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Der Text von Diane Vaughan (Vaughan 2006) ist ein Sonderbeispiel, das im Folgen-den eingehender untersucht werFolgen-den soll. Formal entspricht er voll und ganz einem ty-pischen wissenschaftlichen Artikel, er enthält beispielsweise ein Abstract, Zwischen-überschriften sowie Zitate und Literaturliste. Auch inhaltlich sind die regulären Ab-schnitte eines wissenschaftlichen Fachartikels erkennbar.

Allerdings ist dieser Artikel für diese Arbeit besonders interessant, da hier die ei-gene wissenschaftliche Identität der Autorin das Thema bildet. Die Autorin reflektiert ihre eigenen Ansichten und ihr Handeln als Soziologin in einem spezifischen

For-schungszusammenhang. Dabei verwendet sie eine sehr untypische Darstellungswei-se, ihr Artikel gleicht einem Erlebnisbericht oder einer Reportage und ist, dem Thema entsprechend, aus einer sehr persönlichen Perspektive geschrieben. Diese narrative Darstellungshaltung wurde in verschiedenen Untersuchungen als eindeutig unwis-senschaftlich identifiziert (z. B. Tang und John 1999; Hyland 2002a; Steinhoff 2007). Die Frage, die sich hier stellt, ist, wie die Autorin in ihrem Artikel die erste Person Singular benutzt. Eine weitere Frage, die in diesem Rahmen jedoch nicht vollständig beantwor-tet werden kann, ist darüber hinaus auch, ob es die Autorin trotz ihres untypischen ICH-Gebrauchs schafft, ihre Glaubwürdigkeit als wissenschaftliche Autorin aufrecht-zuerhalten und ggf. sogar noch zu stärken.

Diane Vaughan ist ein mehrfach mit Preisen ausgezeichnetes Mitglied der US-ame-rikanischen und weltweiten soziologischen Community und eine erfahrene wissen-schaftliche Autorin, deren Werke auch über die wissenwissen-schaftliche Gemeinschaft hin-aus eine Leserschaft gefunden haben. Für ihre Analyse der Challenger-Katastrophe (Vaughan 1996), die auch die theoretische Basis für die im hier untersuchten Artikel vorgestellte Analyse bildet, ist sie u. a. mit demRachel Carson Prizeder Society for So-cial Studies of Science (1998) und demRobert K. Merton Book Award (Science, Knowled-ge, and Technology Section)der American Sociological Association (1996) ausgezeichnet worden. Weiterhin war sie für diese Arbeit im Jahr 1996 für denNational Book Award so-wie denPulitzer-Preisin der Kategorie Non-Fiction nominiert25. Darüber hinaus wurde ihr im Jahre 2006 von der American Sociological Association derPublic Understanding of Sociology Award zugesprochen. Sie hat ihre gesamte akademische Karriere im Fach Soziologie vollzogen und ist seit 1996 Professorin für Soziologie, zunächst am Boston College und aktuell an der Columbia University26.

Man kann also mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass sie die Schreibkonven-tionen ihres Faches sehr gut kennt und die hier beschriebenen Abweichungen bewusst und gewollt vollzogen hat. Insofern ist der hier untersuchte Text ein gutes Beispiel da-für, dass wissenschaftliche Schreibkonventionen, wie alle soziokulturellen Konventio-nen, nicht als deterministisch aufgefasst werden dürfen, sondern nur ein grobes Gerüst bilden, innerhalb dessen die individuellen Autoren abhängig von ihren eigenen Präfe-renzen und auch den jeweiligen Themen, die sie in ihren Texten bearbeiten, ihren ei-genen Stil ausbilden können. Individuelle Entscheidungsmöglichkeiten innerhalb der wissenschaftskulturellen Konventionen sind also immer vorhanden und können von entsprechend erfahrenen Autoren auch in vollem Ausmaß eingesetzt werden.

Bei der folgenden Auswertung des ICH-Gebrauchs in Diane Vaughans Text werden vorrangig diejenigen Vorkommnisse betrachtet, mit denen sie soziale Rollen umsetzt, die weniger typisch für wissenschaftliche Texte sind und die in den anderen Korpus-texten nicht oder nur in Einzelfällen benutzt wurden. Doch natürlich hat die Autorin

25http://sociology.columbia.edu/files/sociology/vaughan_cv.pdf, Zugriff 03.10.2013

26http://sociology.columbia.edu/files/sociology/vaughan_cv.pdf, Zugriff 03.10.2013

auch typische Handlungen umgesetzt, für die hier zunächst einige Beispiele aufgeführt werden.

Wie in anderen Texten auch tritt Diane Vaughan in ihrem Text ebenfalls als die Verfasserin in Erscheinung, allerdings übernimmt sie diese Rolle nur selten. In Beispiel 316 schreibt sie sich ein Verb der verbalen Darstellung zu (discuss) und verweist damit vor auf ein späteres Kapitel (later).

(316) The board’s composition (ultimately significant in the framing discourse of the board’s report, as I will discuss later) was a product of history and politics.

(Absatz 17)

Handlungen, mit denen sie sich als Forscherin charakterisiert, benutzt Vaughan dage-gen deutlich häufiger. Während sie in Beispiel 317 ihren (ursprünglichen) Forschungs-fokus beschreibt, stellt sie sich in den folgenden Beispielen als die Person dar, die ent-scheidet, welche Daten sie für ihre Forschung verwendet, und die diese Daten dann erhebt (Beispiele 318 bis 322). Die Beispiele 323 bis 325 zeigen sie dann als diejenige Person, die ihre Daten analysiert.

(317) Neverhad I intended such an extended diversion from my ongoing research, but now hooked by their puzzle and process, I agreed. (Absatz 31)

(318) My data are constituted in my participation at the CAIB and NASA and a chro-nology and content analysis of over 1,200 e-mailsI receivedrelated to the Co-lumbia accident. (Absatz 9)

(319) Also useful were 4×6 cards on whichI recordedeach telephone contact by the media and others by date and phone numbers, taking notes on questions asked and new informationI received. (Absatz 9)

(320) Using the Simmel-based method of analogical theorizing that guided my Chal-lenger analysis (Vaughan 1992),I converted my accumulating dataon the acci-dent into a more systematic comparison, beginning a focused revisit to the site of my previous study. (Absatz 23)

(321) To identify both similarities and differences,I began systematically sorting my datainto institutional, organizational, and decision-making levels of analysis.

(Absatz 24)

(322) BecauseI was working with datafrom some interviews given under conditions of anonymity and considered privileged communication by the board, I was asked to sign a nondisclosure agreement. (Absatz 50)

(323) I analyzed all newspaper and wire accounts relevant to the accident and to the CAIB and NASA activities available via the CAIB clipping service, and I examined Internet documents. (Absatz 9)

(324) Finally,I comparedsucceeding versions of the CAIB report chapters addressing the social causes of the accident. (Absatz 9)

(325) Working inductively from this ethnographic account, I identify the mecha-nisms that enabled sociological concepts and theory to travel across the discipli-ne’s boundary to become meaningful in the public and policy realms. (Absatz 9)

Noch deutlich häufiger als in den anderen Texten schreibt sich die Autorin in die-sem Text auch andere Rollen zu, die nicht direkt mit dem Verfassen des Textes oder dem Forschungsprozess zusammenhängen. Beispielsweise verweist sie immer wieder auf ihre Beteiligung an anderen Forschungsprojekten, insbesondere natürlich die For-schungsarbeit, aufgrund derer sie als Expertin für die Untersuchung des in diesem Text behandelten Ereignisses beauftragt wurde (Beispiel 326). In Beispiel 327 dagegen beschreibt sie sich im Kontext eines anderen, neuen Projekts, womit sie ebenfalls ihre Rolle als (vielbeschäftigte) Wissenschaftlerin betont, die regelmäßig neue Forschungs-projekte durchführt.

(326) I draw upon my experiencesfrom February 2003 through February 2004, recon-structing them chronologically in an ethnographic account of the four stages of post-Columbia rituals of risk and error: [...] (Absatz 9)

(327) I was deep into a new project, so was caught off guard by the sudden NASA-related intrusion of media and interested others. (Absatz 15)

Darüber hinaus setzt sie sich in Beziehung zu anderen von ihr geschriebenen Texten und stellt sich so aus einer weiteren Perspektive als wissenschaftliche Autorin dar. Hier betont sie nicht, wie in der Rolle als Verfasserin, ihre Funktion als die kreative und or-ganisierende Instanz hinter ihren Texten, sondern sie schreibt sich die (wissenschaftli-che) Tätigkeit des Schreibens und Veröffentlichens zu. Im Kontext einer auf dem Kon-zept despublish-or-perishberuhenden Wissenschaftskultur stellt dies sicher eine zwar recht subtile, aber dennoch massive Eigenwerbung dar (s. auch Kap. 5.4).

(328) BecauseI had written a bookon the Challenger accident (Vaughan 1996), I was viewed as an expert on NASA and shuttle accidents. (Absatz 3)

(329) Soon, copies of it and a theoretically true but de-jargonized management jour-nal condensation thatI wrote(Vaughan 1997) were circulating in the offices of the CAIB and its staff. (Absatz 28)

Eine weitere wissenschaftliche Tätigkeit, in dem Sinne, dass sie zum Arbeitsalltag der meisten Wissenschaftler gehört, ist die Lehre. Zwar wird die eigene Rolle als Lehr-person in wissenschaftlichen Forschungsartikeln von den Autoren üblicherweise nicht thematisiert27, Vaughan aber stellt sich in ihrem Artikel dennoch auch als Lehrperson

27In anderen, eher didaktischen Textsorten, wie einem Einführungsartikel oder einem Lehrbuch steht diese Rolle vermutlich mehr im Zentrum.

dar und baut diese Facette ihrer wissenschaftlichen Persona aus. Dadurch gewinnt sie zusätzlich an Glaubwürdigkeit und Autorität, da sie sich so nochmals deutlich im pro-fessionellen soziologischen Umfeld verortet und dabei auch ihre produzierende und formende Funktion innerhalb dieses Kontextes betont.

(330) What I was teaching was the sociological perspective, using the theory and concepts that explained Challenger. (Absatz 20)

Diese Funktion steht auch in den folgenden Beispielen im Vordergrund. Hier stellt sie sich als Wissenschaftlerin bzw. konkret als Soziologin dar, indem sie Bezug zu so-ziologischen Themen und Theorien herstellt (Beispiel 331), ihren eigenen Werdegang anhand typischer Stationen (Graduate Student) nachzeichnet (Beispiel 332) oder sich, wie auch in Beispiel 330, typische professionelle Tätigkeiten zuschreibt (Beispiele 333 bis 335).

(331) With cold hands and keen awareness of this as the most literal deployment of Goffman’s (1959) frontstage and backstage distinction that I had ever experi-enced, we passed through the parted curtain into the bright lights and, seated at tables in symbolic adversarial opposition, snapped into appropriate roles.

(Absatz 32)

(332) I did participate in interviews and other media activities because while tea-chingas a graduate student I saw how sociology could challenge or even alter people’s understanding of their own and others’ lives. (Absatz 19)

(333) I self-defined as doing professional sociologyin another setting: research, data analysis, and teaching; public sociology relevant to policy; not political activism working for institutional and organizational change. (Absatz 93)

(334) I was not trainedto go beyond sociological principles and examples to imple-menting change. (Absatz 94)

(335) Not only do the four sociologies merge into blurred genres in my experience, asI was often doing all or several at once, but so do the two types of public sociology. (Absatz 97)

Neben diesen direkten Selbstzuschreibungen stellt sich Vaughan aber auch in der Au-ßenperspektive dar und beschreibt, wie sie als Expertin, Beraterin oder Gutachterin von verschiedenen Seiten wahrgenommen und konsultiert wurde bzw. wird.

(336) Because I had written a book on the Challenger accident (Vaughan 1996),I was viewed as an experton NASA and shuttle accidents. (Absatz 3)

(337) I was consultedby the press, called to testify before the CAIB, invited to join the board as a consultant and staff researcher, and worked on the official report, authoring a chapter. (Absatz 3)

(338) For Space Center City and East Coast journalists and National Public Radio,I became a regular source. (Absatz 22)

(339) In late March,I was invited to testifyin the CAIB public hearings in Houston.

(Absatz 23)

Ein wesentlicher Unterschied zu den anderen hier untersuchten wissenschaftlichen Texten, und auch zu der generellen Auffassung von „Wissenschaftlichkeit“ in der For-schung zu wissenschaftlichem Schreiben (z. B. Steinhoff 2007; Hyland 2001b) sind die umfassenden narrativen Passagen, die dieser Text enthält. Diese sind in erster Linie sicherlich in dem methodischen Ansatz, den die Autorin in ihrer Untersuchung ver-folgt hat, begründet. Ethnographische Studien dieser Art erfordern von denjenigen, die sie durchführen, in der Regel ein deutlich stärkeres persönliches Einbringen in den Forschungskontext als beispielsweise quantitative Erhebungsverfahren.28Dadurch er-halten natürlich nicht nur die Auswertungen und Interpretationen, sondern auch der ganze Prozess der Datenerhebung eine deutlich persönlichere Färbung (vgl. auch den Korpustext Viterna 2006).

Dennoch geht Diane Vaughan hier eindeutig über die für die Darstellung ethnogra-phischer Studien übliche persönlichere Perspektive hinaus und thematisiert ihre nen Erlebnisse nicht nur nicht neutral, sondern bringt immer wieder bewusst ihre eige-nen Emotioeige-nen, Erwartungen und Reaktioeige-nen mit ein. Diese Darstellungsweise wurde von Steinhoff (2007) und Hyland (2001b) als eindeutig nicht wissenschaftlich und als Hinweis auf einen ungeübten studentischen Autor beschrieben. Hier zeigt sich, dass diese Charakterisierung zu kurz gefasst ist, da, in den richtigen Händen, auch die-ser Stil der Wissenschaftlichkeit eines Textes nicht notwendigerweise schaden muss.

In den folgenden Beispielen 340 bis 344 beschreibt die Autorin sich und ihre eigene Position aus ihrer Perspektive und thematisiert dabei Umstände auf eine sehr persön-liche und berichtende Art, wobei deren direkter Informationsgehalt für die Forschung und die Ergebnisse sich nicht immer auch direkt erschließt. Weiterhin thematisiert sie neben den tatsächlichen Vorkommnissen und ihren Aktivitäten auch immer wieder emotionale Aspekte (Beipiele 345 bis 349).

(340) About 10:30 a.m. on Saturday, February 1, as I watched television replays of Columbia’s tragic disintegration unfold, I began receiving phone calls and e-mails about the accident. (Absatz 15)

(341) I had no experienceas an expert witness, let alone as a participant in an official government investigation of this scale. (Absatz 25)

28In Disziplinen, in denen diese Methoden häufig verwendet werden, gehören Abschnitte und ganze Teiltexte in erzählendem Stil inzwischen zu den allgemein anerkannten Darstellungstechniken (Auer und Baßler 2007a: 21).