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II. Auswirkungen von Abwanderung auf die (EU-)Herkunftsländer

5. Rücküberweisungen

5.5. Soziale Auswirkungen von Rücküberweisungen

Rücküberweisungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Armutsreduktion und gesellschaftlichen Teilhabe der Empfängerhaushalte, indem sie unmittelbar das diesen zur Verfügung stehende Einkommen erhöhen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene scheinen Rücküberweisungen einen Beitrag zur Steigerung des durch-schnittlichen Lebensstandards zu leisten. Auswirkungen von Rücküberweisun-gen auf die Veränderung der Armutsgefährdungsschwelle – diese beschreibt den durchschnittlichen (monetären) Lebensstandard der Bevölkerung87 – stehen im Fokus der Studie von Mehedintu et al. (2019) zu neun ost- bzw. südosteuropäi-schen EU-Staaten88 im Zeitraum von 2005 bis 2017. In allen untersuchten Län-dern stieg dieser Wert bis 2009 an, sank mit den Auswirkungen der Wirtschafts-krise in 2010 (bzw. 2011 in Bulgarien) und stieg danach wieder stetig (a. a. O.:

11). Dies deutet auf einen gestiegenen durchschnittlichen Lebensstandard der Bevölkerung hin, wobei das Wirtschaftswachstum den bedeutendsten Einfluss-faktor darstellt. Die Bedeutung von Pro-Kopf-Rücküberweisungen („per capita global remittances“) für die Entwicklung des durchschnittlichen Lebensstan-dards ist für fünf der untersuchten Länder (Tschechien, Estland, Ungarn, Polen,

87 Die Armutsgefährdungsschwelle („risk of poverty threshold“) gibt die Schwelle von 60 % des natio-nalen verfügbaren Median Äquivalenzeinkommens (nach Sozialtransfers) an (Eurostat 2020m).

88 Bulgarien, Rumänien, Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei

Slowakei) als gering einzuschätzen: Der Einfluss von Rücküberweisungen auf die Anhebung der Armutsgefährdungsschwelle lag in diesen Staaten im untersuch-ten Zeitraum bei weniger als 4 %. Im Fall von Bulgarien, Lettland, Litauen und Rumänien lag dieser Wert hingegen zwischen 5 % und 15 %, wobei ein größerer Einfluss insbesondere in Rumänien, Lettland und Litauen beobachtet wurde, in denen die Werte in einigen Jahren bei 15 % bis 25 % lagen89 (a. a. O.: 7.). Im Ver-gleich zum Einfluss der positiven Wirtschaftsentwicklung auf den durchschnittli-chen Lebensstandard aller untersuchter Staaten fällt der Einfluss von Rücküber-weisungen zwar deutlich geringer aus. In Rumänien, Lettland und Litauen trugen Geldtransfers von Migrant*innen allerdings in einigen Jahren deutlich zur Ver-besserung des durchschnittlichen Lebensstandards bei.

Für den EU-Beitrittskandidaten Nordmazedonien (Rücküberweisung etwa 4 % des BIP) untersuchen Petreski und Jovanovic (2013) die Auswirkungen von Rück-überweisungen auf Armut und soziale Ungleichheit anhand von Daten aus zwei Haushaltsbefragungen 2008 und 2012. Der Erhalt von Rücküberweisungen redu-ziert die Armutswahrscheinlichkeit dabei deutlich: Haushalte, die jährlich zusätz-liche 1000 Euro als Rücküberweisungen erhalten, haben ein um 27 % geringeres Risiko, von Armut betroffen zu sein; dies bewerten die Autoren als starken Ef-fekt. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Erhalt von Rücküberweisungen für Nordmazedonien für 2012 auch eine leichte Senkung des Gini-Koeffizienten, der auf die soziale Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung hinweist (a. a. O.: 19, 22).

Im Gegensatz zu Studienergebnissen zu den Auswirkungen von Rücküberweisun-gen auf den durchschnittlichen Lebensstandard der Bevölkerung ist der Kennt-nisstand zu den Konsequenzen bzgl. sozialer (Un)Gleichheit uneindeutig. Grund-sätzlich besteht die Annahme, dass Rücküberweisungen aufgrund der sozialen Selektivität von Migration zu einer weiteren Öffnung der sozialen Schere beitra-gen können: Wenn durchschnittlich mehr Personen mit einem höheren Einkom-men und Bildungsniveau migrieren (s. Kap. II.4), profitieren Haushalte aus ärme-ren Bevölkerungsschichten folglich seltener von Rücküberweisungen und unglei-che Einkommensverhältnisse setzen sich fort bzw. verstärken sich mögliunglei-cher- möglicher-weise sogar. Andererseits möglicher-weisen migrationstheoretische Annahmen daraufhin,

dass mittelfristig zunehmend auch ärmere Bevölkerungsteile migrieren, wenn Migrationsnetzwerke entstanden sind (Stöhr 2017; Ratha 2013: 6). Mit Blick auf EU-Binnenmigration ist aufgrund der Personenfreizügigkeit und relativ niedriger innereuropäischer Reisekosten davon auszugehen, dass auch ärmere Haushalte mittel- oder langfristig ausreichend finanzielles Kapital zur Migration aufbringen können. Zudem unterscheiden sich die Migrationsmuster zwischen den Staaten (s. Kap. II.4 zur Qualifikationsstruktur der im Ausland lebenden Bevölkerung).

Umfassende empirische Untersuchungen zu Auswirkungen von Rücküberwei-sungen auf soziale Ungleichheit liegen für die EU-Staaten nicht vor. In einer Stu-die zu Tschechien, Ungarn und Polen beobachten Gianetti et al. (2009) einen ge-ringen positiven Effekt von Rücküberweisungen auf soziale Gleichheit, gemessen anhand des Gini-Koeffizienten90. Allerdings sinkt dieser in Ungarn, Tschechien und Polen nur in geringem Maße (- 0,6 % bis - 1 %) und steigt im Fall von Slowe-nien leicht an (+ 0,6 %). Stärker wirkt sich der Erhalt von Rücküberweisungen hingegen auf die Armutsgefährdungsquote91 der Herkunftsländer aus (- 4,9 % bis - 6,3 % in Ungarn, Tschechien und Polen und lediglich - 0,6 % in Slowenien). Al-lerdings fällt der Einfluss staatlicher Sozialleistungen deutlich mehr ins Gewicht bzgl. der Reduzierung sozialer Ungleichheit (- 2,6 bis - 6,4 % des Gini-Koeffizien-ten) und Armutsgefährdung (- 10 % bis - 28,6 %) als der Effekt von Rücküberwei-sungen (Giannetti et al. 2009, zit. n. Europäische Kommission 2012: 46f.).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rücküberweisungen zur Armutsre-duktion in den Herkunftsländern beitragen können, indem sie für zurückgeblie-bene Familienangehörige ein zusätzliches Haushaltseinkommen darstellen. Ins-besondere für Haushalte mit geringem Einkommen können Rücküberweisungen in jedem Fall eine wichtige Unterstützung darstellen, die gerade in Zeiten wirt-schaftlicher Krisen aber auch mit Abhängigkeiten von den Arbeitsmärkten der

90 Der Gini-Koeffizient gibt den Grad der gleichmäßigen bzw. ungleichmäßigen Einkommensverteilung innerhalb eines Landes an. Ein Wert von 0 würde einen Zustand beschreiben, in dem alle Einwoh-ner*innen des Landes das gleiche Einkommen hätten. Im Fall eines Koeffizienten von 1 würde vollstän-dige Ungleichheit herrschen, d. h. eine Person würde über das gesamte Einkommen verfügen (Eurostat 2020n).

91 Die Armutsgefährdungsquote gibt den Anteil der Personen an der Gesamtbevölkerung an, die über ein Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle (s. o.) verfügen. Folglich bezeichnet sie nicht den allgemeinen Lebensstandard in einem Staat, sondern den Anteil niedriger Einkommen im Vergleich zu den Einkommen anderer Personen im gleichen Land (Eurostat 2020m).

Zielländer verbunden ist. Innerhalb der EU scheinen Rücküberweisungen beson-ders häufig für Konsumausgaben genutzt zu werden, kleinere Anteile entfallen auch auf Ausgaben für Bildung, Gesundheit und unternehmerische Aktivitäten.

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene können Rücküberweisungen zu Investitio-nen, Unternehmensgründungen und darüber zu wirtschaftlichem Wachstum so-wie zur Erhöhung des Lebensstandards beitragen. Im Vergleich zu anderen Welt-regionen ist der Einfluss der Transfers auf die wirtschaftliche Entwicklung der EU-Staaten jedoch begrenzt und macht höchstens 6,6 % (Kroatien) aus. Ob Rück-überweisungen soziale Ungleichheiten verschärfen, da nicht alle Bevölke-rungsteile gleichermaßen von dem Erhalt von Geldtransfers profitieren, kann für die EU-Staaten nicht abschließend geklärt werden.