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2.2 Wissenschaftliches Schreiben und Autorenidentität

2.2.3 Wissenschaftskultur und Diskursgemeinschaft

Dass es so etwas wie Wissenschaftskultur oder kulturell unterschiedliche wissenschaft-liche Stile gibt, hat sich spätestens nach Johan Galtungs einflussreichem Essay über

„sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft“ (Galtung 1985) durchgesetzt. Aber was genau unter Wissenschaftskultur zu verstehen ist, inwiefern Faktoren wieNation,Sprache,Disziplinusw. Einfluss haben bzw. als eigenständige Kul-turen angesehen werden müssen, ganz davon abgesehen, was unter dem BegriffKultur an sich zu verstehen ist, sind Fragen, die sich immer wieder stellen und für jede For-schungsarbeit individuell neu beantwortet werden müssen. Daher soll in diesem Ab-schnitt ein kurzer Überblick folgen, wie Wissenschaftskultur in dieser Arbeit gefasst wird, d. h. welche Konzepte und Einflussfaktoren im Vordergrund stehen und wie sie auf die Zusammenstellung des Datenkorpus gewirkt haben.

In den vorhergehenden Teilen dieses Kapitels ist deutlich geworden, dass Men-schen ihre Identitäten in sozialen Interaktionen konstruieren, indem sie u. a. Rollen übernehmen und Handlungen ausführen10, und dass dies immer innerhalb von sozia-len und kulturelsozia-len Kontexten stattfindet. Innerhalb dieser Kontexte existieren spezi-fische soziokulturelle Konventionen, die ihrerseits wiederum Einfluss darauf nehmen, welche Identitäts- bzw. Rollenslots für die Akteure zu Verfügung stehen und wie die Übernahme dieser Slots (z. B. sprachlich) kodiert, d. h. symbolisch kommuniziert wer-den kann. Sie bilwer-den damit die kulturellen Interpretationsrahmen, innerhalb derer bei-spielsweise Autorenidentitäten konstruiert werden können.

10In Face-to-face-Interaktionen spielen natürlich noch zusätzliche Faktoren in die Identitätskonstruk-tion hinein, wie z. B. Körperhaltung und -sprache, Stimme, Kleidung etc.

Im Rahmen dieser Arbeit wird Kultur entsprechend als Code- oder Symbolsys-tem aufgefasst, das seinen Mitgliedern Bedeutungen und Interpretationsrahmen zur Verfügung stellt, an denen sie ihre Wahrnehmungen, aber auch ihre eigenen Hand-lungen ausrichten (zur Entwicklung eines symbolischen Kulturbegriffs s. z. B. Junge (2009); Moebius (2009); Reckwitz (2008), in Bezug auf Identität und Sprache s. Kresic (2006)).11 Hier relevante Symbole in diesem Sinne wären also die mehr oder weniger starke Personalisierung wissenschaftlicher Texte, der Gebrauch oder Nicht-Gebrauch von Personalpronomen und die Kombination dieser Pronomen mit bestimmten ver-sprachlichten (textexternen) Handlungen. Diese Symbole können dann von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft auf Basis des gemeinsamen kulturellen Verständnisses z. B. als „wissenschaftlich“ oder „nicht wissenschaftlich“, „studentisch“ etc. interpre-tiert werden (vgl. dazu die entsprechenden Leserurteile in den Untersuchungen von Hyland (2001b) und Steinhoff (2007)).

Hier werden insbesondere die versprachlichten Handlungen, die sich der Autor über das Pronomen der ersten Person zuschreibt, als relevante Symbole betrachtet.

Aus der Menge aller möglichen Handlungen, die im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit anfallen und die der Autor sich selber zuschreiben könnte, wird in den un-tersuchten Texten nur eine sehr kleine Auswahl tatsächlich mit dem ICH bzw. dem WIR als Subjekt und Agens realisiert. Dies sind, so meine Schlussfolgerung, die wis-senschaftskulturell angemessenen Handlungen, über die die Autoren ihre Identität als Wissenschaftler kommunizieren.

Kultur wird hier sowohl als eine individuelle Eigenschaft der Mitglieder einer be-stimmten Gemeinschaft als auch als diese Gemeinschaft selber gefasst12. Die kulturelle Gruppe stellt die Symbole, Symbolsysteme und Codes bereit und um erfolgreich ver-standen zu werden und interagieren zu können, müssen die individuellen Mitglieder dieser Kultur diese Codes verwenden. Dies setzt voraus, dass die Individuen diese Codes gelernt bzw., z. B. beim wissenschaftlichen Schreiben in einer Fremdsprache, umgelernt haben. Dabei kommen in jedem Menschen viele verschiedene Codesyste-me aus verschiedenen Gruppen zusamCodesyste-men und jeder Mensch hat in jeder Situation zumindest theoretisch die Möglichkeit auszuwählen, welches Codesystem er für seine

11Durch diese Definition von Kultur als Symbolsystem wird auch die häufig getroffene Unterschei-dung zwischen Kultur und Domäne bzw. Kulturen und Subkulturen unnötig, da Domänen und Sub-kulturen als Symbolsysteme für sich kulturellen Charakter haben. Wichtiger ist es m. E., die jeweiligen Faktoren und Parameter zu spezifizieren, die in der Betrachtung von Bedeutung sind, und diese mit-einander in Relation zu setzen. Dadurch wird auch berücksichtigt, dass man insbesondere in einer em-pirischen Arbeit nie alle kulturellen Faktoren, die Einfluss auf den Untersuchungsgegenstand haben, berücksichtigen kann. Dazu ist die Interpretation von kulturellen Codes zu sehr auch von den indivi-duellen und situativen Kontexten abhängig. Durch den bewussten Fokus auf einzelne Parameter und die Reflexion der Tatsache, dass andere kulturelle Parameter gezielt ausgeklammert werden, wird man der Komplexität eines solchermaßen umfassenden Begriffs von Kultur gerecht, ohne der Gefahr eines unangemessenen Essentialismus zu unterliegen.

12Zum BegriffKollektive Identitätund zum Verhältnis kollektiver und individueller Identitäten s. Em-cke (2000).

Handlungen zugrunde legt (vgl. z. B. Hyland 2002a: 1094). Dennoch kann man trotz aller Individualität, die auch in den für diese Arbeit untersuchten Texten beobachtbar ist, davon ausgehen, dass die Autoren bestimmte Codesysteme bevorzugt eingesetzt haben und dass sie entsprechend alle auch eine gemeinsame Schnittmenge von min-destens einer Gruppe haben, der sie angehören. Diese gemeinsame Schnittmenge wird hier als die relevante Ausprägung von Wissenschaftskultur aufgefasst. Dabei besteht eine ständige Wechselwirkung zwischen den Individuen einer Gruppe und dem ge-meinschaftlichen Symbolrepertoire, durch das diese Gruppe kommuniziert. Kultur ist also, genau wie Identität „something that we actively and publicly accomplish through discourse, and so oriented to community as much as individuality“ (Hyland 2009: 25).

Identity most often refers to human beings, often individuals, but also groups of individuals. When used in combination, culture and identity indicate some kind of interplay between their meanings. This implies that the iden-tity of a person or group will be influenced or even shaped by culture while at the same time the person/group will influence and shape that culture.

The development of culture is hence a two-way process with individuals interacting in forming and being formed. (Fløttum u. a. 2006: S. 16)

Der hier verwendete Kulturbegriff ist sehr weit gefasst und eignet sich entsprechend nicht gut für eine empirisch umsetzbare Operationalisierung. Aus diesem Grund müs-sen konkrete, operationalisierbare Faktoren bestimmt werden, die empirisch überprüf-und untersuchbar sind. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dassKultur, genau wie Identität und Sprache, als Zoombegriff im Sinne Fritz Hermanns’ betrachtet werden kann: „Damit ist gemeint, daß man den Skopus des Begriffs beliebig weit bzw. eng einstellen kann“ (Hermanns 2012: 269). Daher soll hier anhand der für diese Arbeit als relevant erachteten Parameter die „Zoomeinstellung“ diskutiert werden. Diese Pa-rameter beeinflussen das wissenschaftliche Schreiben maßgeblich und haben aus die-sem Grund auch die Auswahl der Korpustexte determiniert. Die Faktoren, die hier neben der allgemeinen Domäne Wissenschaft besonders berücksichtigt werden, sind der national-gesellschaftliche Kontext, die Sprache und die Fachdisziplin. Diese wir-ken konstitutiv auf das wissenschaftliche Schreiben, insbesondere auf die Ausprägung unterschiedlicher wissenschaftlicher Textsorten bzw. Genres (vgl. z. B. Swales 1990).

Diese Faktoren bzw. Kontexte wurden auch in anderen Untersuchungen als die für den Gebrauch von Verfasserreferenzen und die Konstruktion von Autorenidentitäten relevanten zugrunde gelegt (vgl. z. B. Fløttum u. a. 2006; Koutsantoni 2007; Sanderson 2008a).

Four settings which may have an impact on the identity of the academic author are mentioned: the national/native language culture the author be-longs to, leading to a national/language identity, the world of academia,

providing the author with a general academic identity, the author’s chosen discipline and a disciplinary identity, and finally the genre and the discour-se community discour-settings. (Fløttum u. a. 2006: 2)

Dernational-gesellschaftliche Kontextwirkt dabei beispielsweise auf verschiedenen Ebe-nen auf das wissenschaftliche Schreiben ein. Zunächst bestimmt er das Bildungssys-tem und die schulischen Curricula, z. B. auch in Bezug auf die Schreibdidaktik13. Wei-terhin wird hier der gesellschaftliche Stellenwert von Wissenschaft im Allgemeinen bestimmt. Auch das Ansehen von kollektiven gegenüber individuellen Forschungs-leistungen wird zumindest teilweise im Rahmen von nationaler Forschungsförderung gelenkt. DieSprachedeterminiert beispielsweise die Mittel zur möglichen (De-)Perso-nalisierung (z. B. Passiv und Passiversatzformen, die Bedeutung unpersönlicher Pro-nomen etc.), aber auch, was auf sozio-pragmatischer Ebene in das Register der Wissen-schaftssprache fällt. Und nicht zuletzt stellt sie mit den verschiedenen Textsorten oder Genres die möglichen Diskursformen (i. S. von Swales 1990: 6).

Bezüglich der Fachdisziplinlag der Fokus in vorhergehenden Untersuchungen vor allem auf den großen Fachbereichen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, die anhand einzelner Teilfächer untersucht wurden (z. B. Sanderson 2008a; Steinhoff 2007;

Fløttum u. a. 2006). Hier haben sich teilweise auffallende Unterschiede ergeben, insbe-sondere beim Vergleich der sog.hardundsoft disciplines(z. B. Hyland 2000, 2002a). Die o. g. Untersuchungen haben aber auch gezeigt, dass es innerhalb dieser großen fach-lichen Zusammenhänge gravierende Unterschiede zwischen den Teilfächern gibt, die sich aus unterschiedlichen Forschungsmethodiken oder verschiedenen übergeordne-ten Epistemologien ergeben können. Auch der Forschungsansatz (empirisch oder her-meneutisch) kann schon innerhalb einer Teildisziplin wie z. B. der Soziologie deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung eines wissenschaftlichen Artikels hervorbringen.

Hier wird noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, einen geeigneten „Zoomfaktor“ für eine Untersuchung dieser Art zu finden.

In dieser Arbeit liegt der Zoom auf einem einzelnen Fach der Sozialwissenschaften, der Soziologie, da dies insbesondere für die Datenerhebung eine vorteilhafte Perspek-tive war. Der Blick auf die höhere Ebene der Sozialwissenschaften wäre zu unscharf, da die zu vermutenden Unterschiede in der Schreibweise zwischen den sozialwissen-schaftlichen Fächern ein deutlich größeres Korpus erfordert hätten, um aussagekräfti-ge Eraussagekräfti-gebnisse zu erzielen. Ein enaussagekräfti-gerer Fokus auf eine bestimmte Untergruppe sozio-logischer Autoren, z. B. Soziologen, die an dem gleichen Institut studiert haben, oder auch eine thematisch-methodologische Einschränkung der Texte, wäre ebenfalls deut-lich aufwändiger und damit praktisch nicht umsetzbar gewesen. Entsprechend sind die Korpustexte in dieser Untersuchung an den Faktoren national-gesellschaftliche

13Zu Unterschieden in der deutschen und US-amerikanischen Schreibdidaktik in Schule und Hoch-schule s. z. B. Foster (2006)

Kultur (deutsch/US-amerikanisch), Sprache (Deutsch/US-Englisch) und (Teil)Diszi-plin (Soziologie) ausgerichtet.

Das oben beschriebene weite Kulturkonzept wird in Hinblick auf eine diskursiv und von (schriftlichen) Texten geprägte Gemeinschaft wie der wissenschaftlichen mit dem Begriff der Diskursgemeinschaft deutlich greifbarer. Die Diskursgemeinschaft bzw.

discourse communitystellt die soziokulturellen Rahmenbedingungen, denen die Entste-hung von Texten unterliegt, in den Mittelpunkt (Swales 1990; Pogner 1997, 1999, 2003).

Pogner (1999: 146) versteht dabei unter Diskursgemeinschaften „soziale Gruppen, die sich vor allem durch ihre spezifische Diskursform voneinander unterscheiden lassen“

und die sich „durch unterschiedliche, spezifische Muster des Sprachgebrauchs (und des Denkens) bei der sozialen Konstruktion und Aushandlung von Bedeutung aus-[zeichnen]“. Damit stellt die Diskursgemeinschaft das sprachliche bzw. diskursive Sym-bolsystem bereit, anhand dessen ihre Mitglieder kommunizieren. Dieses Symbolsys-tem beschränkt sich allerdings nicht nur auf die sprachliche und formale Ausprägung der Texte bzw. Textsorten, die die Mitglieder der Diskursgemeinschaft benutzen, son-dern umfasst bzw. beeinflusst auch, welche Inhalte in diesen Texten kommuniziert werden.

Mitglieder von Diskursgemeinschaften haben demnach nicht nur gemein-same Annahmen darüber, welche Objekte/Themen als untersuchens- und diskussionswert gelten, mit welchen Methoden man/frau diese Objekte/

Themen untersucht und was Beweiskraft hat. Sie haben auch gemeinsame Vorstellungen davon, welche formalen Konventionen es bei der Präsenta-tion der Untersuchungsergebnisse einzuhalten gilt. Deshalb beziehen sich ihre Konventionen sowohl auf die Inhalte als auch auf die Form der Text-produktion und -produkte. (Pogner 1999: 146)

Umdiscourse communitiesvon anderen Gemeinschaften abgrenzen zu können bzw. um festzustellen, ob bestimmte Personen in bestimmten interaktionalen Relationen Mit-glieder einer Diskursgemeinschaft sind oder nicht, hat John Swales (vgl. 1990: 24-27) sechs Definitionsmerkmale herausgearbeitet, anhand derer er Diskursgemeinschaften identifiziert:

1. Einigkeit über gemeinsame Ziele, nicht nur über einen gemeinsamen Gegenstand 2. Mechanismen, die die Kommunikation der Mitglieder untereinander

gewährleis-ten

3. Teilnahme der Mitglieder an der Kommunikation, Gebrauch dieser Mechanis-men, um Informationen und Feedback zu erhalten und auszutauschen

4. Gebrauch eines oder mehrerer spezifischer Genres zur kommunikativen Verbrei-tung und zum Erreichen der gemeinsamen Ziele und damit zusammenhängen-de spezifische Erwartungen an die Diskursteilnehmer: Angemessenheit zusammenhängen-des

The-mas, Form, Funktion und Position von bestimmten diskursiven Elementen (im Text)

5. spezifische Terminologie, um effiziente Kommunikation zwischen den Mitglie-dern zu sichern

6. Zugang zur Community erfolgt nur über ein bestimmtes Level an inhaltlichem und diskursivem Wissen und die Mitglieder der Community entwickeln sich vom Novizen zum Experten. Das Bestehen der Community hängt weiterhin von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Experten und Novizen ab.

Besonders der letzte Punkt macht deutlich, dass die Zugehörigkeit zu einer Diskurs-gemeinschaft wie derScientific Communityim Allgemeinen oder eines bestimmten Fa-ches eines langwierigen Sozialisationsprozesses bedarf. Der angemessene Gebrauch der community-spezifischen Textsorten, die angemessene Darstellung von Inhalten und nicht zuletzt die diskursive Übernahme von Rollen und Identitäten innerhalb die-ser Textsorten muss von den Novizen erlernt werden, bevor sie als vollwertige Mit-glieder am Diskurs teilnehmen können.

Academic language socialization is the process by which individuals learn to enter into the discussions and again (sic!) access to the resources of aca-demic disciplines through learning specialized language use and participa-ting in academic activity setparticipa-tings. Learning to read and write in academic settings occurs through extended experiences in those settings, by meeting the expectations of those situations, and gaining from the opportunities for participation they offer. (Bazerman u. a. 2005: 8)

Dieser Sozialisationsprozess, der genaugenommen nie abgeschlossen ist, da Diskurs-gemeinschaften natürlich auch einem Wandel unterliegen (vgl. Sanderson 2008a: 69), muss in mehr oder weniger umfassenden Ausmaß jedes Mal neu durchlaufen werden, wenn eine Person in eine neue Gemeinschaft eintritt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich einer der oben beschriebenen kulturellen Parameter ändert, wenn ein Autor also in einer nationalkulturell, fachkulturell oder sprachlich anders geprägten Community Fuß fassen will.