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2. Theoretischer und empirischer Hintergrund

2.2 Symptomatik, Epidemiologie und Verlauf hyperkinetischer Störungen

2.2.2 Diagnose und Diagnostik

In Deutschland ist für die ambulante und stationäre Versorgung die Kodierung der Diagnosen nach ICD-10 vorgeschrieben, so dass sie auch in dieser Studie verwendet wurde.

In der Darstellung wird auf die Forschungskriterien Bezug genommen (Dilling, Mombour &

Schmidt, 1994). Die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig, 1996) setzen voraus, dass die Beeinträchtigung durch die Symptome in mindestens zwei Lebensbereichen (z.B. in der Schule und zu Hause) auftreten muss (vgl. Grosse & Skrodzki, 2001, Dilling et al., 1991).

In den letzten Jahren wurde eine Unterteilung der Hyperkinetischen Störungen in verschiedene Subgruppen angestrebt. Es stellte sich die Frage, ob es sich um zwei verschiedene Ausprägungsformen einer Störung handelt oder ob es zwei voneinander unabhängige Störungen sind (De Quirós, Kinsbourne, Palmer & Tocci Rufo, 1994). In mehreren Studien konnten Hinweise auf die empirische Validität von Subtypen gefunden werden (z.B. Barkley, DuPaul & McMurray, 1990; Cantwell & Baker, 1992; Graetz, Sawyer, Hazell, Arney & Baghurst, 2001). Dieser Frage wird im DSM-IV und ICD-10 Rechnung getragen, sodass verschiedene Subtypen diagnostiziert werden können. Im DSM–IV werden je nach Ausprägung der Kernsymptomatik Subtypen gebildet. Bei dem vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ steht die Störung der Daueraufmerksamkeit, der Impulskontrolle,

der Ablenkung und der verminderten Anstrengungsbereitschaft im Vordergrund. Bei dem vorwiegend unaufmerksamem Typ, häufig auch als Träumertyp bezeichnet, werden Tagträumereien, eher lethargisches Verhalten und Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitsfokussierung beschrieben (vgl. Barkley, 1997).

Im ICD-10 werden oben genannte Verhaltensauffälligkeiten unter der Kategorie der Hyperkinetischen Störungen (F90) zusammengefasst. Die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) wird gestellt, wenn sowohl ausgeprägte Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität und Impulsivität erfüllt sind. Daneben wird festgelegt, dass die Symptome mindestens sechs Monate lang in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorliegen, die Störung bereits vor dem Alter von sieben Jahren aufgetreten ist, sich eine Beeinträchtigung durch diese Symptome in zwei oder mehr Lebensbereichen zeigt und deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen bestehen. Als Ausschlussdiagnosen werden das Vorliegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer depressiven bzw. manischen Episode oder eine Angststörung angegeben. In Tabelle 1 sind die Diagnosekriterien aufgelistet.

Tabelle 1

Diagnosekriterien der Klassifikationssysteme

Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyper-

Aktivitätsstörung nach DSM-IV Hyperkinetischen Störung Nach ICD-10 (Forschungsdiagnose) Im Vergleich zum Entwicklungsstand des Kindes abnormes Ausmaß an:

1. Unaufmerksamkeit

¾ Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler

¾ hat Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrechtzuerhalten

¾ scheint häufig nicht zuzuhören, wenn er/ sie angesprochen wird

¾ führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Aufgaben nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder Verständnisschwierigkeiten)

¾ hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren

¾ vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengung erfordern

¾ verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B. Stifte, Bücher)

¾ lässt sich durch äußere Reize leicht ablenken

¾ ist bei Alltagsaktivitäten oft vergesslich 2. Hyperaktivität

¾ zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum

¾ steht häufig auf in Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird

¾ läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist

¾ hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich ruhig zu beschäftigen

¾ ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals als wäre er „getrieben“ (DSM-IV)

bzw. zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die nicht durchgreifend beeinflussbar sind (ICD-10)

3. Impulsivität

¾ platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist

¾ kann nur schwer warten, bis er/ sie an der Reihe ist (z.B. beim Spielen)

¾ unterbricht und stört andere häufig

¾ redet häufig übermäßig viel (im DSM-IV unter Hyperaktivität) A. Mindestens sechs der Symptome von

Unaufmerksamkeit (1) oder mindestens sechs der Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität (2 und 3) müssen während der letzten sechs Monate beständig vorhanden gewesen sein.

A. Mindestens sechs der Symptome von Unaufmerksamkeit (1) und mindestens drei der Symptome von Überaktivität und mindestens eines der Symptome von Impulsivität müssen mindestens sechs Monate lang erfüllt sein.

B. Einige Symptome treten bereits vor dem Alter

von sieben Jahren auf. B. Störungsbeginn liegt vor dem siebten Lebensjahr.

C. Beeinträchtigungen durch die Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. Schule, zu Hause)

C. Die Kriterien sollten in mehr als einer Situation erfüllt sein (zu Hause, Schule, Klinik).

D. Die Symptome müssen sich in klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit manifestieren.

D. Die Symptome verursachen deutliches Leiden oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit.

E. Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung (z.B. Affektive Störung, Angststörung) besser erklärt werden.

E. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, manische Episode, depressive Episode oder Angststörung.

Sind neben der Diagnose einer Hyperkinetischen Störung auch die Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt, wird die Kombinationsdiagnose der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) vergeben. Daneben sieht das ICD-10 zwei weitere Kategorien vor: die sonstige Hyperkinetische Störung (F90.8) und nicht näher bezeichnete Hyperkinetische Störungen (F90.9), die gewählt werden, wenn einige Kriterien nicht voll erfüllt sind. Weiterhin hat der Diagnostiker die Möglichkeit auch das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität unter der Kategorie sonstige näher bezeichnete verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F98.8) zu kodieren. Beträgt der Intelligenzquotient eines Kindes weniger als 50 und treten hyperkinetische Symptome und Stereotypen auf, wird die Diagnose einer hyperkinetischen Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypen (F84.4) gestellt (Mickley &

Pisarsky, 2003).

Differentialdiagnostisch ist neben den oben genannten Ausschlussdiagnosen eine Beurteilung weiterer Faktoren nötig. Die Auffälligkeiten sollen nicht Ausdruck altersangemessener Verhaltensweisen bei aktiven Kindern, einer oppositionellen Verhaltensstörung oder Angststörung und nicht die Folge schulischer Unter- oder Überforderung, einer Intelligenzminderung oder chaotischer psychosozialer Bedingungen sein (Döpfner, 2000). Auszuschließen sind auch durch Medikamente oder neurologische Störungen (z.B. Schädel-Hirn-Trauma) bedingte hyperkinetische Symptome, tiefgreifende Entwicklungsstörungen, emotionale Störungen wie Angststörungen oder agitierte Depressionen und affektive Störungen (Knölker, Mattejat & Schulte-Markwort, 2000). Die nur aufmerksamkeitsgestörten Kindern zeigten eher internalisierende Störungen (Angst-, Zwangs- oder Affektstörungen) und unterscheiden sich damit von den impulsiv-hyperaktiven, die zu externalisierenden Störungen neigen ((Hyperkinetische) Störung des Sozialverhaltens).

Es sind eher die Impulskontrolldefizite, welche mit aggressiv-deviantem Verhalten einhergehen als die Hyperaktivität (Cantwell & Baker, 1992; Halperin et al., 1990; Newcorn, 2001). Aufmerksamkeitsgestörte Kinder ohne Hyperaktivität fallen eher durch sozialen Rückzug und insgesamt langsamere kognitive Verarbeitung auf (Hynd, Lorys, Semrud-Clikeman, Nieves, Huettner & Lahey, 1991), wohingegen vorwiegend hyperaktive Kinder im sozialen Umgang öfter abgelehnt werden und zu mehr Flüchtigkeitsfehlern neigen (Cantwell

& Baker, 1992).