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2.2 Wissenschaftliches Schreiben und Autorenidentität

2.2.2 Rolle

Ähnlich wie das Konzept der Identität ist auch der Begriff der Rolle alles andere als unumstritten und wird im sozialwissenschaftlichen bzw. soziologischen Kontext im-mer noch und imim-mer wieder diskutiert (s. z. B. Gerhardt 2008). Er steht seit längerem im Fokus verschiedener Wissenschaftler, die unterschiedliche theoretische Perspekti-ven und Strömungen vertreten, und hat sich in der Geschichte des Faches kontinu-ierlich weiterentwickelt (für einen Überblick s. z. B. Abels 2009: Kap. 3). Da es nicht Ziel dieser Arbeit ist, einen umfassenden Überblick über den sozialwissenschaftlichen Rollenbegriff zu geben, werden hier, ebenso wie beim Begriff Identität, nur diejenigen Aspekte angesprochen, die für diese Arbeit relevant sind. Insbesondere werden solche Ansätze hervorgehoben, die sich explizit mit der Beschreibung und Umsetzung sozia-ler Identitäten und Rollen im wissenschaftlichen Schreiben beschäftigen. Dabei ist zu beachten, dass der Rollenbegriff auch in der Linguistik angewandt wird (z. B. seman-tische Rollen), dass hier aber der sozialwissenschaftliche Begriff im Vordergrund steht, da das wissenschaftliche Schreiben als soziale Interaktion betrachtet wird. Im Folgen-den werFolgen-den also kurz die soziologischen Hintergründe des KonzeptsRollevorgestellt um danach die soziolinguistische Perspektive auf das wissenschaftliche Schreiben zu betrachten.

6Es ist zu bedenken, dass diese vier Aspekte der Identitätskonstruktion nach Ivaniˇc nicht separat und unabhängig voneinander zu betrachten, sondern intensiv miteinander verflochten und interdependent sind.

Soziale Situationen unterscheiden sich danach, wie stark sie strukturiert sind, d. h.

wie eindeutig und zuverlässig die in ihnen enthaltenen Interpretationskontexte ge-staltet sind. Diese Kontexte oder auch Schematasind gesellschaftliche Regeln, die be-stimmte Situationen bzw. deren Ablauf und die Handlungsoptionen vorstrukturieren.

Dadurch wird das Problem derdoppelten Kontingenzin diesen Situationen umgangen.

Kontingenz im soziologischen Sinne beschreibt vereinfacht dargestellt die Situation, dass etwas sein oder eintreten kann, aber nicht muss.

Kontingenz bezeichnet zunächst Abhängigkeit und somit Bestimmtheit ei-nes Sachverhalts oder einer Situation, meint ferner aber auch, dass der Sach-verhalt bzw. die Situation anders sein könnte, als sie gerade ist. (Vester 2009: 50)

Kontingenz entsteht dadurch, dass in jeder Interaktionssituation die beteiligten Psonen von ihrem Gegenüber (oder ihren Gegenübern) ein bestimmtes Verhalten er-warten, aber nicht wissen, ob sich das Gegenüber auch tatsächlich so verhalten wird.

Doppelt wird die Kontingenz dadurch, dass man auch Erwartungen bezüglich der Erwartungen hat, die das Gegenüber an einen selbst stellt (Vester 2009: Kap. 3.3). Die-se „ErwartungDie-serwartungen“ (Vester 2009: 50) können nun ihrerDie-seits zutreffen oder nicht, wobei jeder der Beteiligten an alle anderen Beteiligten seine eigenen Verhaltens-und Erwartungserwartungen stellt.

Schemata lösen diese Komplexität zumindest teilweise auf, indem sie den interagie-renden Personen Regeln an die Hand geben (oder auch aufzwingen), die die gegebene Interaktionssituation strukturieren. Dadurch werden bestimmte Handlungen und Er-wartungen wahrscheinlicher als andere. Die interagierenden Personen erhalten damit bestimmte soziale Rollen.

Durch soziale Rollen werden die Unsicherheiten, die sich auf Grund der doppelten Kontingenz in Handlungssituationen ergeben, verringert. Die soziale Begegnung von Ego und Alter wird durch Rollen strukturiert und – wechselseitiges Rollenverständnis vorausgesetzt – erleichtert. (Vester 2009: 52) Soziale Rollen werden hier also verstanden als vorgegebene Verhaltensmuster. Im ge-sellschaftlichen Kontext wird von den Inhabern einer Rolle erwartet, dass sie diese Verhaltensmuster erfüllen. Grundsätzlich ist jedoch zu sagen, dass diese Verhaltens-muster generell nicht so starr und fixiert sind, wie es hier möglicherweise scheint. So ist davon auszugehen, dass jede Person eine in gewissem Maße idiosynkratische Vor-stellung davon hat, wie eine spezifische Rolle umzusetzen ist. Entsprechend sind so-wohl die Realisierungen als auch die Erwartungen, die an die jeweilige Rolle bzw. den Rolleninhaber gestellt werden, nie vollständig deckungsgleich.

Dass die Individualität des Einzelnen beim Umsetzen sozialer Rollen immer mit hineinspielt, betont auch Uta Gerhardt (Gerhardt 2008: 386). Für sie stellt die soziale

Rolle „ein Schema zur Deutung von Handlungsakten bereit [...], das den Spielraum akzeptierten Verhaltens für Personen in Interaktionsbeziehungen festlegt“ (Gerhardt 1971: 226) und sie definiert sie folgendermaßen:

Rollen sind das Ergebnis einer Abstraktion, welche Haltungen, Eigenschaf-ten, Leistungen und Tätigkeiten für gleichrangige und/oder gleichartige Personen zu einem aus Handlungsregeln bestehenden Typisierungsschema zusammenfasst. (Gerhardt 1971: 226)

Soziale Rollen sind also als Handlungsregeln zu verstehen, die sich zu einem Hand-lungs- und Verhaltensschema verdichtet haben. Um sie empirisch zu untersuchen, ist es notwendig, das Verhalten und insbesondere die Handlungen von Personen zu be-trachten, die sich bestimmte Rollen zuschreiben7.

Gerhardt weist darauf hin, dass Rollen immer an einen spezifischen soziokulturel-len Kontext gebunden sind, innerhalb dessen sie normativ wirken können und solsoziokulturel-len (Gerhardt 2008: 387). Diese Kontexte sind jedoch variabel und können sich im Lauf der Zeit verändern, so dass sich die Rollen und die mit ihnen verbundenen Hand-lungsregeln ebenfalls ändern können. Darüber hinaus postuliert sie „drei Ebenen der Abstraktion von der unmittelbaren Erlebniswelt“ (Gerhardt 2008: 387), auf denen sich diese strukturellen Kontexte auswirken können, nämlich den Status, die Position und die Situation. Sie differenziert folglich zwischen Statusrollen, Positionsrollen und Si-tuationsrollen, die sich hinsichtlich ihrer Festigkeit und Kohärenz, d. h. ihrer Institu-tionalisiertheit, unterscheiden. Als Statusrollen fasst sie diejenigen Rollen auf, die in-nerhalb des jeweiligen soziokulturellen Kontextes am stärksten institutionalisiert bzw.

gesellschaftlich geformt sind. Hierunter fallen Rollen, die an Merkmale wie Alter, Ge-schlecht, Ethnie oder Nationalität gebunden sind (Gerhardt 2008: 387). Auf mittler-er Ebene siedelt sie die Positionsrollen an, untmittler-er die sie beispielsweise Bmittler-erufsrollen fasst (Gerhardt 2008: 388). Situationsrollen hingegen sind am wenigsten im Rahmen des soziokulturellen Kontextes institutionalisert, hierunter fallen Rollen wie „Freund“,

„Gast“ etc. (Gerhardt 2008: 388).

Unabhängig von ihrer institutionellen Festigkeit sind diese Rollen aber, wie oben schon beschrieben, immer auch interpretierbar und sie werden situativ immer neu in-terpretiert. In jeder Situation spielen immer verschiedene Rollen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus zusammen, was bedeutet, dass neben der jeweiligen Interpretati-on vInterpretati-on relativ stark fixierten Rollen auch immer ein situatiInterpretati-onsgebundenes Aushandeln

7Diese Handlungen können sprachlicher, aber auch nichtsprachlicher Natur sein, was sich in den hier untersuchten Texten eben in sprachlichen Handlungen (wie z. B. metatextuellen Hinweisen) oder in versprachlichten Handlungen zeigen kann. Als letztere bezeichne ich diejenigen Handlungen, die zwar in der realen Umsetzung nicht (unbedingt) sprachlich ausgeführt werden, die aber natürlich in Rahmen der Berichterstattung in wissenschaftlichen Texten sprachlich dargestellt werden müssen, beispielsweise das Durchführen bestimmter methodischer Schritte wie das Berechnen von Korrelationen etc. (s. auch Kap. 3.3.2, S. 71).

eines angemessenen rollenspezifischen Verhaltens stattfindet. Dieses Aushandeln setzt entsprechend immer mindestens zwei Handelnde voraus, mit anderen Worten, soziale Rollen können ausschließlich in Interaktion realisiert werden bzw. haben nur in Inter-aktion Relevanz. Dabei betont Gerhardt jedoch, dass das Gegenüber sowohl bestimmt als auch unbestimmt sein kann (Gerhardt 2008: 387), wobei gerade im wissenschaftli-chen Schreiben ein unbestimmtes oder zumindest nicht vollends bestimmtes Gegen-über die Regel ist.

Darüber hinaus hat auch jeder Rolleninhaber die Freiheit, sich bewusst gegen die gesellschaftlich geforderten Verhaltensweisen seiner Rolle zu stellen, wodurch er un-terschiedliche Dinge symbolisieren kann. Erving Goffman nennt dies „Rollendistanz“

(Goffman 1961, 1973).8Diese Möglichkeit, sich von der eigenen Rolle zu distanzieren, wird auch dadurch begünstigt, dass sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens ein Rol-lenrepertoire aneignet, aus dem heraus er sich in jeder Situation die für ihn jeweils passende (Kombination aus verschiedenen) Rolle(n) auswählen kann.

Der Verhaltensakt ist der Schauplatz gleichzeitiger Einwirkungen hetero-gener Status-, Positions- und Situations-Rollen auf das Handeln, und deren je aktuelles Zusammenspiel ist ein Moment der individuellen Identität. Die Je-Einmaligkeit sowohl des einzelnen Verhaltensaktes wie auch der Indivi-dualität als dem Ausdruck einer besonderen Aggregation von Rollen kann daraus hergeleitet werden. (Gerhardt 1971: 296)

Soziale Rollen sind also immer an den soziokulturellen Kontext, in dem sie realisiert werden, gebunden und können gemeinsam mit diesem variieren. Darüber hinaus ist ihre eigentliche Funktion zwar, dass sie grundlegende Regeln bündeln, wie die jewei-ligen Rolleninhaber innerhalb des spezifischen Kontextes zu handeln bzw. sich zu ver-halten haben. Allerdings sind diese Regeln nicht absolut deterministisch, sondern die reale Ausgestaltung einer Rolle in einer spezifischen Situation ist abhängig von dem sie verkörpernden Individuum. Jeder Mensch hat als Teil verschiedener Gruppen mit unterschiedlichen Rollen immer – zumindest bis zu einem gewissen Grad – die Wahl, wie er sich als Inhaber einer bestimmten sozialen Rolle darstellen will und sogar, ob er diese Rolle in der betreffenden Situation überhaupt übernehmen will.9 Diese Grund-annahmen fasst Gerhardt in vier Hypothesen zusammen:

1. Rollen haben einen strukturellen Kontext.

8Ein Grund, warum sich Personen von ihrer Rolle distanzieren, kann sein, dass eine Rolle hohe An-forderungen an ihren Inhaber stellt und der Inhaber so die Möglichkeit hat, sich von dem damit verbun-denen Stress zu befreien (Vester 2010: 27). Als Beispiel nennt Vester Chirurgen, die bei einer Operation Scherze machen und nicht-medizinische Gespräche führen, um damit deutlich zu machen, dass sie sou-verän mit den Anforderungen ihrer Rolle umgehen können (Vester 2010: 27).

9Dies gilt natürlich auch andersherum. Jedem Individuum werden in einer realen sozialen Situati-on vSituati-on anderen Individuen Rollen zugeschrieben, die nicht unbedingt mit denjenigen übereinstimmen müssen, die diese Person sich selber zuschreibt. Zudem kann auch das Gegenüber bewusst oder unbe-wusst entscheiden, ob es die Rolle, die sich jemand selber zuschreibt, akzeptiert oder nicht.

2. Die strukturellen Kontexte variieren im Grad der Abstraktion von der unmittelbaren Erlebniswelt sowie im Grad der Generalisierung ihrer Gültigkeit.

3. Entsprechend ihrem strukturellen Kontext entstehen Rollen von un-terschiedlichem Grad der institutionellen Verfestigung in einer Gesell-schaft.

4. Rollen und strukturelle Kontexte, sofern sie handlungsrelevant wer-den, werden interpretiert. (Gerhardt 2008: 387)

Vergleichbare Kategorisierungen wie Gerhardts drei Abstraktionsebenen von Rollen, die Status-, Positions- und Situations-Rollen, finden sich auch in Untersuchungen zum wissenschaftlichen Schreiben. Ramona Tang und Suganthi John beispielsweise haben ebenfalls drei Rollenkategorien charakterisiert, die sich in ihrem jeweiligen Skopus, d. h. in der Reichweite, in der sie die Identitäten einer betreffenden Person prägen, unterscheiden. Diese nennen sie soziale Rollen (societal roles), Diskursrollen (discourse roles) und Genre-Rollen (genre roles) (Tang und John 1999: 25).

Soziale Rollen haben dabei die größte Reichweite und sind innerhalb der Persön-lichkeit eines Menschen angesiedelt, beispielsweise die Rollen „Vater“, „Tochter“, „Ame-rikaner“ etc. (Tang und John 1999: 25). Damit sind sie vergleichbar mit Gerhardts Sta-tusrollen. Diskursrollen sind dagegen schon spezifischer auf bestimmte Situationen und Diskurskontexte beschränkt, häufig im Rahmen beruflicher Diskurse (z. B. die Rol-len Anwalt – Klient oder Arzt – Patient). Dabei sind unter bestimmten Umständen die Übergänge jedoch fließend. Diskursrollen lassen sich daher weitestgehend mit den von Gerhardt definierten Positionsrollen korrelieren (Gerhardt 2008: 387).

Generally, these roles only hold within the confines of that discourse com-munity. For example, a person is not ’a client‘ outside of the courtroom or the lawyer’s office. In some cases, however, a person’s job might come to define him or her so well that the society defines them by it. When this hap-pens, what began as a discourse role might develop into a societal role, as when a prominent medical doctor is identified as such even when he or she is picking up a head of lettuce at the supermarket. (Tang und John 1999: 25) Genre-Rollen dagegen sind auf ein spezifisches Genre abgestimmt und damit in einer Diskursgemeinschaft sowie auch einer spezifischen Diskurssituation verortet. Diese Rollen sind sehr eng mit dem jeweiligen Genre verbunden und der Übergang zu einer sozialen Rolle (im engeren Sinne Tang/Johns) ist nicht wahrscheinlich.

[I]n this article, when we speak of the writer as a guide through the essay or the architect of the essay, we are discussing genre roles, identities that are created within the genre of the undergraduate academic essay or academic

research article. A genre role will generally not develop into a societal role.

One does not identify a person as a guide through the essay in any context outside of academic writing. (Tang und John 1999: 25)

Dabei ist zu beachten, dass alle drei Rollenkategorien zumindest theoretisch in schrift-lichen Texten, auch im wissenschaftschrift-lichen Schreiben, sprachlich dargestellt werden können. Die Ergebnisse dieser und weiterer Untersuchungen zu Genre-Rollen im wis-senschaftlichen Schreiben werden in Kapitel 3.3.2 diskutiert.

Es ist in diesem Abschnitt deutlich geworden, dass soziale Rollen zwar als sozio-kulturell und situational vorgegebene Verhaltensmuster wirken, dabei aber durchaus individuell variabel sein können. Da sich die Rollenübernahme in der Interaktion vor allem daran zeigt, wie die Beteiligten handeln, liegt in der Auswertung der Korpustex-te der Fokus auf den Handlungen, die sich die Autoren durch die Pronomen der ersKorpustex-ten Person selber zuschreiben, wo sie also explizit von sich sagen: „ICH bin derjenige der XY tut/getan hat.“