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Die Bedeutung des Mentalisierens und Deutens in der Elternarbeit

3 Beziehungsförderung in der Mobilen Frühförderung und Familienbegleitung

3.4 Die Bedeutung des Mentalisierens und Deutens in der Elternarbeit

Folgt man den Ausführungen Datlers, so ist es eine zentrale Aufgabe von Frühförderinnen, „im

‚Hier und Jetzt‘ des heilpädagogischen Praxisvollzugs angemessen zu verstehen, was in der

‚inneren Welt‘ der Eltern vor sich geht“ (Datler 2009, 30). Diese Fähigkeit eines differenzierten Nachdenkens über mögliche innerpsychische Prozesse, die einem Verhaltensausdruck zugrunde liegen können, ist ein Aspekt des umfassenden psychoanalytischen Konzeptes – begründet durch den*die englischen Psychoanalytiker*in Fonagy, Target und deren Forscher*innenteam – welches unter dem Begriff „Mentalisierungsthorie“(Fonagy et al. 2004) beschrieben wird. Für vorliegende Master Thesis soll auf oben skizzierten Ausschnitt dieser umfangreichen Theorie fokussiert werden, da eine detaillierte Beschäftigung mit Fonagys‘ Mentalisierungskonzept den

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Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Im folgenden Abschnitt soll zu Beginn die grundlegende Idee des Mentalisierungskonzeptes abgebildet werden, um im Anschluss die für das Arbeitsfeld der Frühförderung im Allgemeinen – und für die Konfrontation mit Medienkonsum in der Frühförderung im Speziellen – als bedeutsam erachteten Aspekte abzuleiten.

Aufbauend auf die entwicklungspsychologische Forschung der Theory of Mind, deren Gegenstand die Frage nach der Fähigkeit eines Säuglings, sich selbst und andere Personen als Wesen mit mentalen Zuständen wahrzunehmen, wird diese von Fonagy und seinem Forscher*innenteam um kognitionspsychologische Überlegungen erweitert und so das Mentalisierungskonzept begründet. Der kognitive Aspekt der Mentalisierung ist die Interpretation von menschlichem Verhalten durch Vermutungen, was in ihren Gedanken vor sich gehen mag und dies in Verbindung mit dem eigenen Erleben reflektierend zu erfassen. Gemäß Dornes wird unter Mentalisierung

„nicht nur die Fähigkeit verstanden, hinter Verhalten seelische Zustände zu vermuten, sondern auch die weiter gehende Fähigkeit, die vermuteten mentalen Zustände selbst wieder zum Gegenstand des (Nach-)Denkens zu machen“ (Dornes 2004, 176). Demnach wird Verhaltensäußerungen ein mentaler Zustand des Wünschens oder Fühlens als Ursache zugrunde gelegt und durch die Zuschreibung von seelischen Zuständen erklärt. Allen et al. (2011) verdeutlichen die Praxis des Mentalisierens mit folgenden Worten:

„Eine Kurzbeschreibung für ‚mentalisieren‘ lautet: sich Gedanken und Gefühle vergegenwärtigen. Das Mentalisieren verlangt Aufmerksamkeit und mentale Arbeit; es ist eine Form der Achtsamkeit, weil es Rücksicht darauf nimmt, was andere denken und fühlen und was man selbst denkt und fühlt. Insofern hat das Mentalisieren Ähnlichkeit mit der Empathie. Doch es geht über Empathie hinaus, weil es auch bedeutet, sich über den eigenen psychischen Zustand Klarheit zu verschaffen – sich in sich selbst einzufühlen“

(Allen et al. 2011, 392).

Die Mentalisierungsfähigkeit eines Menschen entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist in ihrer Ausprägung und Empfindsamkeit abhängig von den Bindungs- und Beziehungserfahrungen der primären Bezugspersonen. Aufbauend auf die vom britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby (1975) entwickelte Bindungstheorie, welche dem Säugling ein angeborenes Bedürfnis nach einer engen und gefühlsintensiven Mutter-Kind-Beziehung zuschreibt, entwickelt Fonagy durch die Verknüpfung von Bindungstheorie und Psychoanalyse das Konzept des Mentalisierens (Allen et al. 2011, 33). Säuglinge nehmen ihre eigenen Gefühle und Emotionen erst durch spiegelnde Reaktionen der primären Bezugsperson auf emotionale Ausdrücke bewusst wahr. Durch inadäquate Spiegelungen aufgrund von Stress oder psychischen Belastungen kann der Säugling verzerrte Repräsentationen seiner eigenen

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Emotionen entwickeln. Es besteht demnach ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen der Mentalisierungsfähigkeit der Eltern und Bindungssicherheit der Kinder. Einschränkungen oder ein Fehlen der Mentalisierungskompetenz können demnach unter anderem in Bindungsstörungen, traumatisierenden Kindheitserfahrungen oder Entwicklungsstörungen wie beispielsweise Autismus gründen. Dem zufolge kann im Falle einer gelungenen Entwicklung bei erwachsenen Menschen von einem gewissen Maß an Mentalisierungsfähigkeit ausgegangen werden, wobei diese je nach individueller Lebenswirklichkeit – ohne Vorliegen einer Pathologie - unterschiedlich ausgeprägt oder von innerpsychischen Widerständen und Blockaden beeinträchtigt sein kann.

Allen spricht von zwei Formen des Mentalisierens – dem expliziten und dem impliziten Mentalisieren (Allen 2006, 33f. zit.n. Funder et al. 2013). Explizites Mentalisieren beinhaltet sowohl das Nachdenken, als auch das Sprechen über eigene und andere mentale Zustände.

„Diese Form des Mentalisierens setzt einerseits die Fähigkeit voraus, eigene Verhaltensweisen und die anderer mit mentalen Zuständen in Verbindung bringen zu können. Andererseits bezeichnet das explizite Mentalisieren aber auch die Kompetenz, dies zu versprachlichen, also verbalisierend in Worte fassen und diese zum Ausdruck bringen zu können“ (Funder et al. 2013, 227).

Im Gegensatz zur bewussten und gezielten Praxis des expliziten Mentalisierens geschieht implizites Mentalisieren beiläufig und unbewusst und definiert sich über ein subtiles Gefühl über sich selbst oder andere Personen und der Reaktion darauf, ohne dass dieses in Worte gefasst wird.

Bezogen auf das Arbeitsfeld der Mobilen Frühförderung und Familienbegleitung stellen Mentalisierungsfähigkeiten demnach für Frühförderinnen ein Fundament dar, um die Familien zu verstehen, ihr Verhalten zu deuten und sich auf die individuelle soziale Umgebung einzulassen sowie sich in den Beziehungen und Interaktionen in den Familien orientieren und regulieren zu können. Explizites Mentalisieren von Frühförderinnen – also bewusst vollzogenes Nachdenken und Sprechen über Vorstellungen von Verhalten als Ausdruck innerpsychischer Prozesse – ist gemäß den Ausführungen Datlers (2009) unverzichtbar für das Zustandekommen von Arbeitsbündnissen und ermöglicht den Frühförderinnen in den Familien Interventionen wie Deutungen oder „deutungsähnliche Äußerungen“ (Datler 2009, 34). Deutungen als ein Bestandteil der Psychoanalyse sind auftauchende Ideen oder Bilder, die während Erzählungen von Eltern bei der Frühförderin auftauchen und in einem als passend empfundenen Moment vorsichtig in Worte gefasst werden, mit dem Ziel, eine Atmosphäre des Verstehens und Verstandenwerdens zu schaffen. Ob sich eine Deutung der Frühförderin stimmig oder bizarr anfühlt, entscheiden die Eltern.

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Besonders im Anbahnungsprozess der Beziehung hat die Mentalisierungskompetenz der Frühförderin große Bedeutung für das Zustandekommen einer authentischen und positiv besetzten Arbeitsbeziehung. Frühförderinnen sind in den Begegnungen mit Eltern behinderter Kinder oft mit irritierenden oder abweisenden Verhaltensweisen konfrontiert, was sie vor die Aufgabe stellt, „verstehend zu erfassen“ (Datler 2009, 31), ob Eltern ihren realen Gefühlszuständen Ausdruck verleihen, oder ob dies als Ausdruck eines Strebens nach Selbstschutz vor der Bewusstwerdung von belastenden Gefühlen oder Gedanken zu verstehen ist. Salzberger-Wittenberg (1997) beschreibt den Wesenszug des Beginnens als ein Schwanken zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Erwartungsfreude und Bangen. Für diese Angst und Sorge am Beginn von etwas Neuem muss laut Salzberger-Wittenberg ein Ventil in Form von Worten oder Handlungen gefunden werden. „Wenn wir dazu keine Gelegenheit haben, ziehen wir uns zurück oder finden andere Möglichkeiten, vor dieser überwältigenden Erfahrung zu flüchten“

(Salzberger-Wittenberg et al. 1997, 22). Für vorliegende Master Thesis ist von Interesse, ob der elterliche Griff zum Smartphone von Frühförderinnen als eine Fluchtmöglichkeit vor der neuen Situation der Frühförderung und der damit einhergehenden Mischung aus Hoffnungen und bangen Erwartungen gesehen wird. Die hier durchgeführte Untersuchung (siehe Kapitel 4) soll dieser Frage nachgehen und die diesbezügliche Sicht der Frühförderinnen erfragt werden.

3.5 Störfaktoren in der Beziehung zwischen Frühförderinnen und