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Zentrale Aspekte bei der Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen

2. Theoretischer und empirischer Hintergrund

2.4 Zentrale Aspekte bei der Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen

Pitzer und Schmidt (1999) fordern, dass psychische Auffälligkeiten oder Krankheiten sorgfältig definiert sein müssen. In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob eine kategoriale oder eine dimensionale Einteilung von Störungen sinnvoll ist. Psychische Probleme können dimensional über Symptomlisten definiert werden. Es wird dabei ein cut-off-Wert festgesetzt, um die klinische Relevanz der Auffälligkeit zu beurteilen. Problematisch ist hier jedoch, dass es bei psychischen Störungen in der Regel keinen natürlichen Grenzwert gibt, von dem ab ein Zusammenaufteten von Symptomen eine zweifelsfreie Diagnose ermöglicht (Detzner & Schmidt, 1988). Kategorial lassen sich psychiatrische Diagnosen über die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV stellen. Dies sollte durch einen erfahrenen

Kliniker geschehen. Problematisch wird hier allerdings die niedrige Reliabilität der Diagnosen gesehen (Remschmidt, Schmidt & Goebel, 1983).

Die Informationen können durch verschiedene Quellen gewonnen werden: durch Untersuchungen des Kindes selbst, Befragungen von Eltern und Lehrern. Nicht selten kommt es zu unterschiedlichen Einschätzungen. Bei expansiven Störungen können in der Regel Eltern und Lehrer gut Auskunft geben, bei emotionalen Störungen können die Kinder und Jugendlichen sich selbst am besten einschätzen (Pitzer & Schmidt, 1999). Ein Abgleich der verschiedenen Informationen kann dem Kliniker helfen zu beurteilen, wie problematisch das Verhalten vom Kind selbst und seiner Umwelt eingestuft wird bzw. in welchen Lebensbereichen das problematische Verhalten überhaupt gezeigt wird.

Heubrock und Petermann (2001) beschreiben vier Ebenen, auf denen sich im diagnostischen Prozess Informationen gewinnen lassen können:

1. Eine ausführliche Exploration der Bezugspersonen und des Kindes sollte stets an den Anfang einer Untersuchung gestellt werden. Im Sinne einer Verhaltensanalyse sollte das Auftreten und auch Nichtauftreten der Symptomatik in bestimmten Situationen eruiert werden.

2. Direkte Verhaltensbeobachtungen des Kindes im natürlichen Umfeld (Schule, Elternhaus) helfen das Ausmaß der Störung im Lebensalltag einzuschätzen. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass dies in vielen Institutionen aus zeitlichen Gründen kaum zu realisieren sein wird.

3. Direktes Beobachten und Registrieren der motorischen Aktivität. Hierzu können z.B.

Aktimeter für die direkte Erfassung der motorischen Aktivitäten bzw. Ratingskalen für die Beobachtung eingesetzt werden.

4. Einsatz psychometrischer Verfahren (Paper-Pencil-Tests und computergestützte Verfahren).

Fragebögen sind ökonomisch und als Screeninginstrumente gut geeignet. Bei halbstandardisierten Interviews können systematisch psychiatrische Krankheitsbilder abgefragt werden, auffällige Bereiche dann genauer exploriert werden. Diese Interviews bieten sich als Ergänzung zu Fragebogenverfahren an. Die Verhaltensbeobachtung und der Einsatz von Testverfahren können das Vorliegen der Aufmerksamkeitsstörung diagnostisch untermauern. Diese Informationen sind von den Angaben der Bezugspersonen unabhängig und damit möglicherweise objektiver. Verhaltensbeobachtungen sind selten standardisiert, können aber z.B. durch Videoaufnahmen valider gestaltet werden. Hier entsteht allerdings ein sehr hoher Zeitaufwand. Durch psychometrische Untersuchungsverfahren können einzelne

Komponenten der Aufmerksamkeit gezielt untersucht werden, die im Alltag miteinander konfundiert sind. Den Papier-Bleistift-Tests liegen üblicherweise monotone, kognitiv meist anspruchslose Aufgaben zugrunde. Die computergestützte Testdiagnostik hat den Vorteil, dass verschiedene Aspekte von Aufmerksamkeitsleistungen differenzierter und genauer gemessen werden können. Außerdem können mehrere Sinnesmodalitäten einbezogen werden (vgl. Barkley, 1998; Döpfner, 2000; Eisert, 1998; Taylor et al., 1998). Döpfner (2000) weist darauf hin, dass eine Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung bei spannenden, das Kind interessierenden Tätigkeiten oder in einer für es neuen Situation oft nicht zu beobachten ist.

Dies ist für den Diagnostiker wichtig, der in einer Untersuchungssituation mit dem Kind allein das fraglich problematische Verhalten evtl. nicht beobachten kann, weil das Kind das aufmerksamkeitsgestörte Verhalten in der Untersuchungssituation gar nicht zeigt. Der Diagnostiker ist bei der Beurteilung des Verhaltens also besonders auf die Einschätzung Dritter (Eltern, Lehrer, Erzieher) angewiesen. Zu bedenken ist, dass bei vielen Kindern mit hyperkinetischen Störungen die problematischen Verhaltensweisen erst im Gruppenkontext auftreten. Für eine valide Diagnostik wären deshalb neben Konzentrationstests zusätzlich Unterrichtsbeobachtungen hilfreich.

Mit der Störung der Aufmerksamkeit gehen häufig schulische Leistungsprobleme einher. Da eine hyperkinetische Symptomatik jedoch auch bei schulischer Überforderung beobachtet wird, ist eine Intelligenzdiagnostik sowie Überprüfung fraglicher Teilleistungsschwächen unabdingbar. Krowatschek (2003) empfiehlt außerdem die Überprüfung der emotionalen Situation des Kindes mittels geeigneter Testverfahren.

Da die ADHS als Hauptmerkmal die Störung der Aufmerksamkeit enthält, sollte diese mit geeigneten Verfahren untersucht werden. Hierbei muss zwischen den einzelnen Aufmerksamkeitsbereichen Alertness, Vigilanz, selektive, geteilte Aufmerksamkeit und Daueraufmerksamkeit unterschieden werden (vgl. Hildebrandt & Fecht, 2003).

Einen guten Überblick über den Diagnostikprozess gibt die Abbildung 1 (nach Heubrock & Petermann, 2001). Dabei gehören auch die beiden letzten Phasen zum Diagnostikprozess, da sich bei der Motivationsanalyse und Vereinbarung der Therapieziele sowie der Durchführung der Intervention häufig noch weitere Aspekte ergeben, die diagnostisch verwertbar sind und anhand derer das gesamte Vorgehen angepasst werden muss. Mit der Bedingungsanalyse werden Faktoren identifiziert, die zur Aufrechterhaltung oder Verschärfung der Probleme beitragen. Dies könnte z.B. ein Erziehungsstil der Eltern sein, der dazu führt, dass bestimmte Verhaltensweisen der Kinder verstärkt werden. Häufig bekommen Kinder bei störendem Verhalten Aufmerksamkeit durch die Eltern, welche in

Form von Schimpfen zwar negativ getönt ist. Negative Aufmerksamkeit ist vielen Kindern jedoch lieber als gar keine Aufmerksamkeit.

Abbildung 1: Phasen des diagnostischen Prozesses (nach Heubrock und Petermann, 2001) Exploration der Eltern, des Kindes/Jugendlichen,

der Erzieher/Lehrer zu - psychischen Auffälligkeiten und Kompetenzen

- kognitiven Defiziten und Fähigkeiten - körperlichen Funktionen

Weitergehende Diagnostik

Verhaltens- und Psycho-diagnostik

Testpsycholo-gische Diagnostik

Diagnostik körperlicher Funktionen

Diagnostik psychosozi-aler Bedin-ungen

Dimensionale Beschreibung

- psychischer Störungen und Kompetenzen - kognitiver Defizite und Fähigkeiten

- psychosozialer Bedingungen

Diagnosestellung

Bedingungsanalyse

Motivationale Analyse Vereinbarung der Therapieziele

Interventionsplanung

Intervention und Verlaufskontrolle

Westhoff und Hagemeister (2001, S. 523) definieren Konzentrationstests wie folgt:

Die Leistung eines hirngesunden Probanden (X) erzielt durch (mündliche oder manuelle) Reaktion auf mehr oder weniger einfache (Bilder alltäglicher Gegenstände;

abstrakte Zeichen; Zahlen, Buchstaben, andere) Reize, die er klar und eindeutig wahrnehmen kann und auf die er eine einfach zu erinnernde Regel anzuwenden hat, indem er absichtsvoll Teilhandlungen so schnell wie möglich bei (sehr niedriger bis sehr hoher) Geübtheit in der Ausübung dieses Tests korrekt koordiniert in eine (sehr niedrige bis sehr hohe) Geschwindigkeit konzentrierten Handelns und einen (sehr niedrigen bis sehr hohen) Anteil an Konzentrationsfehlern.

Das Konzentrationsvermögen eines Kindes kann durch verschiedene Aspekte beeinflusst werden (vgl. Westhoff & Hagemeister, 2001): (1) Wahrnehmung, (2) Gedächtnis (z.B. Erinnerungseffekte), (3) Lernen, (4) Lösen von Problemen, (5) Motivation, (6) Strategiebildung und (7) Geübtheit (z.B. Retesteffekte).

Durch Wiederholungsmessungen kommt es zu Temposteigerungen (vgl. z.B.

Brickenkamp, 1994; Düker & Lienert, 1965), die bei der Bewertung der Testergebnisse der wiederholten Messung entsprechend berücksichtigt werden müssen. Westhoff und Hagemeister (2001) konnten einen Übungstransfer sogar in ein anderes Medium nachweisen (also Verbesserung in PC-Tests nachdem Papier-Bleistift-Aufgaben geübt wurden). Sie fanden diese Verbesserung aber nur für die Tempo- nicht für die Sorgfaltsleistung.

Die in Konzentrationstests gestellten Aufgaben sollten den Kindern vertraut sein, damit durch die Überprüfung nicht z.B. Vorerfahrenheit statt Konzentrationsfähigkeit gemessen wird. Es muss sichergestellt sein, dass die Kinder die Aufgabe des Tests gut verstanden haben.

Als Maße für die Konzentration sind solche der Bearbeitungsgeschwindigkeit (speed) zu betrachten und solche der Lösungsgüte, also der Fehlerrate (power). Soll ein Kind nur auf einen bestimmten Reiz antworten, so spricht man von „simple reaction“. Muss das Kind zwischen mehreren Alternativen auswählen, spricht man von „choice reaction“.

Neben den mittleren Reaktionsgeschwindigkeiten und der Fehlerrate interessiert außerdem die Streuung der Reaktionen, d.h. wie variabel oder gleichförmig ein Kind gearbeitet hat. Ein gleichförmiges Muster spricht für regelmäßige Antworten und für eine Fähigkeit die Konzentration dauerhaft zu steuern ohne dass diese Schwankungen unterliegt.

Der Verlauf in manchen Konzentrationstests vermag Auskunft darüber zu geben, wie ein

Kind auf kontinuierliche Anforderungen reagiert. Hier ist z.B. denkbar, dass ein Kind bei einem Durchstreichtest am Anfang sehr gute Tempo- und Sorgfaltsleistungen erzielt, dann aber nach einer gewissen Zeit Leistungseinbußen hat, was auf Störungen der Daueraufmerksamkeit hindeutet.

Notwendig wäre es auch, dass Konzentrationstests über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden, weil bei manchen Probanden die Schwierigkeiten erst nach einigen Minuten der Beanspruchung auftreten. Diese Anforderung wird von vielen Konzentrationstests nicht erfüllt.

2.5 Interventionsmaßnahmen