzelnen Besinnungslosigkeiten und die Möglichkeit, während einer solchen eine sonst nur mit dem Leben nach dem Tod assoziierten höhere Bewusstseinsform zu erreichen. Dabei wird der Bewusstseinszustand des Erwachenden zum Differenzierungsmittel zwischen einer solchen positiven Wirkung der Bewusst-losigkeit und einer verblendenden Funktion, sprich: zwischen Erkenntnis- und Ver-drängungsohnmacht, womit die Symbolik zu einem wichtigen Impulsgeber für die allgemeine Klassifizierung der Bewusstlosigkeiten innerhalb der vorliegenden Unter-suchung wird. Keinesfalls möglich ist darüber hinausgehend allerdings eine Inter-pretation einzelner Ohnmachten auf Basis der textuellen Beiordnung einer bestimmten Bezeichnung oder Metapher.

Der Versuch, bereits in Bewusstsein Gedrungenes (erneut) zu unterdrücken, ist bei Kleist vor allem bei weiblichen Protagonisten anzutreffen ist und diese sehr viel häufiger Verdrängungsohnmachten erleiden, obwohl die Zahl der männlichen und weiblichen Ohnmachtopfer beinahe gleich ist. Wie die Analyse ergab, halten Frauen zudem eher ein Gefühl als ein bestimmtes Wissen unter Verschluss. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Frauen durch die gesellschaftlichen Konventionen, die sie sehr stärker einschränken als jeden Mann, ein größeres Konfliktpotential aufweisen.

In besonderem Maße gilt dies für den Bereich der Sexualität, welcher eng mit dem Kontext der verbotenen Emotionen verknüpft ist.

Die Ohnmacht aufgrund von sexueller Erkenntnis wird im Werk Heinrich von Kleists ausschließlich Frauen zugeordnet. Dieser Umstand auf den weiblichen Tugendbegriff zurückzuführen, welcher sich über die sexuelle Unschuld bzw. Unkenntnis definiert.

Die Verknüpfung hat zur Folge, dass die Frauen ihr in jedem Fall vorhandenes ero-tisches Begehren unterdrücken müssen, um nicht gesellschaftlich geächtet zu werden, während dies von Männern nicht verlangt wird. Die Ohnmacht avanciert hier zum Schutz vor Kontrollverlust und gesellschaftlicher Verurteilung und hat deswegen fast ausschließlich Verdrängungsfunktion. Als Ursache steht jedoch immer noch die er-schreckende Erkenntnis der Wirklichkeit, hier der realen, nur schwer kontrollierbaren Gefühle, im Vordergrund.

Einen eindeutigen Sonderfall stellt im Gegensatz dazu die fingierte Bewusstlosigkeit dar, welche am Ende des Kleist-Kapitels gesondert behandelt wurde. Für die Analyse

128 dieses Phänomens steht die Zeichenwirkung der Ohnmacht im Vordergrund, was über den ursachenorientierten Ansatz, der die vorangegangenen Kapitel prägt, hinausgeht.

Vor allem im Falle weiblicher Betroffener, häufig jedoch auch bei Männern löst eine Bewusstlosigkeit in deren Umfeld Empathie aus und wird als Zeichen authentischer Gefühle und als positiv zu bewertender Empfindsamkeit verstanden. Im Falle sexueller Erkenntnis gilt sie als Zeichen von Tugend und Unschuld. Gerade diese positiven Interpretationen ermöglichen es, dass die Ohnmacht bei Kleist auch zum Mittel der Manipulation werden kann. Um Wohlwollen zu erzeugen, werden die entsprechenden Symptome der Hilflosigkeit fingiert, um über Arglose unbemerkt Macht auszuüben.

Auch hier spielt die mangelnde Erkenntnisfähigkeit der kleistschen Figuren die entscheidende Rolle. Sie ist es, die dazu führt, dass eine Täuschung überhaupt Erfolg haben kann. Damit schließt sich der Kreis. Wo die Ohnmacht zuvor eine Reaktion auf das Erkennen der Undurchschaubarkeit der Welt war, wird sie nun selbst zum uner-gründlichen Zeichen, zum möglichen Ursprung von Missverständnissen.

Die Doppelbedeutung der Ohnmacht, ihr plötzlicher Wandel vom Authentizitätssignal zum verdächtigen Ausdruck von Verstellung und die damit verbundene Förderung der Verkennung verweisen eindeutig auf die Entwicklung des Verständnisses von Körperlichkeit vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Im Verlauf dieses Prozesses folgen die Körperzeichen, und damit auch die Ohnmacht, den Sprachzeichen in ihrer Stigmatisierung als unzulängliche Kommunikationsform nach. Auch sonst greift der Autor Heinrich von Kleist die medizinischen und literarischen Debatten seiner Zeit auf

Die Doppelbedeutung der Ohnmacht, ihr plötzlicher Wandel vom Authentizitätssignal zum verdächtigen Ausdruck von Verstellung und die damit verbundene Förderung der Verkennung verweisen eindeutig auf die Entwicklung des Verständnisses von Körperlichkeit vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Im Verlauf dieses Prozesses folgen die Körperzeichen, und damit auch die Ohnmacht, den Sprachzeichen in ihrer Stigmatisierung als unzulängliche Kommunikationsform nach. Auch sonst greift der Autor Heinrich von Kleist die medizinischen und literarischen Debatten seiner Zeit auf