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II. Auswirkungen von Abwanderung auf die (EU-)Herkunftsländer

3. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung

3.4. Auswirkungen auf Lohnentwicklungen

Mit Blick auf die Arbeitsmärkte der Herkunftsländer ist zudem von Interesse, in-wiefern sich im Zuge von Emigration die durchschnittlichen Löhne verändern.

Entsprechend eines einfachen Angebot-Nachfrage-Modells könnten sich hieraus positive Effekte ergeben, wenn sich – bei gleichbleibender Nachfrage – durch die Abwanderung von Personen im erwerbsfähigen Alter das Angebot an Arbeits-kräften verringert. Infolgedessen verbessert sich die Verhandlungsposition von Arbeitnehmer*innen, die folglich Ansprüche auf höhere Löhne geltend machen können (Elsner 2012: 24; Atoyan et al. 2016: 20). Da sich die Kompetenzen von Arbeitskräften unterscheiden und folglich v. a. die Abwanderung von Personen mit einem ähnlichen beruflichen Profil das Angebot beeinflusst, wird typischer-weise zwischen unterschiedlichen Qualifikationsniveaus differenziert.47

Einen solchen positiven Effekt auf die Durchschnittslöhne der im Land verblei-benden Arbeitnehmer*innen zeigt Elsner (2012) für Litauen im Zeitraum 2002 bis 2006. Untersucht wird die Lohnentwicklung anhand litauischer

Haushaltsda-ten und ZensusdaHaushaltsda-ten aus Großbritannien und Irland, da nach dem EU-Beitritt Li-tauens die Mehrheit der Migrant*innen – zwischen 2004 und 2007 etwa 9 % der litauischen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – in diese beiden Staaten aus-wanderte. Die Mehrheit der Emigrant*innen war im jüngeren Alter und mittel- bis hochqualifiziert. Auf Grundlage seines Berechnungsmodells kommt Elsner zu dem Schluss, dass das Ansteigen der Emigrationsrate um 1 % zu einer Steigerung der durchschnittlichen Löhne um 0,67 % führt (a. a. O.: 2, 5, 21)48. Mit Blick auf die Lohnentwicklung differenziert nach Qualifikationsniveau zeigt sich zudem, dass die Löhne innerhalb derjenigen Qualifikationsgruppen stärker anstiegen, aus denen besonders viele Menschen emigrierten (a. a. O.: 2).

Auch Baas et al. (2010) (s. o.) stellen mit Blick auf die Staaten der EU-Osterwei-terung (EU-8) Lohnsteigerungen fest: Im Durchschnitt liegen diese kurzfristig bei + 0,25 %, wobei insbesondere in Polen und der Slowakei (beide + 0,43 %) und Lettland (+ 0,31 %) größere Effekte auszumachen sind; langfristig zeigen sich al-lerdings keinerlei Auswirkungen auf die Durchschnittslöhne in diesen Staaten.

Bei einer Betrachtung der Lohnentwicklung differenziert nach Qualifikationsni-veau49 (niedrig, mittel, hoch) zeigt sich, dass die kurzfristige Steigerung für hoch-qualifizierte Arbeitnehmer*innen in den Herkunftsländern mit + 0,3 % etwas hö-her ausfällt (gegenüber + 0,23 % bei Personen mit niedrigen bzw. mittleren Qua-lifikationen) (a. a. O.: 59ff.).

Die Auswirkungen von Abwanderung auf Löhne in Polen zwischen 1998 und 2007 werden in einer Studie von Dustmann et al. (2015) auf Grundlage von Da-ten aus der Haushaltsbefragung des Polish Labour Force Survey untersucht, das die Emigration von Haushaltsmitgliedern sowie deren Alter und Bildungsniveau erfasst. Im untersuchten Zeitraum stieg die Emigrationsrate – d. h. die Anzahl

48 Statistisch signifikant ist dieser Effekt für Männer, jedoch nicht für Frauen, wenngleich 40 % der abwandernden Bevölkerung Frauen waren. Eine mögliche Erklärung besteht in der positiven Selbstse-lektion von Frauen in der untersuchten Gruppe: Wenn überproportional viele Frauen aus den oberen Einkommensklassen abwandern, sinken die Durchschnittslöhne, weil anteilig mehr Frauen der mittle-ren bzw. untemittle-ren Einkommensklassen im Land verbleiben (Elsner 2012: 3, 25). Darüber hinaus wäre denkbar, dass der EU-Beitritt Litauens und daraus entstehende Migrationsmöglichkeiten Männern als Hauptverdienern im Haushalt mehr Gewicht bei Gehaltsverhandlungen gegeben hat (a. a. O.: 25).

49 Die Qualifikationsniveaus werden auf Grundlage von Daten des EU-LFS zum Anforderungsniveau der von den Befragten ausgeübten Beschäftigung berechnet; aufgrund der Problematik einer Beschäfti-gung unter Qualifikationsniveau (s. Kap. III.4.3) werden nicht die Qualifikationen zugrunde gelegt (Baas et al. 2010: 53ff.).

der auswandernden Personen an der Gesamtbevölkerung – von 0,5 % auf 2,3 % bzw. in einigen Regionen sogar auf 5,6 % an (a. a. O.: 548). Im Allgemeinen zeich-nen sich für den untersuchten Zeitraum leichte Steigerungen der Durchschnitts-löhne für die in Polen verbleibenden Arbeitnehmer*innen ab: Hauptgewin-ner*innen von Abwanderung waren demnach Personen im mittleren Qualifika-tionsbereich, d. h. in der Qualifikationsgruppe, die die größten Abwanderungs-zahlen zu verzeichnen hatte. Auch für die höher qualifizierte Gruppe ergaben sich leichte Lohnsteigerungen, für niedrigqualifizierte polnische Arbeitneh-mer*innen hingegen leichte negative (wenn auch statistisch nicht bedeutsame) Effekte (a. a. O.: 524f., 549). Die Autoren der Studie bewerten die gleichbleiben-den Löhne geringqualifizierter Personen als plausibel: Da aus dieser Gruppe im untersuchten Zeitraum unterdurchschnittlich wenige Personen auswanderten, blieb das Angebot an Arbeitskräften in Polen weitgehend gleich. Zudem weisen sie darauf hin, dass die Berechnungen als niedrige Schätzungen zu verstehen sind, weil die Abwanderung aus einer Region durch negative Lohnentwicklungen vorangetrieben werden könnte und Abwanderungseffekte sich infolgedessen weiter verstärken (a. a. O.: 524, 549).

Docquier et al. (2011) untersuchen Arbeitsmarkteffekte in OECD-Staaten infolge von Zu- und Abwanderung. Im Gegensatz zu den o. g. Studien kommen sie zu dem Schluss, dass im Herkunftsland verbliebene einheimische Arbeitnehmer*in-nen durch Abwanderung Lohnabsenkungen erfahren. Die Auswirkungen von Emigration auf die durchschnittlichen Löhne werden auf Basis eines OECD-Mig-rationsdatensatzes (1990-2000) berechnet, indem verschiedene Migrationssze-narien simuliert werden: Gemäß eines mittleren Szenarios variieren die Lohnver-änderungen für verschiedene EU-Staaten zwischen knapp - 2,5 % (Zypern), - 1,7

% (Irland) bzw. - 1,5 % (Malta), - 0,7 % (Estland) und Werten zwischen 0 % und - 0,5 % für die übrigen untersuchten EU-Staaten50; diese Lohnabsenkungen be-urteilen die Autor*innen als relativ groß. Die Lohnentwicklung für geringqualifi-zierte Personen in den untersuchten Herkunftsländern wird durch Emigration zudem merklich negativer beeinflusst: Sie variiert zwischen etwa - 5,7 % (Zypern, Irland), - 2,8 % (Malta), ca. - 1,5 % (Portugal, Estland, Lettland, UK) und zwischen

0 % und - 0,5% für die übrigen analysierten EU-Staaten (bspw. Tschechien, Deutschland, Frankreich, Ungarn; a. a. O.: 19, 36). Die Autor*innen der Studie beurteilen diese Ergebnisse zu sinkenden Löhnen als überraschend. Eine mögli-che Erklärung besteht in der Abwanderung höher- und hochqualifizierter Perso-nen, durch die dem Arbeitsmarkt wichtiges ‚Humankapital‘ verloren geht: Ihr Fortgang wirkt sich negativ auf die Innovationsfähigkeit, technischen Fortschritt, aber auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität aus, da sich die Kompetenzen hoch- und niedrigqualifizierter Arbeitnehmer*innen ergänzen; infolgedessen kommt es zu Lohnabsenkungen (a. a. O.: 19, 23). Allerdings verweisen Docquier et al. darauf, dass Auswanderung selbst vermutlich nicht die Hauptursache sin-kender Löhne ist, sondern lediglich bestehende wirtschaftliche Schwierigkeiten verstärkt:

„While net emigration, especially of college educated individuals, may be a symptom of economic malaise and not its cause, it certainly directly contrib-utes to lower productivity and wages of the remaining workers.“ (Docquier et al. 2011: 23)