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2 Kindermedienforschung

2.2 Wirkmechanismen elektronischer Medien

2.2.1 Wirkungstheoretische Ansätze

Je jünger das Kind, umso mehr besteht die (negative) Wirkung von Medien darin, die Zeit und Aufmerksamkeit zu binden und diese von elementaren förderlichen Interaktionen abzuziehen.

Die Medienwirkung im Säuglingsalter, genauer gesagt bei Null- bis Einjährigen, wurde im Zuge der BLIKK-Studie mit einem Elternfragebogen zur Verhaltensregulation nach Papousek evaluiert und hatte zum Ziel, „Regulationsstörungen im Säuglingsalter aufzudecken“ (BLIKK 2018, 20).

Papousek (2004) versteht unter Regulationsstörungen eine nicht altersgemäße Schwierigkeit eines Säuglings, sein eigenes Verhalten in verschiedenen interaktiven Kontexten mit den Eltern zu regulieren. Regulationsstörungen werden häufig mit Belastungen oder Störungen der frühen Eltern-Kind-Beziehungen in Zusammenhang gebracht und äußern sich meist in exzessivem, unstillbarem Schreien des Säuglings. Im Elternfragebogen nach Papousek wurden die Eltern von Säuglingen gefragt, ob es während des Stillens, Fütterns oder Einschlafens Kontakt mit elektronischen Medien gibt. Die Fragen des Papousek-Elternfragebogens werden zwei Hauptgruppen - dem Baby und dem familiären Umfeld – zugeordnet und in zwei Abschnitte gegliedert. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit Schlaf- und Stillverhalten und Quengeln des Säuglings. Der zweite Abschnitt fokussiert auf Fragen zu Gefühlen, Ängsten und zum Umgang der Eltern mit ihrem Baby. In der Gruppe der Null- bis Einjährigen zeigt eine bivariate Analyse der Ergebnisse aus den Papousek-Bögen einen signifikanten Zusammenhang zwischen Mediennutzung während der Versorgung und Einschlafstörungen der Säuglinge.

„Die in der BLIKK-Studie als signifikanter Zusammenhang beschriebene Einschlafstörung der Säuglinge (zwei bis acht Monate) in Verbindung mit dem kompensatorischen Einsatz von Fernsehen/Musik beim Einschlafen kann in dem […] Kontext von Papousek betrachtet werden“(BLIKK 2018, 105).

Papousek (2004) beschreibt die Suche der Säuglinge nach einer vertrauensvollen und verlässlichen Bindungsperson als ein biologisch verankertes Grundbedürfnis. Folgt man ihren Ausführungen, so ist das Gelingen von Eltern-Kind-Beziehungen in hohem Maße beeinflusst von der elterlichen Feinfühligkeit. Das bedeutet die Fähigkeit von Eltern, prompt und in adäquater Weise auf die Signale eines Säuglings zu reagieren. Diese ersten non-verbalen Kommunikationserfahrungen stellen die Basis für eine stabile Bindungs- und Beziehungsebene zwischen Säugling und Bezugspersonen dar. Ob eine Fütter- oder Einschlafsituation vom Baby positiv besetzt wird, hängt eng mit der emotionalen Sensibilität der Bezugspersonen zusammen.

Eine dysfunktionale Belastung der frühen Eltern-Kind-Beziehung kann gemäß Papousek (2004) zu frühkindlichen Regulationsstörungen sowie Fütter-, Gedeih-, Schlafstörungen oder chronische Unruhe führen.

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„Diese Beobachtung verdeutlicht den Stellenwert von stabilen Eltern-Kind-Beziehungen in den ersten Lebensmonaten und zeigt, dass ein zu früher Umgang mit elektronischen Medien nicht zu empfehlen ist.“ (BLIKK 2018, 105)

Zusammenfassend sind die oben beschriebenen negativen Auswirkungen des Medienkontaktes im Säuglingsalter gemäß den Erkenntnissen aus den jüngsten Studien maßgeblich der reduzierten oder gar fehlenden Zuwendung und Interaktion zwischen Eltern und Baby zuzurechnen. Die durch den Medienkonsum abgezogene Aufmerksamkeit der Eltern kann zu nachteiligen Eltern-Kind-Beziehungen beitragen, was wiederum zu Regulationsstörungen beim Kind führen kann.

Nun soll der Blick auf die Medienwirkung der darauffolgenden Altersklasse der Zwei- bis Fünfjährigen gerichtet werden. In jüngsten Studien wird ein möglicher Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Sprachentwicklungsstörungen, Hyperaktivität oder Konzentrationsstörungen ermittelt und dargestellt. Die BLIKK-Studie (2018) ist eine Querschnittsstudie und kann somit keine Informationen zu Entwicklungsverläufen liefern, jedoch einen Zusammenhang zwischen Entwicklungsstörungen und der Nutzung elektronischer Medien identifizieren.

„Zum Beispiel kann eine Aussage getroffen werden, dass sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen einer täglichen Nutzung elektronischer Medien (Fernseher/Smartphone) und einer Sprachentwicklungsstörung belegen lässt. Aber inwieweit das Nutzungsverhalten elektronischer Medien die Sprachentwicklungsstörung oder eine vorliegende Sprachentwicklungsstörung das beschriebene Nutzungsverhalten bedingt, ist basierend auf dieser bivariaten Analyse heute nicht zu beantworten“ (BLIKK 2018, 29).

Zur Ermittlung eines möglichen Zusammenhanges zwischen Mediennutzung und Sprachentwicklungsstörungen wurden die Studienergebnisse, basierend auf den ärztlichen Angaben in den Früherkennungsuntersuchungsbögen nach Paed.Check, den relativen Häufigkeiten von Entwicklungsstörungen in der Sprache des BARMER-Arztreport 2012 gegenübergestellt. Der Vergleich der beiden Werte lässt die Aussage zu, dass beispielsweise die BLIKK-Studienstichprobe der Dreijährigen bei einem täglichen Medienkonsum von mehr als 30 Minuten einen 1,4-fach höheren Anteil von Sprachentwicklungsstörungen aufweist. Je älter die Probanden, desto höher werden bei gleicher Mindestnutzungszeit von 30 Minuten die Prozentangaben des BARMER-Arztreports überschritten. Dabei sind Sprachentwicklungsstörungen bei gleichzeitiger Smartphonenutzung auffällig größer als der Prozentsatz in Bezug auf die Fernsehnutzung. In der BLIKK-Studie wird als mögliches Erklärungsmodell für die Störung in der sprachlichen Entwicklung das Fehlen des klassischen Sprachlernmodells des kontinuierlichen „Hören, Verstehen, Nachsprechen, Verbessern, Lernen

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von Worten und Begrifflichkeiten und durch eine Vorbildfunktion z.B. der Eltern, Geschwister, Großeltern, Spielkameraden“ (BLIKK 2018, 111) herangezogen. Diskutiert werden kann auch noch die hohe visuelle und akustische Reizflut digitaler Medien und die darauf folgenden Ermüdungszustände, welche die Lernbereitschaft bremsen können. Weiter stellt sich die Frage, ob die erlebte Reizüberflutung eine positive Wahrnehmung von neuen, analogen Impulsen – wie zum Beispiel der interaktiven Kommunikation – reduzieren kann.

Zudem wird in der BLIKK-Studie der Zusammenhang zwischen Hyperaktivität sowie Konzentrationsstörungen und Medienkonsum erhoben. Dabei wurden die Ergebnisse des Mannheimer Fragebogens der BLIKK-Teilstichprobe der Zwei- bis Fünfjährigen mit einer im Jahr 2007 von Tröster et al. veröffentlichten Studie verglichen, in der Erzieher*innen und Eltern das Auftreten von Entwicklungsstörungen von 732 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren mittels Beurteilungsbogen einstuften. Für den Vergleich mit den BLIKK-Daten wurden die Angaben der Eltern aus dieser Studie herangezogen, zumal die Erzieher*innen das Auftreten der Störungen durchwegs höher einstuften als die Erziehungsberechtigten. Eine vergleichende Datenanalyse zeigt, dass die Häufigkeit der beschriebenen Entwicklungsstörungen bei einer Mediennutzung von über 30 Minuten im Alterscluster der Drei- bis Fünfjährigen durchschnittlich doppelt so hoch ist wie in den Ergebnissen von Tröster et al. Buben zeigen Entwicklungsstörungen im Bereich Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen häufiger als Mädchen. Werden die beiden Entwicklungsauffälligkeiten getrennt voneinander betrachtet, so kann sowohl ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Hyperaktivität bei zwei- bis zehnjährigen Kindern als auch ein Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Konzentrationsstörungen in der Schule abgebildet werden. Ob die Kinder aufgrund der Mediennutzung zu Hyperaktivität neigen und Konzentrationsstörungen zeigen oder ob aufgrund von Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen vermehrt Medien konsumiert werden, kann anhand der BLIKK-Ergebnisse nicht beantwortet werden.

Bestätigt wurde der Zusammenhang zwischen Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen auch in der Längsschnittstudie LIFE Child (2018), die von Wissenschaftlern der Universität Leipzig durchgeführt wurde. LIFE Child ist ein Projekt des Forschungszentrums für Zivilisationserkrankungen der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Im Rahmen der Erhebung wurden 527 Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren im Zeitraum 2011 bis 2017 untersucht. Für die Datenanalyse wurden nur jene Teilnehmer herangezogen, die einen Ersttermin und einen Folgetermin ungefähr 12 Monate danach wahrgenommen hatten. Dabei füllten Eltern im Rahmen der LIFE Child-Studie Fragebögen zum Konsum elektronischer Medien ihrer Kinder aus. Da für die Auswertung die Resultate der

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Fragebögen aus zwei Erhebungszeitpunkten im zeitlichen Abstand von einem Jahr herangezogen wurden, lassen sich Entwicklungsverläufe darstellen und ableiten. Die Studie ergab, dass Kleinkinder, die sich täglich mit dem Smartphone oder Computer beschäftigen, innerhalb eines Jahres mehr Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität oder Unaufmerksamkeit aufweisen als Kinder ohne elektronischen Medienkontakt. Weiters weist die Studienleiterin Dr. Poulain auf die emotionalen Probleme hin, von denen Kinder ohne Medienkonsum vergleichsweise weniger betroffen sind (Poulain et al. 2018, 9). Erwähnt soll auch das Ergebnis werden, dass Kinder, die zum ersten Erhebungszeitpunkt Probleme mit Gleichaltrigen anführten, innerhalb eines Jahres einen Anstieg in der Nutzungszeit von elektronischen Medien verzeichneten. Ein weiterer Aspekt der LIFE Child-Studie ist die Berücksichtigung des sozioökonomischen Status. Die Analyse der Studienteilnehmer ergab, je höher der sozioökonomische Status einer Familie, desto geringer die kindliche Mediennutzung. Poulain weist weiter darauf hin, dass künftige Studien über Förderprogramme zum altersadäquaten Medienumgang besonders für sozial benachteiligte Familien hilfreich wären (Poulain et al. 2018, 10). Was die frühe Nutzung des Gerätes Smartphone betrifft, so plädieren auch die Autoren der BLIKK-Studie für künftige Untersuchungen zu den Auswirkungen auf das kindliche Verhalten und die Entwicklung, zumal die Verbreitung von Smartphones rasant voranschreitet.

Die alarmierenden Ergebnisse zur Medienwirkung auf Kinder ließen von Gesundheitsbehörden9 und Familienberatungen10 Empfehlungen zu altersabhängigen Nutzungszeiten folgen. Die maximal empfohlene Nutzungszeit von elektronischen Medien für Kinder im Alterscluster der Drei- bis Sechsjährigen liegt bei weniger als 30 Minuten, die der Null- bis Dreijährigen bei „gar nicht“. Die medial kolportierten Empfehlungen und Warnungen bezüglich der Gefahren des frühen Medienkonsums sind weit verbreitet. Lange (2014) beschäftigt sich mit der Notwendigkeit der Verbindung von praxis- und wirkungstheoretischen Ansätzen und weist darauf hin, dass die Begrenzung des kindlichen Medienhandelns auf eine bestimmte Tagesration aufgrund der Alltagsbedingungen eine sehr schwierige Herausforderung darstellt.

„‘Lustvoller’ und sozialitätsbezogener Mediengebrauch in Familien steht also nicht nur aufgrund der schon lange grassierenden Kulturkritik unter einem moralischen Vorbehalt, sondern dieser Vorbehalt wird aktuell noch durch die Tendenz einer forcierten Verantwortungszuschreibung an Eltern befeuert“ (Oelkers/Lange 2012 zit.n. Lange 2014, 491)

9 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2017)

10 No.ZOFF, Jugend- und Familienberatung Schweiz (2015)

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Nach der Darlegung der wirkungstheoretischen Ansätze des kindlichen Medienkonsums in obigem Kapitel, soll nun – im Anschluss an obiges Zitat – ein empirischer Blick auf die praxistheoretischen Ansätze des medialen Familienalltages und die daraus resultierenden Erkenntnisse und Fragestellungen gerichtet werden. Dieser stützt sich vorrangig auf die Abhandlungen von Lange (2014), Schulz (2014) sowie diverse Beiträge aus dem Werk

„Medienkinder von Geburt an“ (Theunert 2007).