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II. Auswirkungen von Abwanderung auf die (EU-)Herkunftsländer

5. Rücküberweisungen

5.4. Wirtschaftliche Auswirkungen von Rücküberweisungen

bedeu-tenden Anteil der Gesamtwirtschaftsleistung: In Europa ist Kosovo das Land mit den relativ gesehen höchsten Rücküberweisungen, die dort im Jahr 2019 15,7 % des Bruttoinlandsprodukts entsprachen80. Auch in Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Albanien und Serbien bilden Rücküberweisungen einen bedeuten-den Anteil der Gesamtwirtschaftsleistung (11,2 %, 10,5 %, 9,6 %, 8,2 % des BIP).

EU-Spitzenreiter, was den Erhalt von Rücküberweisungen im Verhältnis zum BIP betrifft ist Kroatien (6,6 %), gefolgt von Bulgarien (3,4 %), Lettland und Rumänien (beide 3,3 %; Eurostat 2020k: 10f.).

Auf Ebene der Empfängerhaushalte liegt die unmittelbare Verbesserung ihrer ökonomischen Situation durch den Erhalt von Rücküberweisungen auf der Hand.

Mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Ebene ist der Kenntnisstand zu den Aus-wirkungen von Rücküberweisungen auf wirtschaftliches Wachstum jedoch we-niger eindeutig. Im Fokus steht dabei die Frage, inwiefern Rücküberweisungen die infolge von Emigration sinkende Wirtschaftsleistung der Herkunftsländer (s. Kapitel II.3) kompensieren können. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen:

Wenn Konsumausgaben infolge von Rücküberweisungen steigen, kann dies kurz-fristig zu wirtschaftlichem Wachstum und steigenden Staatseinnahmen durch Verbrauchssteuern beitragen. Darüber hinaus ermöglicht das zusätzliche Haus-haltseinkommen den Empfängerhaushalten ggf. auch Investitionen in Bildung und unternehmerische Aktivitäten, die sich ihrerseits mittel- bzw. langfristig po-sitiv auf die wirtschaftliche Produktivität auswirken können. Demgegenüber

80 Bei der Berechnung des BIP werden Rücküberweisungen nicht berücksichtigt, da sie nicht im Inland,

steht die Annahme, dass der Erhalt von Rücküberweisungen den Anreiz zu arbei-ten verringert und sich dies negativ auf die wirtschaftliche Produktivität auswirkt (Ratha 2013: 7; Atoyan et al. 2016: 23). Im Hinblick auf die Staaten der Europäi-schen Union wurde dies empirisch jedoch nicht überprüft.

Auch für die Finanzlage der Herkunftsstaaten erscheinen positive Effekte wahr-scheinlich: Wenn durch den Erhalt von Rücküberweisungen inländische Erspar-nisse anwachsen, kann sich dies positiv auf die Banken- und Kreditsysteme der Herkunftsländer auswirken, da sie mehr Kredite und Investitionen ermöglichen können (Ratha 2013: 6f.; Atoyan et al. 2016: 17ff.). Darüber hinaus dienen Rück-überweisungen den Empfängerstaaten auf internationalen Kapitalmärkten als Sicherheiten und ermöglichen damit den Zugang zu besseren Kreditbedingun-gen: Seit 2009 berücksichtigen die Weltbank und der Internationale Währungs-fonds Rücküberweisungen, sodass Staaten mit besonders hohen Rücküberwei-sungen mehr Schulden aufnehmen können (Ratha 2013: 1, 7; Mehedintu et al.

2019: 3).81

Erwartet werden folglich überwiegend positive Auswirkungen von Rücküberwei-sungen auf das Wirtschaftswachstum der Herkunftsländer. Empirische Studien zu europäischen Staaten kommen allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen.82 Beispielsweise untersuchen León-Ledesma und Piracha (2001) den Einfluss von Rücküberweisungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in elf (süd)osteuropäi-schen Staaten83 im Zeitraum 1990-1999. Auch wenn die Autoren die Daten-grundlage als begrenzt bewerten – für mehrere Staaten liegen nicht für alle Jahre Daten zu Rücküberweisungen vor – kommen sie zu dem Schluss, dass Rücküber-weisungen zu mehr Investitionen führen, die indirekt zu wirtschaftlichem

81 Ein möglicher negativer Effekt, der jedoch empirisch nicht bestätigt wurde, besteht darin, dass durch den Erhalt von Rücküberweisungen der Wechselkurs des jeweiligen Staates aufgewertet wird; infolge-dessen sinkt die Wettbewerbsfähigkeit im Handelssektor (Ratha 2013: 7, Atoyan et al. 2016:20 ff.).

82 Die folgenden Studien beziehen sich i. d. R. auf die Gesamtsumme an Rücküberweisungen, d. h.

private Geldtransfers und grenzüberschreitende Lohnzahlungen. Nicht alle verwenden die Begrifflich-keiten der internationalen Zahlungsbilanz, sodass evtl. abweichende Definitionen möglich sind. Für ei-nen Überblick über Studien, die positive und negative Zusammenhänge zwischen Rücküberweisungen und Wirtschaftswachstum identifizieren, siehe bspw. Cismaș et al. 2020 und Docquier/Veljanovska 2020.

83 Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Nordmazedonien, Ungarn, Polen, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien und Ukraine

Wachstum beitragen (a. a. O.: 1ff., 13). Cismaș et al. (2020) gehen dieser Frage mit Blick auf elf ost- und südosteuropäische Länder84 im Zeitraum 1996-2017 nach. Im Fall von Bulgarien, Tschechien, Estland, Ungarn, Litauen und Lettland können sie einen positiven Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung auf lange Sicht feststellen, in Tschechien und Litauen zeigt sich zudem ein positiver kurz-fristiger Effekt. Für Rumänien bestätigt sich die Annahme eines positiven Einflus-ses von Rücküberweisungen auf die Wirtschaftsleistung hingegen nicht (a. a. O.:

1073ff., 1081, 1091).

Demgegenüber stellt Gjini (2013) einen negativen Zusammenhang zwischen Rücküberweisungen und der wirtschaftlichen Entwicklung für einige der unter-suchten osteuropäischen Staaten85 im Zeitraum 1996-2010 fest.86 Dies wird da-mit begründet, dass Rücküberweisungen hauptsächlich für Konsumausgaben und nicht für wirtschaftliche Investitionen genutzt würden. Für die Staaten mit einem hohen Einkommen („high income countries“) zeigt sich eine sehr geringe, statistisch nicht bedeutsame Steigerung des BIP pro Kopf von 0,11 % bei einer zehnprozentigen Zunahme von Rücküberweisungen. Deutlicher ist hingegen, dass Staaten mit mittlerem Einkommen im oberen Bereich („upper-middle in-come countries“) ein um 0,45 % sinkendes BIP pro Kopf aufweisen, wenn die Summe der Rücküberweisungen um ein Zehntel steigt (Gjini 2013: 193, 198, 200, 201). Der durchschnittliche materielle Wohlstand sinkt diesen Beobachtungen zufolge leicht, bei gleichzeitiger Zunahme der erhaltenen Rücküberweisungen.

Ratha (2013) hingegen schätzt die Herstellung eines Kausalzusammenhangs zwi-schen Rücküberweisungen und negativen wirtschaftlichen Entwicklungen als fraglich ein. Wenn Rücküberweisungen kontrazyklisch auf Wirtschafswachstum reagieren, d. h. wenn sie in Zeiten wirtschaftlicher Krisen in den Herkunftslän-dern steigen (s. o.), ist vielmehr der umgekehrte Zusammenhang wahrscheinlich:

Verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage in einem Land, steigt die Bereitschaft

84 Kroatien, Bulgarien, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowakei, Estland, Slowenien, Tschechien, Ru-mänien.

85 Albanien, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Lettland, Litauen, Nordmazedonien, Polen, Ru-mänien, Slowakei und Slowenien.

der im Ausland lebenden Bevölkerung, ihre Angehörigen mittels Rücküberwei-sungen zu unterstützen, sodass die Summe der RücküberweiRücküberwei-sungen zunimmt (a. a. O.: 7).

Abschließend aufklären lässt sich der Zusammenhang zwischen Rücküberwei-sungen und Wirtschaftswachstum für die Staaten der Europäischen Union nicht.

Die begrenzte Datenverfügbarkeit und die vermutlich deutlich über den offiziel-len Zahoffiziel-len liegenden Rücküberweisungen erschweren die empirische Untersu-chung dieser Thematik (Cismaș et al. 2020; Atoyan et al. 2016: 7). Zudem machen Rücküberweisungen selbst in den EU-Staaten, die die höchsten Zuflüsse ver-zeichnen, nur wenige Prozent der Wirtschaftsleistung aus, sodass ihr Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung als begrenzt einzuschätzen ist (Europäische Kom-mission 2012: 46ff.).