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2 Kindermedienforschung

2.2 Wirkmechanismen elektronischer Medien

2.2.2 Praxistheoretische Ansätze

Der Soziologe Andreas Lange beschreibt den gedanklichen Zusammenschluss von kindlichem Medienhandeln und dessen mögliche Auswirkungen unter Berücksichtigung der Bedingungen im familiären Umfeld als eine „schwierige und reizvolle Aufgabe zugleich“ (Lange 2014, 483).

Schwierig empfindet er die – parallel zur Wissenschaft – stattfindende öffentliche, medial angefeuerte Kritik über kindliche Mediennutzung sowie das Fehlen der koproduktiven Zusammenarbeit der sozialwissenschaftlichen Disziplinen für einen differenzierten Überblick zum Thema Kinder, Familie und Medien. Lange äußert den Vorwurf an die Familienforschung, zu wenig Interesse am realen Familienalltag zu zeigen und daher das Thema Medien zugunsten von Populärthemen zu vernachlässigen. Das Reizvolle an der wissenschaftlichen Betrachtung familiären Medienhandelns sieht er in den drastischen Veränderungen, die in den Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern in den „familialen Binnenräumen“ (ebd.) vor sich gehen und seiner Meinung nach auch das mediale Handeln betreffen werden. Folgt man den Ausführungen Langes (2014) oder Schulz′ (2014), so wird die Sinnhaftigkeit nahegelegt, mediale Handlungen von Eltern und/oder Kindern als einen integralen Bestandteil des Familienalltags zu erkennen.

„In der Straßenbahn, vor Schaufenstern, in der Einkaufspassage und auf Spielplätzen: es klingelt und piept, es werden Melodien vorgespielt und Bilder herumgezeigt, neue Spiele ausprobiert und Hintergrundbilder verglichen. Das Mobiltelefon ist längst nicht mehr nur ein Jugendmedium, sondern spielt bereits für die Jüngsten in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle“ (Schulz 2014, 419)

Das Prinzip der neueren, praxistheoretisch inspirierten Familienforschung soll die sonst getrennt voneinander beforschten Gebiete wie z.B. Gesundheit, Medien, Pflege, Kinder etc. vereinen und den Fokus auf die Alltagspraktiken der Familien richten. Das charakteristische Zutun der verschiedenen Familienmitglieder soll im Zentrum des Forschungsinteresses sein und die Fragen, wer, was, wann, wo, warum, mit wem etc. unter die empirische Lupe nehmen. Elemente der Entgrenzung der Arbeitswelt einerseits und Familie andererseits verändern die

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praxistheoretische Auffassung des Systems Familie dahingehend, dass Familie nicht (mehr) etwas ist, was man hat, sondern was man tun muss. Aufgrund dieser Perspektivenerweiterung in mehrfacher Hinsicht ist in der neueren Familienforschung von „Doing Family“ die Rede. Familie ist demnach eine „forcierte aktive alltägliche und biografische Herstellungsleistung aller Beteiligten“ (Jurczyk et al. 2009 zit. n. Lange 2014, 484). Um nun den Bogen zurück zum familiären Medienhandeln zu spannen, so bestimmen – vor dem Hintergrund des „Doing Family“ in einer entgrenzten Arbeits- und Familienkonstellation – technische Ausstattungen wie Auto, Mikrowelle, und auch die Handys der Familienmitglieder, das Unternehmen Familie und dessen Alltagsmanagement.

Abgesehen von der mediengeleiteten Alltagsorganisation sind die Praktiken von Medien in den Familien in vielfältiger Weise sozialisiert. Beginnt man den Gedanken mit dem Begriff der Sozialisation, so ist dieser zu definieren „als eine soziale Praxis, die sich durch das Zusammenleben von Menschen etabliert, wobei Erfahrungen, Fertigkeiten und Wissen zwischen Menschen ausgetauscht und kultiviert werden“ (Lange 2014, 485). Daraus abgeleitet kann die Aufgabe einer Theorie der Sozialisation zum Untersuchungsgegenstand die Fragestellung haben,

„wie sich in und durch sozialisatorische Interaktionen eine gemeinsame soziale Praxis zwischen den Akteuren etabliert, die dann wieder auf die Akteure einwirkt, indem sie deren Erfahrungen, Handlungsmöglichkeiten und dann auch Persönlichkeitsmuster bestimmt“ (ebd.).

Medienwirkungen lassen sich ̶- so Lange weiter ̶-

„im weitesten Sinne erfassen als a) durch wiederholte gemeinsame soziale Praktiken in der Familie oder anderen Gruppen hervorgerufene und/oder b) durch wiederholte alltägliche Praktiken der Subjektivierung zustande gekommene Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns der Subjekte“ (Lange 2014, 486).

Das Ausmaß der medialen Familienpraktiken kann dabei als Vorhersagewert für die Wirkungskraft der damit einhergehenden Förderung im positiven als auch im negativen Sinne angesehen werden.

Die heutigen Rahmenbedingungen, in denen Familien leben und ihren Alltag organisieren, erschweren in dreierlei Hinsicht die Schaffung von gemeinsamen, familiären Qualitätszeiten. Zum Ersten macht die Flexibilisierung und Atypisierung der Arbeitszeiten die Verknüpfung mit dem Familienleben aufgrund der Absenz von äußeren und auch inneren Grenzen komplex. Durch die Flexibilisierung von Arbeit dringen viele Tätigkeiten via Smartphone oder Laptop direkt ins Familienleben ein. Weiters spricht Lange von einer zunehmenden „Bildungspanik“ (Lange 2014, 489) in den Familien. Damit ist gemeint, dass Familien – sowohl auf emotionaler Ebene als auch

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auf Handlungsebene – immer mehr unter Druck geraten, der steigenden Bedeutung von Bildung gerecht zu werden, um Ansehen in der Gesellschaft zu erreichen. Lange bezeichnet das Arbeits- und Bildungssystem als „immer übergriffiger werdend“ (Lange 2014, 490), was infolge die Klage der Eltern über Zeitnot für das Familienleben in vielen Studien bestätigt.

„Zeitnot ist also kein ‘Luxusphänomen’, sondern hat mit der Wahrnehmung dessen zu tun, was als geboten für das eigene und das Fortkommen der Kinder angesehen wird.

Dieser Zusammenhang ist zu bedenken, wenn die Rolle von Medien und Kommunikationstechnologien in Familien reflektiert wird“ (Lange 2014, 490).

Als Drittes weist Lange auf die logistische Herausforderung hin, die die Herstellung von Qualitätszeiten für multilokale oder transnationale Familien mit sich bringt. Sind die Familienmitglieder auf mehrere Wohnorte oder Länder verteilt, bedarf es komplexer Betreuungsstrukturen und -organisationen, die es noch viel mehr erschweren, auf familiale Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Für Familien dieser Konstellation gewinnen die funktionalen Aspekte des Smartphones immer mehr an Bedeutung. Die Alltagsorganisation sowie -synchronisation von Kindern, die zwischen den Wohnorten der beiden Elternteile pendeln, ist in hohen Anteilen mediengestützt und hat zum Zweck, diese zu simplifizieren. Folgt man den Schilderungen Schulz′, so spielt das Handy auch in beziehungsrelevanten Praktiken von multilokalen Familien eine Rolle. Es geht dabei nicht nur um funktionale Kommunikationsinhalte, sondern auch um die emotionale Festigung von Beziehungen zwischen den gerade absenten Familienmitgliedern.

„Dass Eltern aufgrund beruflicher Tätigkeiten zeitweise nicht zu Hause sein können, ist ebenso ein Kennzeichen heutiger Familien wie die Tatsache, dass Kinder häufig bei nur einem Elternteil aufwachsen. In einer solchen Situation erfüllt das Mobiltelefon eine emotional stabilisierende und zugleich spannungsreduzierende Funktion. […] Sie vermitteln Eltern wie Kindern das Gefühl, trotz räumlicher Distanz miteinander verbunden zu sein und reduzieren innerfamiliäre Unsicherheiten und Sorgen“ (Schulz 2014, 421)

Oben beschrieben ist nur ein Auszug der vielfältigen Anforderungen von Beruf, Bildung und Familie, die neue Herausforderungen an die Elternschaft mit sich bringen. Eltern werden verstärkt in die Verantwortung gezogen und stehen vor der alltäglichen Aufgabe, die Herausforderungen aus allen Ebenen auszubalancieren. Kindliches Medienhandeln sollte demnach von den Eltern – nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Präsenz – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie nicht aus dem Auge verloren werden. Die Frage nach den Herausforderungen an die Elternschaft führt mich zu meinem nächsten Kapitel, in dem ich die wissenschaftliche Diskussion zum Medienhandeln im Familienalltag darstellen möchte. Beginnend mit einem Blick auf

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kindliches Medienhandeln aus entwicklungspsychologischer Sicht soll in weiterer Folge die Einschätzung und der Umgang der Eltern mit kindlicher Mediennutzung geschildert werden.

2.3 Medienhandeln im Kontext der Entwicklungspsychologie und