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2. Theoretischer und empirischer Hintergrund

2.3 Pathogenese

2.3.1 Neurobiologische Faktoren der Ätiologie

Mittels EEG-Ableitungen, pharmakologischen Studien und bildgebenden Verfahren (u.a. CT, MRT und PET) konnten sowohl strukturelle Auffälligkeiten (z.B. verringerte Volumina von Gehirnzentren) als auch funktionelle Auffälligkeiten, wie veränderte Gehirnaktivitätsmuster, verminderte cerebrale Metabolisierungsprozesse sowie Störungen in mehreren Neurotransmittersystemen, vor allem dem dopaminergen und noradrenergen System, festgestellt werden (Barkley, 1998; Biederman & Spencer, 2000; Döpfner, 2000;

Giedd, Blumenthal, Molloy & Castellanos, 2001; Hechtman, 1994; Krause, Dresel & Krause, 2000; Levy & Swanson, 2001; Rapoport et al., 2001; Rothenberger & Moll, 1998; Rubia et al.

1999; Steinhausen, 2000; Tannock, 1998; Trott & Badura, 2001).

Diese Veränderungen scheinen die Basis für eine dysfunktionale Informationsverarbeitung zu sein, da sie auf neuropsychologischer Ebene mit Störungen der kognitiven und affektiven Selbstregulation, der Flexibilität im Denken, der Reaktionshemmung sowie der Planung und Organisation von Verhaltensweisen korreliert sind (Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2000). Funktionen des präfrontalen Kortex stehen somit im Mittelpunkt derzeitiger Forschungen zu biologischen Korrelaten Hyperkinetischer Störungen. Erfahrungen mit dem Wirkmechanismus von Psychostimulanzien, die am Katecholaminhaushalt angreifen, legen hier ebenfalls einen Zusammenhang zu Grunde (Faraone & Biederman, 1998). Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren fanden einen

reduzierten Glukosemetabolismus (Zametkin et al., 1993), einen verringerten Blutfluss im Frontalhirn (Lou, Henrickson & Bruhn, 1984) mit einer tendenziellen Verbesserung nach Methylphenidatgabe sowie insgesamt eine Verlangsamung der frontalen Aktivation (Armstrong, Hayes & Martin, 2001; Baving, 1999; Chabot, di Michele, Prichep & John, 2001). Ferner fand sich eine geringere Adrenalinaktivität aufmerksamkeitsgestörter Kinder während der Bearbeitung kognitiver Tests (Anderson et al., 2000).

Die neurobiologischen Modelle gehen davon aus, dass Hyperkinetische Störungen aufgrund einer biologischen Vulnerabilität entstehen können, die sich auf neurologischer Ebene in biochemischen Funktionsstörungen und einer Abweichung in der Entwicklung zentralnervöser Strukturen zeigt. Die Entwicklung und Steuerung neuropsychologischer Funktionen ist dadurch beeinträchtigt, was letztlich in den Verhaltens-, emotionalen und kognitiven Auffälligkeiten der Kinder sichtbar wird.

Genetische Faktoren

Basierend auf den Ergebnissen von Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien werden genetische Faktoren als primäre Ursache des Störungsbildes postuliert (vgl. Barkley, 1998; Döpfner, 2000; Hechtman, 1994; Tannock, 1998). In Familienstudien konnten eine familiäre Häufung von HKS sowie eine generell höhere Rate psychischer Störungen (v.a.

Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch und affektive Störungen) bei Eltern und Verwandten von hyperkinetisch auffälligen Kindern nachgewiesen werden. Letzteres trifft insbesondere für Verwandte von Kindern mit HKS und zusätzlichen Störungen des Sozialverhaltens zu. Adoptionsstudien ergaben, dass Kindern mit HKS hinsichtlich hyperkinetischer Merkmale ihren biologischen Eltern mehr ähneln als ihren Adoptiveltern.

Die Bedeutung erblicher Faktoren wird auch durch Zwillingsstudien gestützt, die bei eineiigen Zwillingen wesentlich höhere Konkordanzraten als bei zweieiigen Zwillingen aufzeigten. In Zwillingsstudien konnten im Mittel 80 % der Varianz durch genetische Faktoren erklärt werden (Barkley, 1998; Biederman et al., 1992; Biederman et al., 1995;

Tannock, 1998). Bis heute sind jedoch weder die Art des familiären Erbganges noch die beteiligten Gene eindeutig identifiziert (ebd.). Neuere Überlegungen weisen auf eine möglicherweise heterogene genetische Grundlage für verschiedene Phänotypen der Störung hin (Faraone, 2000; Todd, 2000).

Schädigungen des ZNS; weitere Faktoren

Hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten können auch durch erworbene Hirnschädigungen ausgelöst oder verstärkt werden. Schädigungen des ZNS können durch prä-, peri- oder postnatale Risiken wie Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen, Verletzungen, Infektionen oder Exposition gegenüber toxischen Substanzen (Blei, Alkohol, Nikotin) bedingt sein (Barkley, 1998; Döpfner, 2000). Lange Zeit wurden frühkindliche Hirnschädigungen (Konzept der Minimalen Cerebralen Dysfunktion − MCD) als Hauptursache für Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen betrachtet. Allerdings lassen sich bei der Mehrzahl hyperkinetisch auffälliger Kinder keine Hinweise auf Hirnschädigungen in der Vorgeschichte feststellen. Andererseits sind derartige Risikofaktoren aber durchaus auch bei Kindern ohne hyperkinetische Symptome zu finden (Steinhausen, 2000). Hirnschädigungen stellen demzufolge keinen spezifischen Ätiologiefaktor für HKS dar, sondern sind eher als organischer Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen anzusehen. Von Barkley (1998) werden die Ergebnisse der Studien zu neurologischen Auffälligkeiten dahingehend zusammengefasst, dass Abweichungen in der Entwicklung der Entwicklung des frontalen-striatalen Cortex mit großer Wahrscheinlichkeit der Entstehung hyperkinetischen Verhaltens zugrunde liegt.

Feingold (1975) brachte einen weiteren ätiologischen Ansatz in die Diskussion. Er vermutete, dass Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten einen Einfluss auf die hyperkinetische Symptomatik haben. Diese seien als allergische Reaktion auf bestimmte synthetische Nahrungsmittel anzusehen. Kontrollierte Studien konnten bei einzelnen Kindern die Verringerung der Symptomatik durch diätetische Maßnahmen aufzeigen, bei der Mehrzahl der Kinder hatten diese jedoch keine Einfluss (vgl. Conners, 1980).

Geteilte Umweltfaktoren (psychosoziale Faktoren wie soziale Klasse, familiärer Bildungsstatus, Wohnverhältnisse und Eltern-Kind-Interaktionen) erklären nur bis zu 13 % der interindividuellen Unterschiede (Barkley, 1998). Ihr Einfluss auf die Genese der Störung ist also als gering zu betrachten.

2.3.2 Neuropsychologische Modelle der Ätiologie

Neuropsychologische Modelle versuchen dem Phänomen Rechnung zu tragen, dass Kinder mit Hyperkinetischen Störungen im Bereich exekutiver Funktionen häufig Probleme aufweisen. Dies betrifft nach Döpfner (2000) die Phänomene „Selbstregulation, Flexibilität

im Denken, Reaktionshemmung, Planen und Organisieren von Verhalten sowie dessen Sequenzierung“. Um eine funktionsfähige Informationsverarbeitung zu gewährleisten, ist es notwendig, Prozesse höherer Ordnung wie Selbstregulation und Hemmung zu regulieren (Barkley, 1997).

Für diese Studie sind die Modelle von Douglas (1980) und Barkley (1989, 1997) von Relevanz und sollen deshalb kurz erläutert werden. Douglas (1980) stellte ein Modell vor, welches die hyperkinetische Symptomatik als Störung der Selbstregulation begreift. Dem Kind gelingt es demnach nicht, sich auf der physiologischen Ebene, der Verhaltens- und der kognitiven Ebene an situative Anforderungen anzupassen. Dies führt zu der Schwierigkeit, den kognitiven Erregungszustand an die unterschiedlichen Anforderungen anzugleichen und damit zu einer verminderten Aufmerksamkeitsleistung, impulsiven Verhalten sowie dem permanenten Suchen nach stimulierenden Reizen. Daraus leitet sich dann auch die motorische Unruhe ab. Douglas weist darauf hin, dass diese Selbstregulationsstörung sich negativ auf das planvolle Vorgehen bei der Aufgabenbearbeitung, die metakognitive Entwicklung sowie die Bildung kognitiver Schemata höherer Ordnung auswirkt.

Von Barkley (1989) wurde dieses Modell kritisiert, da die postulierten basalen Defizite situationsabhängig variieren und die Entstehung aggressiven und hyperkinetischen Verhaltens von Douglas nicht hinreichend beschrieben wird. Barkley definiert in seinem Modell der Störung des regelgeleiteten Verhaltens drei basale Störungen in der Beziehung zu Umweltereignissen und dem Verhalten. Demnach führt eine verminderte Verhaltenskontrolle durch diskriminative Reize dazu, dass eine Reizkontrolle nur bei massiven Verstärkerbedingungen gelingt, während partielle oder verzögerte Verstärkungen zu Unaufmerksamkeit und Impulsivität führen. Die reduzierte Verhaltenskontrolle durch Regeln hat zur Folge, dass eine verminderte situationsangepasste Verhaltenssteuerung und Beeinträchtigungen in der Befolgung von Regeln entstehen. Das bedeutet, dass sich die Kinder mit Hyperkinetischen Störungen nur dann an Regeln halten, wenn sie besonders deutlich gemacht werden. Durch das häufige und schnelle Wechseln von Spielmaterialien oder die Unterbrechung von Aufgaben kommt es zu Beeinträchtigungen beim Problemlösen und zielgerichtetem Verhalten sowie zu Verhaltensweisen, die häufige und unmittelbare Verstärkungen maximieren. Dies hat wiederum Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche wie verminderte Schulleistungen, Zunahme an familiären Konflikten und eine geringe Akzeptanz von Gleichaltrigen, weil sich die betroffenen Kinder über gängige Normen hinwegsetzen bzw. es nicht schaffen, diese umzusetzen.

In seinem einflussreichen Modell von 1997 verbindet Barkley Theorien über neuropsychologische Funktionen des präfrontalen Kortex und den Erkenntnissen neurobiologischer Studien. Barkley definiert einen exekutiven Steuerungsprozess, den er mit dem Begriff der Verhaltenshemmung beschreibt. Er wird durch drei neuropsychologische Prozesse initialisiert, die Barkley folgendermaßen definiert: (a) Hemmung eines dominanten Handlungsimpulses, (b) Unterbrechung einer laufenden Handlung und (c) Hemmung interferierender Handlungstendenzen. Durch diese Prozesse soll eine Verzögerung zwischen einem Reiz (Ereignis), welches ein Kind wahrnimmt, und dessen Reaktion darauf entstehen.

Das Kind hat dadurch die Möglichkeit eine zur Situation passende Reaktion zu generieren.

Durch die exekutiven Funktionen ist das Kind in der Lage sein Verhalten zu planen und zu kontrollieren. Zu den exekutiven Funktionen zählt Barkley das Arbeitsgedächtnis, die Selbstregulation von Affekten, Motivation und Erregung, die Internalisierung und Automation von Sprache sowie die Analyse und Entwicklung von Handlungssequenzen. Sie haben direkten Einfluss auf motorische Prozesse, z.B. aufgabenirrelevante Reaktionen zu unterdrücken, aufgabenrelevante Reaktionen aufrecht zu erhalten und flexibel reagieren zu können.

Das Arbeitsgedächtnis ist bei den Kindern mit HKS nicht altersentsprechend entwickelt. Aufgrund dessen haben die Kinder Schwierigkeiten damit Handlungen zu planen und zu organisieren. Aus Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und für die Zukunft zu planen, gelingt nur bedingt. Sie können ihre Erlebnisse nur schwer mit aktuellen Ereignissen abgleichen und neigen demnach dazu immer wieder die gleichen Fehler zu begehen bzw.

anscheinend nicht aus ihnen zu lernen.

Die Aufmerksamkeitsstörung erklärt Barkley als sekundäre Störung. Während die interne Selbstkontrolle aufgrund der Beeinträchtigung in der Verhaltenshemmung und den exekutiven Funktionen bei Kindern mit einer Hyperkinetischen Störung beeinträchtigt ist, kann Aufmerksamkeit mit Hilfe externer Kontrolle (Verstärkungen, Bestrafungen) beeinflusst werden. Dies erklärt Befunde, die zeigen, dass sich diese Kinder von gesunden Kontrollkindern häufig nur dann in ihren Leistungen unterscheiden, wenn sofortige und wiederkehrende Verstärkungen ausbleiben und längere Verhaltensketten bei verzögerter Verstärkung erwartet werden (Slusarek, Velling, Bunk & Eggers, 2001).

Da Defizite in exekutiven Funktionen jedoch nicht ausschließlich bei dieser Störung auftreten (Pennington & Ozonoff, 1996), müssen zukünftige Studien zeigen, welches Defizitprofil exekutiver Funktionen speziell für diese Kinder kennzeichnend ist. Unklar ist bis heute u.a. auch die genaue Bedeutung der Beziehung zwischen der Verhaltenshemmung und

den exekutiven Funktionen zueinander und ob exekutive Funktionen beeinflussbar sind (Barkley, 1997).

2.3.3 Aufrechterhaltung; Biopsychosoziales Modell

Döpfner (2000) integriert den Ansatz der Störung des regelgeleiteten Verhaltens in das biopsychosoziale Modell zur Entstehung von Aufmerksamkeitsstörungen. Er geht von einer genetischen Disposition aus, welche eine Störung im Dopaminstoffwechsel bewirkt. Der Einfluss allergischer Reaktionen oder erworbener Hirnschädigungen ist in Einzelfällen nachweisbar, generalisierbare Befunde stehen jedoch aus. Die Störungen der Selbstregulation auf der neurophysiologischen Ebene führen zu den oben beschriebenen Störungen der Exekutivfunktionen, welche sich auf der Symptomebene als die Kernsymptome Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität darstellen. Diese bedingen eine Zunahme negativer Interaktionen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen bzw. Peers und führen bei einem Teil der Kinder zu komorbiden Symptomen. Nach dem heutigen Wissenstand spielen psychosoziale Faktoren nur eine sekundäre Rolle bei der Entstehung der Aufmerksamkeitsstörung. Sie tragen jedoch entscheidend zur Aufrechterhaltung, Verlauf und Schweregradentwicklung der Störung bei und müssen mit berücksichtigt werden. Im Zusammenhang mit HKS wurden gehäuft auftretende negative Interaktionen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen (Eltern, insbesondere der Mutter; Lehrern, Gleichaltrigen), verschiedene familiäre und schulische Belastungsfaktoren (z.B. familiäre Instabilität, elterliche Psychopathie, niedrige soziale Schicht, große Klassen) sowie unangemessenes Erziehungsverhalten (Inkonsistenz, mangelndes Interesse am Kind, übermäßige Bestrafung) als ungünstige psychosoziale Bedingungen ausgemacht (Döpfner, 2000; Steinhausen, 2000).