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2.2 Wissenschaftliches Schreiben und Autorenidentität

2.2.1 Identität

Die Diskussion um den Identitätsbegriff hat eine lange Tradition (vgl. Abels 2006), in deren Verlauf sich unterschiedliche Perspektiven herausgestellt haben, die hier aus Platzgründen nicht alle angesprochen werden können3. Im Folgenden wird vor allem eine postmoderne, konstruktivistisch geprägte Sichtweise verfolgt, nach der Identität keine monolithische individuelle Eigenschaft eines Individuums ist, die es hat, und die dieses Individuum von anderen Individuen unterscheidet, sondern in der jeder Mensch viele verschiedene Identitäten hat, die abhängig vom jeweiligen Kontext in sozialen Interaktionen immer wieder neu konstruiert werden.

Durch die postmoderne Perspektive werden also auch in Bezug auf Identitäten die Grundkonzepte von Heterogenität, Vielfalt und Gleichzeitigkeit (Kresic 2006: 106ff.)

3Für einen Überblick verschiedener Identitätstheorien mit einem Fokus auf Sprache s. z. B. Kresic (2006)

betont und, in Anlehnung an die erkenntnistheoretische Perspektive des Konstrukti-vismus, die Identitätsarbeit und die soziale Interaktion als deren Ausgangspunkt in den Fokus gestellt (vgl. Kresic 2006: Kap. 6 und 7). Identität ist situationsspezifisch und wird immer erst durch Interaktion erzeugt. Dabei hebt Kresic auch den „zentralen Stellenwert von Sprache und sprachlicher Interaktion im Hinblick auf Identitätskon-struktion unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Postmoderne“ hervor (Kresic 2006: 130). Entsprechend wird auch in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass Iden-titäten in sozialen Interaktionen immer neu (sprachlich) konstruiert werden und ein einzelnes Individuum über viele verschiedene Identitäten verfügt, die es je nach Kon-text und Notwendigkeit herausstellen oder zurückhalten kann (vgl. dazu auch Kresic (2006)).

Diese verschiedenen Identitäten sind also abhängig von den unterschiedlichen so-zialen Kontexten, in denen ein Mensch sich befindet, und werden darüber hinaus auch nach individueller Vorliebe bzw. Persönlichkeit konstruiert. Dabei wird deutlich, dass der Begriff Identität nicht nur eine individuelle Komponente beinhaltet, sondern auch eine kollektive. Die möglichen Identitäten, die eine Person annehmen kann, sind ge-sellschaftlich bedingt, ebenso wie die verbalen und nonverbalen Mittel, mit denen sie diese Identitäten kommunizieren kann. Identität ist nach Ken Hyland (2009: 25) „so-mething that we actively and publicly accomplish through discourse, and so oriented to community as much as individuality“.

Identität ist daher auch eng verbunden mit der sozialen Rolle, die man in einer bestimmten Situation einnimmt, umfasst dabei aber noch mehr. Man kann also in ei-ner Interaktion die Rolle Autofahrer, Fußgänger, Kunde, Restaurantbesucher o. ä. haben.

Diese Rolle ist durch den sozialen Kontext vorgegeben und die Rollenschemata und Frames (vgl. z. B. Tannen 1985), die einen bestimmten Handlungsrahmen definieren, innerhalb dessen die Rolle realisiert werden muss, sind kulturell bedingt. Die eigene Identität spielt jetzt insofern in die Realisierung der Rolle hinein, als dass man im-mer auch individuell die Möglichkeit hat, die Rolle innerhalb des kulturellen Rahmens auszugestalten. Ich kann also ein aggressiver oder ein defensiver Autofahrer sein, ich kann als Gast im Restaurant höflich oder unhöflich sein, je nachdem, was ich individu-ell, bewusst oder unbewusst, auswähle. Dabei stelle ich mich immer auch selbst dar.

Diese Selbstdarstellung und Kommunikation von persönlicher Identität im Rahmen ei-nes kulturell bereitgestellten Rollenslots findet unumgänglich in jeder Interaktion statt und ist Grundbedingung für das gegenseitige Verstehen (Mummendey 2002: 213).

Entsprechend notwendig ist die Kommunikation von Identitäten, Rollen und Po-sitionen auch im wissenschaftlichen Schreiben, wobei hier die wissenschafts- und dis-ziplinspezifischen Identitäts- und Rollenslots zu besetzen sind, die sich von denen im Alltagsleben unterscheiden. Aber auch hier gibt es grundsätzlich vorgegebene Sche-mata und Frames, die die zu erwartenden Rollenslots sowie die (sprachlichen) Mittel, mit denen sie umgesetzt werden können, bestimmen, welche ihrerseits wiederum

in-dividuell realisiert werden müssen. Hier sind gerade zwischen dem deutschen und dem englischen bzw. US-amerikanischen wissenschaftlichen Schreiben Unterschiede erwartbar4.

Im Folgenden wird nun kurz der Zusammenhang zwischen Identität und Sprache erläutert und es werden die wesentlichen Grundannahmen zur Identitätskonstruktion im wissenschaftlichen Schreiben dargestellt. Im Anschluss daran wird der Begriff der sozialen Rolle thematisiert.

2.2.1.1 Identität und Sprache

In der Soziolinguistik, insbesondere in der Gesprächs- und Konversationsanalyse spielt das Thema Identität schon lange eine wichtige Rolle. Im klassischen Sinne geht man nach Androutsopoulos (2001: 63) davon aus, dass es eine direkte Beziehung gibt zwi-schen sozialer Identität und dem Gebrauch spezifischer sprachlicher Mittel bzw. sprach-licher Varianten.

Ein Sprachmerkmal ‚signalisiert‘ z. B. regionale Identität, wenn es signifi-kant häufiger im Sample der Sprecher aus der fraglichen Region auftritt [...], oder höhere Loyalität zu den Normen einer ‚vernacular culture‘ geht mit stärkerer Verwendung grammatischer Nonstandardmerkmale einher [...].

(Androutsopoulos 2001: 63)

In Hinblick auf die postmoderne Sichtweise eines diskursiven Verständnisses von Iden-tität muss diese Grundannahme dahingehend erweitert werden, dass jeder Sprecher aufgrund seiner Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen über ein größeres Reper-toire an sprachlichen Mustern verfügt, aus dem er in jeder Situation gezielt Muster auswählen und kombinieren kann. So kann er stets seinen individuellen „identity claim“ (Androutsopoulos 2001: 63) und seine mehrfachen sozialen Zugehörigkeiten zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus ist die soziale Bedeutung einzelner sprach-licher Muster und Merkmale nicht als so fest und vorgegeben anzusehen, wie es in der o. g. klassischen Perspektive den Anschein hat. Diese Bedeutung wird vielmehr in jeder Interaktion neu konstruiert und muss von den an der Interaktion Beteiligten je-weils neu interpretiert und konstituiert werden (Androutsopoulos 2001: 63). Hier wird deutlich, dass unterschiedliche soziokulturelle Symboliken und die damit zusammen-hängende Auswahl unterschiedlicher Kontextualisierungshinweise, basierend auf un-terschiedlichen soziokulturellen Zugehörigkeiten der Interaktionspartner, schnell zu

4Obwohl man sicherlich grundsätzlich davon ausgehen muss, dass es auch im wissenschaftlichen Schreiben Unterschiede zwischen den verschiedenen Varietäten des Englischen gibt, scheinen diese Un-terschiede doch nicht sehr gravierend (Fløttum u. a. 2006: 18). Die Ergebnisse von Sanderson (2008a) haben beispielsweise gezeigt, dass zumindest in Bezug auf die Selbstdarstellung der Autoren in wissen-schaftlichen Texten, insbesondere den Gebrauch der Pronomen der ersten Person, keine signifikanten Unterschiede zwischen Texten britischer und US-amerikanischer Autoren bestehen.

unterschiedlichen Konstruktionen bzw. Interpretationen der jeweiligen Identität füh-ren können (vgl. auch das Problem der doppelten Kontingenz, Kap. 2.2.2).

Wichtige Grundlagen zu dieser Sichtweise wurden von Robert Le Page und An-drée Tabouret-Keller mit ihrem Ansatz deracts of identity(Le Page und Tabouret-Keller 1985) gelegt. Sie sehen den wichtigsten Antrieb für die Gestaltung des individuel-len Sprachgebrauchs in dem Wunsch des Individuums, „sich mit einer oder mehre-ren Gruppen zu identifiziemehre-ren oder sich davon zu distanziemehre-ren“ (Androutsopoulos 2001: 64), indem es seine soziale Identität und seine sozialen Rollen sprachlich kon-struiert. Dabei müssen vier Bedingungen erfüllt sein bzw. das Individuum muss über vier Eigenschaften verfügen (Androutsopoulos 2001: 64):

• die Fähigkeit, die jeweilige soziale Gruppe zu identifizieren,

• den Zugang zu dieser Gruppe und die Fähigkeit, deren Sprachverhalten zu ana-lysieren,

• die Motivation, sich dieser Gruppe anzuschließen oder sich von ihr zu distanzie-ren,

• die Fähigkeit, das eigene sprachliche bzw. kommunikative Verhalten anzupas-sen.

Diese Interdependenz zwischen der Identifizierung des Individuums mit einer be-stimmten Gruppe und seinem sprachlichen Verhalten führt zum Phänomen der Fo-kussierung, die Androutsopoulos als „die Ausprägung von Sprachnormen im Rahmen einer sozialen Gruppe“ beschreibt (Androutsopoulos (2001: 64), nach Le Page und Tabouret-Keller (1985: 187)):

Fokussierung wird gefördert von der engen und täglichen Interaktion zwi-schen den Gruppenmitgliedern, dem Gefühl eines gemeinsamen Ziels und der Nachahmung von gruppenspezifisch relevanten Vorbildern [...]. Sprach-lich bedeutet Fokussierung die Ausprägung von ÄhnSprach-lichkeiten zwischen den Mitgliedern der Gruppe und demzufolge eine Abnahme von Variabili-tät im Sprachgebrauch dieser Gruppe. (Androutsopoulos 2001: 64)

Dies ist letztlich als die soziolinguistische Grundlage derjenigen Prozesse zu betrach-ten, die zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Register und Varietäten von der Ju-gendsprache bis hin zu den verschiedenen Fach- und Wissenschaftssprachen führen, und leitet auf die grundlegende Fragestellung dieser Arbeit hin, wie ein individuel-ler Autor die Pronomen der ersten Person in seinem Text benutzen kann, um seine Zugehörigkeit zu der Gruppe der wissenschaftlichen Autoren zu kommunizieren und insbesondere die eigene Identität innerhalb der vorgegebenen soziokulturellen Para-meter angemessen darzustellen.

2.2.1.2 Identität und Selbstdarstellung im wissenschaftlichen Schreiben

Jeder Wissenschaftler stellt sich zwangsläufig in seinem Text auf die eine oder andere Weise dar, so wie in jeder anderen Interaktion auch immer die jeweiligen Identitäten, Rollen und Positionen bewusst oder unbewusst kommuniziert werden. Während man jedoch in einer Face-to-face-Interaktion immer auch nichtsprachliche Mittel und Me-dien zur Verfügung hat – von Gestik und Mimik über Kleidung, Körpersprache zur Stellung im Raum etc. – , so hat man beim Schreiben natürlich hauptsächlich sprachli-che Mittel zur Hand, um etwas zu kommunizieren. So müssen entspresprachli-chend auch die eigene Rolle und der eigene Standpunkt (stance, vgl. Hyland (2001a, 2005, 2008)) verbal kommuniziert werden.

If the self is not a fixed pre-language entity, then writers can be sensitized to the possibilities of inventing their ‘selves’ through their writing. They can, as it were, break free from the real or imagined moulds of behaviour im-posed upon them by their discourse situations to inhabit different, chosen roles in their writing. (Tang und John 1999: 24)

Ein wissenschaftlicher Autor hat also viele unterschiedliche Möglichkeiten, in einem Text seine Identität zu konstruieren5(s. v. a. Kap. 3.3). Neben dem Gebrauch der ersten Person, die wohl die eindeutigste Möglichkeit ist, wurden vor allem folgende Mit-tel untersucht:epistemic modality,argumentative connectives,negativeundconcessive con-structions,selected lexemesundmetatextual expressions(Gotti 2009a). Eine der wichtigsten Untersuchungen zur Bedeutung der Identität im wissenschaftlichen Schreiben stammt von Roz Ivaniˇc (Ivaniˇc 1998). In ihrer Untersuchung von acht „mature students“, also von Studierenden, die sich erst spät zu einem Universitätsstudium entschlossen haben und praktisch „auf dem zweiten Bildungsweg“ studieren, vertritt sie ebenfalls einen sozialkonstruktivistischen Standpunkt, d. h. sie geht davon aus, dass Identitäten auch im wissenschaftlichen Schreiben immer neu und abhängig vom soziokulturellen Kon-text konstruiert werden.

Konkret hat sie drei verschiedene Identitäten (Selves) herausgearbeitet, die wissen-schaftliche bzw. studentische Autoren innehaben (können). Diese sind im Prinzip drei Teile der individuellen Persönlichkeit eines Autors, die sich in seinem Text wieder-finden lassen, und Ivaniˇc verwendet äquivalent zu „self“ auch den Begriff „identity“

(Ivaniˇc 1998: 24). Diese drei „selves/Selbste“ nennt sie das autobiografische Selbst (au-tobiographical self), das diskursive Selbst(discoursal self) und das Selbst als Autor (self as author).

5Das Konzept „Identität“ spielt im wissenschaftlichen Schreiben auch weiterreichend eine wesent-liche Rolle, nicht immer geht es nur um die Identität des jeweiligen Autors, sondern oft auch um die Identität derjenigen, deren Ideen und Ergebnisse in der jeweiligen Arbeit verwendet werden. Ihre Iden-tität muss auf jeden Fall offengelegt und geschützt werden, nicht umsonst gilt das Plagiat als schweres Vergehen im wissenschaftlichen Betrieb (vgl. z. B. Ivaniˇc 1998: 3).

Dabei versteht sie unter demautobiographischen Selbstdas, was man am ehesten mit der tatsächlichen Persönlichkeit des Autors assoziieren könnte (wenn es so etwas denn gibt). Das autobiographische Selbst basiert auf den individuellen, idiosynkratischen Erfahrungen der jeweiligen Person und repräsentiert die sozial konstruierte und sich ständig ändernde Identität, die jeder Autor überwiegend unbewusst in jeden seiner Schreibprozesse mit einbringt (vgl. Ivaniˇc 1998: 24-25).

Dasdiskursive Selbstdagegen stellt den Teil des Selbst dar, den ein Autor – bewusst oder unbewusst – in einem bestimmten Text vermittelt (Ivaniˇc 1998: 25). Dieses Selbst wird durch die bestimmten diskursiven Eigenschaften eines Textes erzeugt, die ihrer-seits abhängig sind von den Werten, Vorstellungen und Machtrelationen innerhalb des sozialen Kontextes, in dem der Text entsteht. So kann sich das diskursive Selbst eines wissenschaftlichen Autors in einem Forschungsartikel deutlich von demjenigen des gleichen Autors in einer Einführung oder einer Rezension unterscheiden.

Das Selbst als Autor schließlich repräsentiert das Ausmaß, in dem der Autor sich selbst als Quelle des Textes darstellt. Hier trifft der Autor Entscheidungen, wie er seine Haltungen und Einstellungen rhetorisch vertritt, welche Position er wie sprachlich ein-nimmt, wie autoritativ er Meinungen und Überzeugungen äußert und ob und wie er sich selbst als verbindliche und maßgebliche Instanz darstellt (authoritativeness). Dabei steht jedem wissenschaftlichen Autor eine Bandbreite an rhetorischen Möglichkeiten zur Auswahl.

The self as author is particularly significant when discussing academic wri-ting, since writers differ considerably in how far they claim authority as the source of the content of the text, and in how far they establish an authori-al presence in their writing. Some attribute authori-all the ideas in their writing to other authorities, effacing themselves completely; others take up a strong authorial stance. Some do this by presenting the content of their writing as objective truth, some do it by taking responsibility for their authorship.

(Ivaniˇc 1998: 26)

Dabei wird das Selbst als Autor einerseits von den persönlichen Erfahrungen und Ein-stellungen des „tatsächlichen“ Menschen beeinflusst, d. h. vom autobiographischen Selbst, andererseits hat natürlich auch das diskursive Selbst und damit einhergehend der (engere) soziale Entstehungskontext eines Textes Anteil an der Konstruktion des Selbst als Autor.

Neben diesen drei Aspekten von Autorenidentität (writer identity) haben nach Iva-niˇc auch die vom soziokulturellen, hier vor allem vom disziplinären Kontext vorgege-benenpossibilities for selfhood, die Auswahl an institutionell vorbestimmten Identitäten (Ivaniˇc 1998: 27), Einfluss auf die Selbstdarstellung von wissenschaftlichen Autoren

in ihren Texten. Diese sieht sie als vierten Aspekt derwriter identity.6 Der disziplinäre bzw. soziale Kontext stellt entsprechend prototypische Identitätsslots zur Verfügung, d. h.

‚social‘ identities in the sense that they do not just belong to particular indi-viduals. In any institutional context there will be several socially available possibilities for self-hood: several ways of doing the same thing. Of these some will be privileged over others, in the sense that the institution accords them more status. (Ivaniˇc 1998: 27)

Dieser vierte Aspekt von Identität umfasst also die Möglichkeiten der Selbstdarstel-lung, die der soziokulturelle und institutionelle Rahmen, in dem der Text produziert wird, bietet, wobei offenbar einige dieser Möglichkeiten mehr Prestige haben und in-sofern „wertvoller“ sind als andere. Entsprechend besteht für wissenschaftliche Auto-ren im Rahmen dieses Kontextes der Druck, sich möglichst der eher prestigeträchtigen Möglichkeiten der Selbstdarstellung zu bedienen. Dies setzt die Kenntnis der jewei-ligen Möglichkeiten und ihrer entsprechenden Konnotationen voraus. Hier liegt of-fensichtlich eine Schwierigkeit für noch nicht erfahrene Autoren und Autoren, die in einem anderen soziokulturellen Wissenschaftskontext sozialisiert wurden.