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Kindliches Medienhandeln aus entwicklungspsychologischer Sicht

2 Kindermedienforschung

2.3 Medienhandeln im Kontext der Entwicklungspsychologie und Elternschaft

2.3.1 Kindliches Medienhandeln aus entwicklungspsychologischer Sicht

Medien in adäquater Weise rezipieren zu können. Es ist dies zum Ersten die Entwicklung einer kommunikativen Kompetenz, konkret bedeutet dies die Fähigkeit zur symbolischen Interaktion und Kommunikation. Als zweite Voraussetzung nennt Charlton die Entwicklung der kognitiven Kompetenz. Damit ist gemeint, dass Kinder in der Lage sein sollen, den Sinn des Medienangebotes zu verstehen. Das Kind sollte sich demnach in die Medienfiguren hineinversetzen können und Erzählungen mit mehreren zeitlichen, örtlichen und personellen Handlungssträngen in seine Erfahrungswelt einordnen und rekonstruieren können. Drittens betont Charlton (2007) die Entwicklung der emotionalen Kompetenz als eine Voraussetzung für kompetente Mediennutzung, und zwar meint er damit die Fähigkeit des Kindes, „interessante Themen auswählen und bedrohliche Themen abwehren zu können“ (Charlton 2007, 25). Auf diese drei Kompetenzen wird nun näher eingegangen und deren Bedeutung für das Medienhandeln anhand von beispielhaften Situationen anschaulich gemacht.

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Die angeborene kommunikative Kompetenz eines neugeborenen Säuglings äußert sich in Weinen, Schreien, Suchbewegungen mit Kopf und Saugbewegungen mit dem Mund. Dieser kommunikative Ausdruck bahnt ihm den ersten Weg zur Brustwarze.

„Dieser hier beschriebene Stillvorgang lässt sich also als so etwas wie eine angeborene Fähigkeit zur gelingenden Interaktion ansehen. Es besteht eine Einigungssituation bestehend aus Nachfrage, Angebot und Akzeptanz des Angebots“ (Charlton 2007, 26)

Später folgen – je nach Entwicklungstempo – kommunikative Strukturen in Form des Erkennens von Gesichtern und Augen; die Aufmerksamkeit und Blickrichtung folgen bewegten Objekten.

Noch später folgen Säuglinge der Aufmerksamkeit des Interaktionspartners, das bedeutet, die Kinder nehmen die Richtungsänderung wahr und passen ihre eigene Blickrichtung der des Interaktionspartners an. Sie erfinden spezielle Laute, um spezielle Gefühle auszudrücken.

Charlton veranschaulicht dies mit den Untersuchungen des Sprachforschers Halliday (Halliday 1975 zit.n. Charlton 2007), der an einem neunmonatigen Jungen bereits alle kommunikativen Funktionen des Sprachsystems von Erwachsenen beobachten konnte. So waren differenzierte Laute für den Ausdruck seiner Gefühle (zum Beispiel Zufriedenheit als personale Funktion), zur Definition von Beziehungsformen (zum Beispiel Abschied als interaktionale Funktion), um sich vom Gegenüber eine bestimmte Aktion zu wünschen (zum Beispiel näher zu kommen als regulative Funktion) oder um etwas zu bekommen (zum Beispiel einen Gegenstand als instrumentelle Funktion) wahrzunehmen. Kommunikation, wie sie hier beschrieben ist, kann nur mit einem dem Kind aufmerksam zugewandten Gegenüber stattfinden, das die sinnliche Ordnung und aktuelle Wirklichkeit des Kindes kennt und sich darauf einzustellen vermag.

„Die medienvermittelte Kommunikation ist im Gegensatz zur Kommunikation von Angesicht zu Angesicht (zwischen Person, die Raum und Zeit miteinander teilen) ganz wesentlich auf allgemeinverständliche, also konventionelle Symbole angewiesen, während die hier beschriebene Kommunikation nur ‘klappt’, wenn die Adressaten der kindlichen Äußerungen anwesend und mit dem kind-gemachten Symbolvorrat vertraut sind.“ (Charlton 2007, 26f)

Die Beschäftigung mit den kognitiven Voraussetzungen für einen sinnverstehenden Medienkonsum stellt ein komplexes Unterfangen dar und soll an dieser Stelle mit einem Blick auf die frühkindlichen Verarbeitungs- und Denkwerkzeuge beginnen. Ein neugeborener Säugling macht seine ersten Erfahrungen mit der Welt auf körperlicher Ebene durch Bewegung und Handeln mit allen dafür nötigen Sinnen, was durch sein individuelles Lebensumfeld angeregt wird. Dies bedeutet, dass die Sinnes- und Körpererfahrungen des Kindes die neuronalen Vernetzungen seines Gehirnes prägen. Körperliche Erfahrungen lassen Kinder Zusammenhänge

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durch konkretes Denken erfassen und bilden die Basis für die Strukturierung und Ordnung von kindlichem Wissen. Schäfer veranschaulicht diesen Gedanken, indem er formuliert:

„Eigenschaften von Materie – wie Masse, Gewicht, Trägheit und Beschleunigung, Kraft oder Gleichgewicht – könnten ohne es [den Sinnes- und Körpererfahrungen; Anm. d.

Verf.] nicht verstanden werden, ebenso wenig wie die von Raum und Zeit“ (Schäfer 2007, 61).

Direkt verbunden mit dem Körperdenken ist eine differenzierte Einordnung der Nah- und Fernsinne, welche – ident mit den körperlichen Erfahrungen – von der individuell gegebenen Lebenswelt abhängig sind und auf diese abgestimmt werden. Sinneskompetenzen wie der Tastsinn, Empfindungen für Wärme und Kälte, Feuchtigkeit, Gleichgewicht, innere Befindlichkeiten, Geruchsinn, Geschmack oder auch Sehen und Hören werden oftmals als gegeben angesehen, die Differenzierung ist jedoch je nach individuellem Kulturbereich unterschiedlich. Die Verfeinerung der Sinnesfähigkeiten entwickelt sich demnach entlang der individuellen soziokulturellen Lebensbedingungen. Folgt man den Schilderungen Schäfers (2007), so sind in unserem Kulturbereich körpersinnliche Erfahrungen eher weniger ausgebildet, während visuelle Erfahrungen – zu denen auch Medienerfahrungen gehören – umfassend gefördert werden.

Körper- und Sinneserfahrungen werden nicht zusammenhanglos gemacht, sondern werden immer in Zusammenhang mit Alltagserfahrungen gemacht. Um ein Geschehen nachvollziehen und einordnen zu können, prägen sich diese in Form von Bildern und Abfolgen in die Erinnerung ein und verbinden diese Erinnerungen mit neuen Alltagserlebnissen. Schäfer spricht in diesem Zusammenhang von „szenischen Ereignisrepräsentationen“ (Schäfer 2007, 62) und veranschaulicht dies mit folgendem Beispiel:

„Gefüttert werden ist ein angenehmes, befriedigendes Ereignis, in dem sich meine Mama mir zuwendet, freundlich mit mir gurrt und mich warm und sicher hält. […] …, damit das Kind sich im Austausch mit der Mutter orientieren und zurecht finden kann, muss es herausbekommen, was Gefüttert-Werden im Zusammenspiel mit der Mutter und ihm bedeutet“ (Schäfer 2007, 62)

Im Laufe der ersten Lebensjahre entwickeln sich die kindlichen Sinneserfahrungen und Vorstellungen in dem Ausmaß, wie es für den Kontakt und Austausch mit dem soziokulturellen Lebensumfeld notwendig ist. Die durch Bewegung erschlossene Welt, welche in der kindlichen Repräsentanz sinnlich und emotional erfasst und geordnet ist, eröffnet in weiterer Folge die Fähigkeit, sich in die Welt anderer hineinzuversetzen und das eigene Wissen von dem eines anderen zu unterscheiden. Laut Schäfer müssen „handelnd-sinnliche Wahrnehmungen geordnet,

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differenziert und gedacht werden, damit sie Erfahrungen aus erster Hand werden“ (Schäfer 2007, 67). Um den Bogen zurück zum kindlichen Medienkonsum zurück zu spannen, vertritt Schäfer die Annahme, dass medial vermittelte Informationen immer einen komparativen Zusammenhang mit Handlungs- oder Sinneserfahrungen haben, mit deren Hilfe die Bedeutung eingeschätzt werden kann. Um den Sinn eines Medienangebotes erfassen zu können, bedarf es gemäß Charlton (2007, 29ff.) zum Ersten der „Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen“, zum Zweiten der

„Fähigkeit, Narrationen verstehen zu können“. Damit ist gemeint, dass es dem Kind möglich sein muss, „ein konkretes Verhalten einer Person, auf dem Hintergrund der Situation und der jeweils gültigen, situationsbezogenen Handlungsregeln“ (Charlton 2007, 30) deuten zu können. Als dritte kognitive Voraussetzung erwähnt Charlton die „Fähigkeit, kommunikative Absichten erkennen zu können“ (Charlton 2007, 32). Eine Werbeeinschaltung hat einen anderen kommunikativen Hintergrund als ein Unterhaltungsmedium. Im Spielen, Gestalten und Planen erschließt sich zwar den Kindern die Welt des Weiterdenkens und Wissens, welche dann durch den Erwerb von Sprache anderen zugänglich gemacht werden kann. Die Identifikation und Einordnung von kommunikativen Absichten bedarf jedoch eines hohen Grades an medienbezogenem und gesellschaftlichem Wissen, wovon jüngere Kinder meist weit entfernt sind. Daher können sie beispielsweise Werbebotschaften oder fiktionale Darstellungen in ihrer Vorstellungswelt nicht einordnen. Schäfer spricht im Zusammenhang mit medialen Informationen von „Können und Wissen aus zweiter Hand“ (Schäfer 2007, 67). Er betont, dass die Bedeutung medial vermittelter Informationen immer nur im Kontext von vergleichbaren Erfahrungen aus erster Hand in die kindliche Wirklichkeit eingeordnet werden kann. Der entwicklungspsychologische Blick auf die kognitiven Voraussetzungen für einen adäquaten Medienkonsum soll mit folgendem Zitat beendet werden:

„Man kann von etwas erzählen, was man selbst erfahren hat: Können und Wissen aus erster Hand. Man kann aber auch hören, was andere erfahren haben: Können und Wissen aus zweiter Hand. Was man nur von anderen gehört hat, ist noch keine eigene Erfahrung.

Es muss erst mit eigenen Erfahrungen verbunden werden, bevor es als bedeutsamer Teil der eigenen Welt erlebt und in kreatives Handeln einbezogen werden kann. Diese Unterscheidung hat nun gerade für das mediale Denken und Handeln Bedeutung“

(Schäfer 2007, 66)

Eine weitere Voraussetzung für adäquaten, kindlichen Medienkonsum aus entwicklungspsychologischer Sicht ist die emotionale Kompetenz, interessante Inhalte zu wählen und beängstigenden Inhalten ausweichen zu können. Verbunden mit den kognitiven Entwicklungsbedingungen sind interessante Themen jene, die in eigene Erfahrungen eingeordnet werden können, je nach Entwicklungsalter wären dies beispielsweise die Themen: versorgt und verwöhnt werden, Wut und Eifersucht, jemand anderen versorgen (Puppe, Haustier,…), stolz sein

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auf etwas, u.v.m. Charlton konnte in einer Untersuchung mit sechs zwei- bis sechseinhalbjährigen Kindern überprüfen, inwieweit diese in der Lage sind, digitale Medieninhalte und Alltagserfahrungen zu verknüpfen. Dabei kristallisierten sich drei Verarbeitungskategorien heraus: entweder das Kind startet ein Thema im Spiel (z.B. Wut), wählt dann eine thematisch passende mediale Information und führt dann die Thematik im Spiel fort. Ein zweites erkennbares Muster ist ein identischer Verlauf wie im ersten Fall, allerdings mit einer thematischen Erholungspause zwischen Medienkonsum und Spielfortführung. Eine dritte Variation besteht darin, dass ein thematisch unpassender medialer Inhalt für das aktuell interessante Thema zurechtgedeutet wird (Charlton 2007, 34).

Für die Erziehungspersonen kann an dieser Stelle die Wichtigkeit einer aufmerksamen medialen Begleitung von Kindern bei ihren individuellen und persönlichen Medienerfahrungen abgeleitet werden. Medienkompetenz soll demnach hier nicht als technisches Wissen zum korrekten Umgang mit Medien verstanden werden, sondern vielmehr als die Fähigkeit zu einem (eigen)verantwortlichen Medienumgang. Einen maßgeblichen Beitrag zur Entwicklung von kindlicher Medienkompetenz leistet die kulturelle mediale Praxis der Eltern und weiterer Familienmitglieder. Das nächste Kapitel soll daher der Bedeutung des Einzugs von digitalen Medien in die Welt der Allerkleinsten für die Elternschaft gewidmet sein.

2.3.2 Konsequenzen kindlicher Medienpraktiken für die Elternschaft