• Keine Ergebnisse gefunden

II. Auswirkungen von Abwanderung auf die (EU-)Herkunftsländer

6. Gesellschaftliche Folgen von Abwanderung

6.1. Auswirkungen auf im Herkunftsland verbleibende Kinder und

Wie viele Kinder in Staaten der Europäischen Union von elterlicher Migration betroffen sind, ist weitgehend unbekannt (Europäische Kommission 2012: 98).

Lediglich in einigen ost- bzw. südosteuropäischen Staaten wurden Studien zu dieser Thematik durchgeführt. Inwiefern eine ähnliche Problematik auch in an-deren EU-Staaten vorliegt bzw. ob dort häufiger Kinder und Jugendliche mit ih-ren Familien gemeinsam migrieih-ren, ist daher nicht bekannt.

Vergleichsweise detailliert wurde die Lage von Kindern und Jugendlichen in Ru-mänien untersucht, wo die Thematik bereits seit Mitte der 2000er-Jahre

politi-Kinder aufgrund von Emigration ohne ihre Eltern im Haushalt aufwachsen, vari-ieren allerdings auch hier stark: Laut amtlicher Daten der Jugendämter von Ru-mänien, waren zu Jahresbeginn 2018 insgesamt 95.000 Kinder und Jugendliche registriert, bei denen mindestens ein Elternteil im Ausland arbeitet, darunter 17.000 Kinder bzw. Jugendliche, deren beide Elternteile emigriert sind. Im Ver-gleich dazu liegen die in demselben Regierungsbericht von kommunalen Schul-ämtern genannten Zahlen deutlich höher: Von 159.000 in Rumänien lebenden Kindern und Jugendlichen halte sich mindestens ein Elternteil im Ausland auf, darunter 45.502 mit beiden Elternteilen im Ausland (Santa 2019: 174f.).92 Dies entspricht etwa 2,6 % bzw. 4,3 % der insgesamt 3.680.850 in Rumänien lebenden Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, je nachdem, ob die Daten der Jugend- oder Schulämter zugrunde gelegt werden (Eurostat 2020q). Meistens leben diese Kinder und Jugendlichen bei Verwandten und wachsen häufiger ohne ihren Vater als ohne ihre Mutter auf (ebd.). Die Mehrheit lebt in ländlichen Regionen und im Grenzgebiet zu Moldawien, aus dem besonders viele Menschen emigriert sind (Europäische Kommission 2012: 98).

In den vergangenen Jahren sind zivilgesellschaftliche, wie auch politische Ak-teure in Rumänien auf die Problematik aufmerksam geworden: Der o. g. Regie-rungsbericht von 2018 problematisiert das Risiko für psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten durch eine Trennung von den Eltern (Santa 2019:

175). Staatliche Stellen haben daher eine Reihe von Maßnahmen getroffen, bspw. die amtliche Erfassung und Beobachtung der Fälle oder den Zugang zu Be-treuung und sozialen Unterstützungsmaßnahmen für die betroffenen Kinder bzw. Familien (Santa 2019: 175; Europäische Kommission 2012: 98). Die Au-tor*innen einer Studie zur sozialen Inklusion und Armutsreduktion in Rumänien (Teșliuc et al. 2015) sehen ein hohes Risiko negativer Folgen insbesondere für Kinder, deren beide Elternteile emigriert sind: Laut rumänischer Zensusdaten be-suchten jene Kinder, deren beide Elternteile ins Ausland oder innerhalb des Lan-des migriert sind, seltener die Schule (a. a. O.: 145f., 386). Auch der Länderreport der Europäischen Kommission (2012) zu Rumänien stellt für Kinder mit beiden

92 Weitere Schätzungen und frühere Studienergebnisse weichen stark voneinander ab: Eine UNICEF-Studie schätzt die Zahl der in Rumänien zurückgelassenen Kinder im Jahr 2008 auf 350.000 (Europäi-sche Kommission 2012: 98). Daten des rumäni(Europäi-schen Haushaltszensus von 2011 ergaben 116.000 Kin-der und Jugendliche (bis 17 Jahre), die mindestens ein im Ausland lebendes Elternteil haben (Teșliuc et al. 2015: 146).

Elternteilen im Ausland geringere Schulerfolge fest: Die Differenz liegt dabei auf dem gleichen Level wie bei Scheidungskindern und Kindern mit schwächerem sozio-ökonomischem Hintergrund (a. a. O.: 98). Im Gegensatz dazu stehen Be-funde, wonach die Emigration der Eltern keinen Einfluss auf die Schulleistungen von Kindern und Jugendlichen in Rumänien hat, sondern ihnen einen durch-schnittlich höheren Lebensstandard ermöglicht, bspw. aufgrund von Rücküber-weisungen (Voicu 2007, zit. n. Anghel/Horvath 2008: 401).

Eine bisher einmalig durchgeführte Studie des polnischen Bildungsministeriums von 2009 ermittelte mindestens 120.000 Kinder, von denen ein oder beide El-ternteil(e) im Ausland lebten (Children Left Behind 2014). Demgegenüber ver-weist der Länderreport der Europäischen Kommission (2012) auf eine nationale Studie, laut der zwischen 1.1 und 1.6 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 9 und 18 Jahren in den vergangenen drei Jahren zumindest eine zeit-weise Trennung von ihren Eltern erlebt haben; allerdings dauerten 40 % der Trennungen weniger als zwei Monate an (a. a. O.: 98f.). In den meisten Fällen leben die Väter im Ausland; die bisherigen Erkenntnisse weisen auf durchschnitt-lich schlechtere Schulnoten, mehr Fehlzeiten und Verhaltensauffälligkeiten hin.

Bei Jugendlichen im Alter von 14-19 Jahren mit beiden Elternteilen im Ausland deuten Studien zudem auf ein größeres Risiko zu Schulabbrüchen und kriminel-len Aktivitäten hin (ebd.).

Eine Befragung von 651 frühkindlichen und schulischen Bildungsstätten in Li-tauen im Jahr 2007 ergab, dass über 4.000 Kinder und Jugendliche von der Emig-ration ihrer Eltern betroffen waren. Die meisten wurden von Familienangehöri-gen, Freund*innen oder anderen Personen betreut, nur wenige lebten allein (Children Left Behind 2011b). Auch der Länderreport der Europäischen Kommis-sion zu Lettland problematisiert den Verbleib von Kindern im Herkunftsland bei elterlicher Migration. Zahlenmäßige Angaben liegen nicht vor, die Schätzungen liegen bei mehreren Tausend betroffenen Kindern und Jugendlichen; Schulab-sentismus wird hier ebenfalls als Problem benannt (Europäische Kommission 2012: 99). Im Länderreport der Europäischen Kommission zu Estland wird davon berichtet, dass einige Kinder von der temporären Abwesenheit ihrer Eltern bzw.

eines Elternteils betroffen sind. Diese arbeiten im Fall von Estland oftmals im benachbarten Finnland und kehren meist am Wochenende zu ihrer Familie

zu-dass viele Kinder in ländlichen Bergregionen und im Norden des Landes mit an-deren Verwandten aufwachsen, da ihre Eltern im Ausland bzw. einem anan-deren Teil Bulgariens arbeiten (ebd.).

Neben der Abwesenheit von Eltern(teilen) kann auch die gemeinsame Migration mit den Eltern für Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten verbunden sein, wenn sie (mehrfach) zwischen den Bildungssystemen wechseln. Solche Wechsel und die ggf. verpassten Schulmonate oder gar -jahre können sich negativ auf Schulleistungen auswirken und erfordern ggf. zusätzliche Unterstützung und Pla-nung der Übergänge. Beobachtet wird diese Problematik für Lettland, Bulgarien und Rumänien, wobei detaillierte empirische Untersuchungen fehlen (Europäi-sche Kommission 2012: 98f.; Anghel/Horváth 2008, S. 401f.).

Die genannten Studien problematisieren – in unterschiedlichem Ausmaß – über-wiegend negative Auswirkungen elterlicher Migration auf den Schulerfolg, die emotionale Entwicklung und die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Ju-gendlichen. Demgegenüber stehen Beobachtungen zu positiven Auswirkungen auf Bildungsbeteiligung und -erfolge sowie die Gesundheitsversorgung von Kin-dern und Jugendlichen, deren Eltern im Ausland leben. Dies wird oftmals mit dem Erhalt von Rücküberweisungen und somit einem höheren Haushaltsein-kommen in Verbindung gebracht, die insbesondere Kindern aus ärmeren Haus-halten einen längeren Schulbesuch oder die Aufnahme eines Studiums ermögli-chen (Vdovii 2014, Yanovich 2015).

Eine Gesamtbeurteilung der Auswirkungen von elterlicher Migration auf Kinder und Jugendliche kann basierend auf dem aktuellen Kenntnisstand nicht vorge-nommen werden, da die Studienlage uneindeutig und unvollständig ist: Die bis-her durchgeführten Studien nehmen nur wenige EU-Staaten in den Blick, kom-men zu verschiedenen Ergebnissen und sind schwer vergleichbar. Zudem ist an-zunehmen, dass die Auswirkungen im Einzelfall u. a. auch von der Abwesenheits-dauer der Eltern (temporär oder permanent), den familiären Versorgungsarran-gements (ein oder beide Elternteile migriert, Familienmitglieder, die Kinder auf-ziehen), individueller Resilienz oder dem Alter der Kinder abhängen. Darüber hinaus kann die Frage nur in Zusammenhang mit der sozioökonomischen Situa-tion der Familie und der Qualität der Betreuungs- und Erziehungsarbeit beant-wortet werden (Europäische Kommission 2012: 99). Wenn (temporäre) Arbeits-migration einen Ausweg aus prekären Lebensverhältnissen verspricht und die

Betreuung bspw. durch Familienmitglieder gesichert ist, kann sich die soziale Lage der Kinder und Jugendlichen womöglich verbessern. Allerdings sollten psy-chosoziale Unterstützungsangebote, die einige Staaten bereits eingerichtet ha-ben, bei Bedarf flexibel zur Verfügung gestellt werden (ebd.).

6.2. Auswirkungen auf ältere und pflegebedürftige Menschen