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II. Auswirkungen von Abwanderung auf die (EU-)Herkunftsländer

3. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung

3.1. Auswirkungen auf Arbeitslosigkeit

Unionsbürger*innen aus Staaten, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, haben mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Möglichkeit, auf andere Arbeits-märkte innerhalb der EU auszuweichen. Eine Auswanderung stellt für arbeitslose Personen damit eine Option dar, Arbeit zu finden, und entlastet gleichzeitig die staatlichen Ausgaben für Arbeitslosen- und Sozialleistungen im Herkunftsland, sodass in diesem Zusammenhang oftmals von Emigration als einem ‚Sicherheits-ventil’ gesprochen wird. Insbesondere in der Wirtschafts- und Währungsunion der EU ist eine solche Abfederung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen von Bedeutung (Alcidi/Gros 2019: 26; Papademetriou 2015: 6). Wenn hingegen nicht vorrangig arbeitssuchende, sondern beschäftigte Personen auswandern, hängen die Auswirkungen von Emigration auf Arbeitslosigkeit auch davon ab, ob die frei werdenden Stellen mit bisher arbeitslosen Personen besetzt werden können:

Wenn sie aufgrund ähnlicher Kompetenzen die Tätigkeiten der Ausgewanderten ausüben können, ist eine sinkende Arbeitslosigkeit zu erwarten. Unterscheiden sich die beruflichen Profile der Ausgewanderten und der im Land verbleibenden Personen hingegen (stark) voneinander, ist keine Veränderung oder u. U. sogar ein Anstieg der Arbeitslosigkeit wahrscheinlich (Asch/Reichman, 1994, zit. n.

Škuflić/Vučković 2018: 1832).

Mehrere Studien beschäftigten sich mit dem Zusammenhang zwischen Abwan-derung und Arbeitslosigkeit und untersuchen zu diesem Zweck die tatsächliche Entwicklung der Arbeitslosenzahlen bzw. simulieren diese mittels Modellberech-nungen; insbesondere die (süd)östlichen EU-Staaten stehen hier im Fokus. Baas et al. (2010) untersuchen die Arbeitsmigration aus den Staaten der EU-Osterwei-terung (EU-8) in die alten Mitgliedstaaten (EU-15) im Zeitraum von 2004 bis

erheben, auf die Alters- oder Qualifikationsstruktur der auswandernden Bevölkerung geschlossen wer-den (bspw. in der Studie von Elsner 2012). Alternativ können in einigen Fällen auch Daten aus Haus-haltsbefragungen genutzt werden, wenn diese ausgewanderte Personen miterfassen (bspw. in der Studie von Dustmann et al. 2015).

2007.30 Mit Blick auf die neuen Mitgliedstaaten kommen sie zu dem Schluss, dass die Arbeitslosenquote kurzfristig um im Schnitt - 0,42 Prozentpunkte31 zurück-geht. Diese Entwicklung tritt insbesondere in Polen (- 0,59 %P), in der Slowakei (- 0,55 %P) und in Lettland (- 0,32 %P) ein, wohingegen die Werte für die anderen Staaten der EU-8 bei unter - 0,10 P% liegen (a. a. O.: 59). Langfristig sind hinge-gen nur sehr geringfügige Effekte auszumachen (- 0,02 %P).

Einem Zusammenhang zwischen zunehmender Abwanderung und einem Rück-gang der Arbeitslosigkeit gehen auch Pryymachenko et al. (2013) nach. Ihre Ana-lysen zu den Staaten der EU-Osterweiterung (EU-8) basieren auf einem Berech-nungsmodell, dem Wanderungszahlen für den Zeitraum von 2000 bis 2007 zu-grunde liegen,32 und bestätigen den angenommenen Zusammenhang. Die Au-tor*innen kommen zu dem Schluss, dass eine zehnprozentige Steigerung der Emigrationsrate zu einem mindestens 3,4-prozentigem Rückgang von Arbeitslo-sigkeit führt. In den untersuchten Staaten stellt jedoch neben Auswanderung v. a. das Wirtschaftswachstum einen wichtigen Grund für die Senkung der Ar-beitslosenzahlen dar (Pryymachenko et al. 2013: 2695f.).

Auch Brücker (2013) erwartet sowohl für südeuropäische33 als auch (süd)osteu-ropäische Staaten eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit infolge von

Abwande-30 Um die Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmärkte der alten und neuen Mitgliedstaaten zu erfassen, stellen Baas et al. (2010) zwei Szenarien gegenüber: Das erste Szenario nimmt eine unverän-derte Situation mit relativ begrenzter Migration an, gemäß derer sich die Zahl von in den EU-15-Staa-ten lebenden Staatsangehörigen aus der EU-8 von 870.000 Ende 2003 auf 1,07 Millionen Ende 2007 erhöht. Im zweiten Szenario werden die tatsächlichen Migrationsbewegungen infolge der EU-Oster-weiterung berücksichtigt, aufgrund derer Ende 2007 1,91 Millionen Personen aus den neuen Mitglied-staaten in der EU-15 lebten (a. a. O.: 53ff.).

31 In der Folge als „%P“ bezeichnet.

32 Der Datensatz von Brücker et al. (2009) errechnet die Emigrationszahlen für die EU-8 Staaten basie-rend auf den Zuwanderungszahlen in den alten Mitgliedstaaten (EU-15) im Zeitraum 2000 bis 2007. Da westeuropäische Staaten die primären Zielländer für Unionsbürger*innen aus der EU-8 darstellen, können diese Zahlen als realistische Schätzung dienen (Pryymachenko et al. 2013: 2694).

rung. Auf Grundlage von Daten des EU-Labour Force Survey simuliert er eine Ab-wanderung von 1 % der erwerbsfähigen Personen34 und berechnet für die süd-europäischen Staaten einen Rückgang der Arbeitslosigkeit kurzfristig um - 0,39 Prozentpunkte und langfristig um - 0,25 Prozentpunkte. Für die (süd)ost-europäischen Daten liegen diese Werte bei - 0,31 Prozentpunkten bzw.

- 0,19 Prozentpunkten (Brücker 2013: 14f.). Größere Effekte ergeben sich für Er-werbstätige mit niedrigem Bildungsniveau, während die Senkung der Arbeitslo-senquote für Personen mit mittleren und hohen Qualifikationen deutlich gerin-ger ausfällt (ebd.). Diese Berechnungen entsprechen folglich der These einer Ent-spannung der nationalen Arbeitsmärkte durch Abwanderung, wenngleich die Ef-fekte – vermutlich auch aufgrund der in absoluten Zahlen begrenzten innereu-ropäischen Migration – relativ gering sind.

Im Hinblick auf Migration aus den Staaten der EU-Osterweiterung in die alten Mitgliedstaaten im Zeitraum 2004-2009 kommen Fic et al. (2011) zu ähnlichen Ergebnissen, wobei sich Unterschiede zwischen den Ländern der EU-8 und EU-2 zeigen: In den Jahren bis 2009 sinkt die Arbeitslosenquote infolge von Abwande-rung leicht um durchschnittlich - 0,48 Prozentpunkte im Jahr 2007 und - 0,27 Prozentpunkte im Jahr 2009 (Polen 2009 und 2010 sogar -0,89 % P); langfristig35 ist dieser Effekt jedoch mit - 0,05 Prozentpunkten kaum spürbar. In Rumänien und Bulgarien sind hingegen stärkere kurzfristige Auswirkungen zu verzeichnen:

- 1,10 Prozentpunkte im Jahr 2007 (Rumänien - 1,32 %P), im Jahr 2009 - 0,54 Pro-zentpunkte, wenngleich sich auch hier langfristig lediglich verschwindende Ef-fekte zeigen (- 0,01 %P; a. a. O.: 35ff.).

Neben diesen ökonomischen Modellen, die die Effekte von Emigration simulie-ren, liegen auch Fallstudien zur tatsächlichen Entwicklung von Arbeitslosigkeit infolge von Abwanderung vor. Im Allgemeinen fielen in den neuen

EU-Mitglied-34 Inwiefern diese Annahme zutreffend ist, kann aufgrund fehlender exakter Emigrationszahlen zur Al-tersstruktur der Auswander*innen (s. Kontextinformationen) nicht genau beziffert werden. Allerdings haben bspw. gemäß offizieller, vermutlich stark unterschätzter Eurostat-Daten, knapp über 1 % der Bevölkerung aller Altersklassen Rumänien (2017) und Spanien (2013) verlassen (Eurostat 2020r).

35 Fic et al. (2011) beziehen sich damit auf den Zeitpunkt, zu dem sich Migrationsbewegungen stabili-siert haben und sich Arbeitsmärkte und Wirtschaften der EU-Staaten angepasst haben. Diese Entwick-lung wird für 2017 erwartet (a. a. O.: 38).

staaten zunehmende Emigration und sinkende Arbeitslosenzahlen zeitlich zu-sammen, sodass die Vermutung nahe liegt, dass Abwanderung dazu beigetragen hat. Allerdings ist die nach dem EU-Beitritt wachsende Wirtschaft vermutlich der entscheidende Faktor für steigende Beschäftigungszahlen (Piekutowska/Grabo-wiecki 2017: 253f.; Zaiceva 2014: 1ff.). Polen gehört zu den Ländern, die insbe-sondere seit dem EU-Beitritt im Jahr 2004 hohe absolute Emigrationszahlen zu verzeichnen haben. Wojtas/Białowąs‘ (2017) Studie betrachtet die Entwicklung des polnischen Arbeitsmarkts und stellt fest, dass die Arbeitslosenquote von 20 % im Jahr 2000 auf 9,5 % im Jahr 2008 gesunken ist, insbesondere in den Jah-ren nach Polens EU-Beitritt 2004. Dies fällt zwar mit dem Zeitraum zusammen, in dem besonders viele Menschen Polen verließen; allerdings ergibt eine vertie-fende Analyse, dass die günstige Entwicklung der polnischen Wirtschaft in dem untersuchten Zeitraum als Hauptgrund auszumachen ist (a. a. O.: 111). Parallel zur sinkenden Arbeitslosenquote zeigte sich in den 2000er-Jahren ein steigender Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Dieser stellt in einigen Bereichen, die im Zuge von Abwanderung besonders viele Fachkräfte verloren, für die Entwicklung von Unternehmen bspw. im Bausektor ein bedeutendes Hindernis dar (a. a. O.:

104).

Piekutowska und Grabowiecki (2017) stellen ebenfalls für Polen sowie für die baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland im Zeitraum 2005-2014, also in den zehn Jahren nach dem EU-Beitritt dieser Staaten, eine Absenkung der beitslosenquote fest. Allerdings geht auch in ihrer Studie der Rückgang der Ar-beitslosigkeit in allen Ländern – wenn auch zu unterschiedlichen Graden36 – mit einer steigenden Anzahl unbesetzter Stellen einher, die auf einen Mangel geeig-neter Arbeitskräfte in bestimmten Branchen hinweisen (a. a. O.: 258).

36 Die Stärke beider Entwicklungen variiert zwischen den untersuchten Staaten und steht in Zusam-menhang mit den unterschiedlichen Ausgangslagen und dem Umfang der Abwanderung: So lag die polnische Arbeitslosenquote mit etwa 20 % im Jahr 2003 deutlich über den etwa 10-12 % in den balti-schen Staaten. Entsprechend zeigt sich eine besonders starke Senkung auf unter 10% in Polen.

Dem-Zu anderen Ergebnissen kommen Škuflić und Vučković (2018), die neun süd- bzw. osteuropäische EU-Staaten37 anhand von OECD-Daten38 untersuchen, die im Zeitraum 2004-2015 eine negative Nettomigrationsrate verzeichneten. Ihren Ergebnissen zufolge sinkt die Arbeitslosigkeit in diesen Staaten nicht infolge stei-gender Emigration, sondern steigt im Gegenteil sogar leicht an. Erklärt wird die-ses Ergebnis damit, dass nicht etwa arbeitslose Personen auswandern, sondern Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen. Deren Kompetenzen sind auf dem Arbeitsmarkt nicht notwendigerweise einfach durch andere Arbeitskräfte zu ersetzen, sodass ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen dem Bedarf und Angebot entsteht. Darauf deutet auch die Entwicklung der Quote der freien Stel-len (s. Infobox II) in den untersuchten Staaten hin39: Höhere Emigrationszahlen gehen mit einer steigenden Quote freier Stellen einher. Diese Ergebnisse spie-geln einerseits den unerfüllten Bedarf an Arbeitskräften und andererseits die fehlende Passung zwischen den Kompetenzen der arbeitsuchenden Bevölkerung und den Bedarfen der Arbeitgeber*innen wider (a. a. O.: 1829ff.; siehe hierzu auch Kap. II.4.2).