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Wirkung der Baugestalt - Zusammenfassung und Interpretation 39

4. VOM MUSEUMSGEDANKEN ZUM BAUPROJEKT - ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS UND ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS

5.4. Wirkung der Baugestalt - Zusammenfassung und Interpretation 39

Den Museumsbau von Wilhelm Kreis zeichnet eine einfache, klare Gliederung der Baumassen aus. Einem großen Hofrechteck sind zwei kleinere Rechtecke vorgelagert. Das Bindeglied zwischen dem großen und den beiden kleinen Rechtecken stellt ein erhöhter Mittelbau (Hauptkubus) dar. Neben dieser die Bauteile verbindenden Funktion kommt dem Hauptkubus die Aufgabe zu, die Haupt- und gleichzeitig auch Symmetrieachse des Gesamtkomplexes zu betonen. So kommt an der Schauseite des Museums, wo die Vertikalgliederung des Hauptkubus mit der horizontalen Gliederung der Kopfbauten kontrastiert, die Hauptrichtung sowie die sich hinter dem Mittelbau rückwärtig anschließende, lang gestreckte Ausdehnung des Museumsgebäudes schon deutlich zum Ausdruck. Gleichzeitig geht auch aus der Schaufassade hervor, dass der hohe Hauptkubus nicht der Mittelpunkt, das Zentrum des Gesamtkomplexes sein kann. Zentrum des Gebäudes und Endpunkt der Hauptachse bildet der eingeschossige Pavillon im Innenhof des Museums. Da in dessen Apsis das Hauptausstellungsstück, der Gläserne Mensch, untergebracht war, fielen architektonisches und ideelles Zentrum an dieser Stelle zusammen.

Auffällig ist die ausschließliche Verwendung geometrischer Formen am gesamten Bau. Außer am hohen Mittelbau herrscht überall die Horizontale vor. Die einzige vertikale Akzentuierung an den extrem lang gestreckten Außenfassaden der seitlichen Hofflügel (Ausstellungstrakte), bestehend aus der einflügeligen Tür mit Supraportenfenster und den zwei übereinander angeordneten, kleinen quadratischen Fenstern darüber, markiert optisch die ungefähre Mitte der langen Seitenfassade, wenn man den Winkelbau an der Seitenwand des Mittelbaus in der Verlängerung mitrechnet. Besonders die Fassaden der Hofflügel sind sehr flächig gestaltet. Bei den Außenfassaden der seitlichen Hofflügel bewirken die flach in die Wandflucht eingelassenen Fenster des ersten Obergeschosses den extrem flächigen, scheibenartigen Fassadencharakter (Abb. V/34,36). Die einzige „Modellierung“ der Außenfassade zeigt sich bei den leicht hinter die Wandflucht zurückspringenden Erdgeschossfenstern. Die dadurch entstehende Schattenbildung

39 Die beiden wesentlichen Analysen der Architektur des Deutschen Hygiene-Museums von Wilhelm Kreis stammen von Achim Preiß (1993) und von Ralf Schiller (1994). Siehe: Achim Preiß: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden von Wilhelm Kreis. Eine Synthese von Tradition und Fortschritt. In: Achim Preiß: Das Museum und seine Architektur. Wilhelm Kreis und der Museumsbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Alfter 1993, S. 197-216, besonders S. 204-206; Ralf Schiller: Ein weißer Tempel für Dresden. In: Winfried Nerdinger, Ekkehard Mai (Hrsg.): Wilhelm Kreis. Architekt zwischen Kaiserreich und Demokratie 1873-1955.

München/Berlin 1994, S. 141-155.

in der unteren Gebäudezone bildet ein, wenn auch sehr kleines, Gegengewicht zur überwiegenden Flächigkeit.

Betrachtet man alle Fassaden des ausgeführten Museumsbaus zusammen, so ist zu bemerken, dass jeder eine unterschiedliche Formensprache zu Grunde liegt. Die Gebäudeteile sind mit ihrer jeweils charakteristischen Fassade, also schon am Außenbau sichtbar, als gesonderte Baukörper aufgefasst, deren Massen hart gegeneinander gelegt sind und einen breit gelagerten Gesamtkomplex bilden. Dass sich dieses optische „Ineinanderschieben“ der verschiedenen Baukörper unvermittelt gestaltet, zeigt sich besonders an den Seiten des Gesamtkomplexes.

Kopfbauten, Hauptbau und Hofflügel (Ausstellungstrakte) mit jeweils verschiedenen Gliederungssystemen, welche in ihren Grundmaßen nicht miteinander korrespondieren, überlagern einander. An den Seitenwänden des Hauptbaus, wo sich die drei großen Gebäudeteile verschränken, entsteht ein Spannungsverhältnis, das den Bau, dessen einzelne Bauteile wegen der dominierenden Horizontalgliederung kein „Eigenleben“ haben, zu einem gestalterischen Ganzen macht (Abb. V/5,33,35). Ein harmonischer Gesamteindruck stellt sich ein, da die Teilungsregeln des goldenen Schnitts beachtet worden sind. Ein imaginäres Koordinatensystem, dessen Maßverhältnis durch den Umstand definiert ist, dass die Überschneidungen jeweils Ergebnisse proportionaler Teilungen waren, hat seinen Ausgangspunkt in dem großen Kreisfenster, der Signatur des Architekten Wilhelm Kreis.40

Der an allen Fassaden des Museums vorherrschende, geschlossene Wandcharakter wird durch die Öffnungen und die in rhythmischer Folge auftretenden Wanddurchbrüche nicht aufgehoben.

Bei den Kopfbauten liegt als Fassadengliederung eine bloße Reihung von Fensteröffnungen vor, die sich beliebig verlängern ließe. Daher rührt auch die Unselbständigkeit der Kopfbauten, die erst mit der Einbindung in den Gesamtkomplex „funktionieren“. Auch die rhythmische Gliederung der Fassaden der Ausstellungstrakte ist nicht in sich abgeschlossen und selbständig.

Trotz der Größe der Fenster der Hofflügel ist auch hier keine wirklich „offene“ Wandgestaltung erreicht. Insgesamt ist ein kompakter, kastenförmiger Baukörper erzielt, ein in sich geschlossener, aus Rechtecken gebildeter Architekturblock, der isoliert dasteht. Die in den Gliederungssystemen der einzelnen Fassaden vorherrschende Horizontale ist verantwortlich für die Lagerhaftigkeit des Gesamtkomplexes und unterstützt seine massige Wirkung.

40 Vgl. Achim Preiß: Das Museum und seine Architektur. Wilhelm Kreis und der Museumsbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alfter 1993, S. 202.

Auf den ersten Blick erscheint der Bau des Deutschen Hygiene-Museums, auch vor dem Hintergrund des architektonischen Schaffens des Architekten Wilhelm Kreis bis zu diesem Zeitpunkt, erstaunlich modern. Dass es sich gewissermaßen um eine im wahrsten Sinne des Wortes „Modernität an der Oberfläche“ handelt, sollen die folgenden Ausführungen verdeutlichen. Als modern fällt zunächst einmal der Umstand auf, dass der Bau ungewöhnlich schmucklos und frei von dekorativen Elementen oder Applikationen ist. Die Gestaltung des Gesamtbaus ist allein durch die Proportionen der einzelnen Baukörper und ihre Beziehung zueinander geleistet, wie auch die Komposition der einzelnen Fassaden allein durch das Verhältnis von Flächen und Wandöffnungen entsteht. Die Ausbildung der Wände nicht als modellierte, sondern glatte, verputzte Flächen mit scheibenartiger Wirkung ist ebenfalls ein

„modernes“ Charakteristikum. Die extreme Flächigkeit unterstützt die Konturierung der scharfkantigen, kubischen Baukörper und bildet zusammen mit der weißen Farbe die Folie für eine kontrastreiche Fassadengestaltung. Durchgängiges Gestaltungsprinzip ist eine Beschränkung auf elementare architektonische Grundformen. Von allen ornamentalen Zutaten befreit und auf das Wesentliche reduziert, kommen diese Elementarformen der Architektur (Mauer, Öffnung, Stütze) hier zum Tragen. In dieser Vereinfachung und Schlichtheit liegt neben der zeitlosen Eleganz vor allem die monumentale und sakralisierende Tendenz des Baus begründet. Als modern mögen schließlich die großen Fenster und die umlaufende Laterne der Hofflügel des Museums aufgefasst werden. Die zumeist querrechteckigen Fenster unterstreichen die horizontale Fassadengliederung, die sich aus der Ferne als Schichtung von durchgehenden Streifen präsentiert. Aus der Nähe betrachtet fallen die wenn auch schmalen, vertikalen Unterbrechungen dieser übergeordneten, horizontalen Tendenz auf (Abb. V/36). Wilhelm Kreis verzichtete nicht auf Rahmenelemente wie unterteilende Stege oder dezente Vertikalsprossen, so dass grundsätzlich immer axiale Bezüge als Orientierungspunkte vorhanden sind. Diese axialen Bezüge sind zwar insbesondere bei den Hofflügeln auf ein Minimum zurückgedrängt, jedoch im Detail vorhanden. Gestalterische Ausnahmen sind an zwei Stellen des Museumsbaus gegeben:

an den vorderen Stirnseiten der seitlichen Hofflügel (Abb. V/5,33) und an den äußeren Ecken des Querbaus (Abb. V/5, 7,42), wo jeweils die verglaste Laterne über die Ecken herumgeführt ist. Diese besitzt zwar filigrane Vertikalsprossen, aber keinen Pfeiler auf den jeweiligen Ecken, was man auf Grund der übrigen Fassadengestaltung durchaus hätte erwarten können. Die verglasten Gebäudeecken befinden sich beim Hygiene-Museum jedoch lediglich in der Dachzone und haben daher einen ganz anderen Charakter als beispielsweise die berühmte Fassadenlösung, die Walter Gropius schon 1911-1914 für das Fagus-Werk in Alfeld/Leine entwickelt hatte. Hier ist durch die großflächigen Glas- und Metallausfachungen schon die

Vorstufe für eine vollkommen verglaste Vorhangfassade gegeben. Schließlich sind in Bezug auf moderne Merkmale des Dresdner Museums noch die Flachdächer zu nennen.

Den vordergründig modernen Stilelementen des Museumsgebäudes von Wilhelm Kreis steht bei genauerer Betrachtung eine Reihe von Merkmalen gegenüber, die ein eher traditionelles Architekturverständnis verraten. Da ist zunächst die durch die Lage und Ausrichtung des Museumsbaus in der Hauptachse des Großen Gartens fixierte Hauptperspektive. Diese Achse wird aufgegriffen und dominiert als Symmetrieachse das ganze Gebäude. Achsialität und Symmetrie als vorherrschende architektonische Ordnung werden durch die geometrische Anlage der Baugruppen, insbesondere durch die Festlegung eines perspektivischen Gebäudezentrums in Form des Hofpavillons, noch hervorgehoben. Die einzelnen, unterschiedlichen Maßverhältnissen gehorchenden stereometrischen Baumassen haben, wie oben schon erwähnt, kein kompositorisches Eigengewicht, sondern sind Teil einer übergeordneten Gesamtkomposition.

Die einzelnen, exakt konturierten kubischen Baumassen sind so ausgewogen und ausgleichend zueinander in Beziehung gesetzt, dass die Gesamtbaugestalt ein hohes Maß an statischem Gleichgewicht und Geschlossenheit erhält. Die horizontalen Ausdehnungen unterstützen diese Ausgewogenheit und sorgen dazu noch für den Eindruck von Schwere und Gewichtigkeit, was Assoziationen wie Unbeweglichkeit, Beständigkeit und in sich ruhender Erhabenheit zulässt. Zu den Grundvoraussetzungen und Charakteristika monumentaler Architektur sollen am Ende der Arbeit noch einige Überlegungen angestellt werden. Bei der Beziehung der einzelnen Baumassen zueinander wird aber auch eine klare Rangfolge deutlich erkennbar, was sich bis in die verschiedenartigen Nutzungen dieser Gebäudeteile auswirkt. Die vorgelagerten Verwaltungs- und Arbeitstrakte, der blockartig herausgestellte, hohe Mittelbau mit den repräsentativen Hallen und die rückwärtigen Hofflügel als Funktionstrakte für Ausstellung und Werkstätten sind auf diese Weise gestalterisch deutlich voneinander abgesetzt und separiert. Diese Rangordnung wird bis in die Fassadengestaltung umgesetzt. Hier spielt, besonders an der Schauseite des hohen Mittelbaus erkennbar, das traditionelle tektonische System eine Rolle. Der klassische Aufbau einer Architektur wird hier durch die Reduzierung der Grundelemente plakativ zum Ausdruck gebracht. Die auf das Grundmuster dieses Motivs reduzierte Portikus besteht aus Granitpfeilern, einem Granitgebälk und einem Rahmen aus verputzter Fläche. Trotz oder gerade wegen dieser extremen Vereinfachung der Portikus wird der Rückgriff auf das traditionelle Tempelmotiv überdeutlich. Der Umstand, dass der Hauptbau sich ein gutes Stück hinter der Front der Kopfbauten befindet und die Eingangstüren wiederum durch die Portikus geschützt noch ein Stück weiter zurückliegen, korrespondiert mit den insgesamt immer noch riesigen,

geschlossenen Wandflächen des Gebäudes. Alle diese Aspekte sind verantwortlich für die Geschlossenheit des Baus. Innen und Außen sind strikt voneinander getrennt. Die Abkapselung und Isolierung von der Umgebung manifestiert sich darin, dass der Museumsbesucher vom Inneren des Gebäudes, mit Ausnahme der Wandelhalle, keine Blickbeziehungen zur Umgebung herstellen kann. Aber auch von Außen, vor allem von den seitlichen Grünflächen aus, werden keine direkten Einsichten in das Gebäude gewährt. An den Außenfassaden der Hofflügel ist die dahinter liegende Geschosseinteilung regelrecht verschleiert, so dass die hier zwar zahlreichen, großen Fensteröffnungen kein wirkliches Aufbrechen der Fassade bedeuten, was Einsicht und Transparenz ermöglicht hätte. Vom Innenraum aus betrachtet sind die Fenster so hoch angeordnet, dass der Ausblick unterbunden wird, was ausstellungsdidaktische Gründe hat, auf die an anderer Stelle noch eingegangen werden soll. Diese Abgeschlossenheit verleiht dem Gesamtkomplex des Deutschen Hygiene-Museums eine Distanz zur Umgebung und damit im übertragenden Sinn zur Wirklichkeit.

Die mit den oben beschriebenen Mitteln erreichte Isolierung des Baus weist zusammen mit der monumentalen Inszenierung der Schaufassade und der Betonung einer Hauptrichtung im Wesentlichen darauf hin, dass es sich hier um eine Architektur handelt, die eine besondere Bedeutung für sich beansprucht. Aus der genaueren Betrachtung der Innenraumgestaltung und dem Ausstellungsaufbau wird hervorgehen, dass der an dieser Stelle behandelte Außenbau der Idee, dem Ziel und Anspruch des Museums, der Volksbelehrung, in hohem Maße adäquaten Ausdruck verleiht. In diesem Zusammenhang soll die Rolle der weißen Farbe des Museumsbaus erörtert werden. Die nahe liegende Assoziation in Verbindung mit der Farbe Weiß, die Vorstellung von Reinheit und Hygiene ist hier unübersehbar beabsichtigt. Zudem eignet sich die Farbe Weiß besonders zur Hervorhebung von Kontrasten, zur Konturierung. In der Innenarchitektur unterstreicht der weiße Anstrich klare Raumformen. An der Schaufassade dient die weiße Farbe dazu, die Wirkung der tief verschatteten Portikus zu steigern. Die Fassaden des Hygiene-Museums sind im Wesentlichen durch zwei Farbwerte bestimmt. Das helle Weiß der Putzfläche steht den dunklen Fassadenpartien wie Fenster, Granitrahmen und Verschattungen gegenüber. Die Farbe Weiß tritt als eine Art „trennende Laborsubstanz“41 auf, mit deren Hilfe sich Einzelelemente der Architektur scharf voneinander abheben, die architektonische Komposition und Zusammenhänge der Tektonik und damit die übergeordnete Struktur eines Baus in besonderer Weise verdeutlichen lassen.

41 Wolfgang Meisenheimer: Die weiße Wand - The White Wall. In: Daidalos. Architektur Kunst Kultur 30. 15.

Dezember 1988. Gütersloh 1988, S. 88-95, hier S. 95.

Jede Zeit bevorzugt bestimmte Farbwerte und hat ganz spezifische Farbanschauungen. Um 1930 hatte die Farbe weiß in der Architektur und Innenarchitektur ausgehend von den blendend weißen Häuserfassaden des Dessauer Bauhauses einige Verbreitung gefunden. Weiß schien besonders geeignet, praktische und „rationale“ Gestaltungsabsicht in der Architektur zu vermitteln.42 In einer Fachzeitschrift für Gestaltung aus dem Jahr 1930 findet sich ein Beitrag, der sich mit der Qualität der Farbe Weiß als Zeitphänomen auseinandersetzt. Die Farbe Weiß,

„Hauptstimmungswert seiner Zeit“, könne, ähnlich den baulichen Gestaltungsmitteln wie große Fenster oder Dachterrassen, dem Menschen einen Eindruck von Weite geben („Illusion des weißen Anstrichs“) und stelle eine Art glatte, saubere, luftige, ätherische, technisch einwandfreie Folie dar, vor der sich der Mensch entfalten könne. Es heißt dort: „Der heutige Mensch will Freiheit, Luft, Licht; er braucht Ferne für seine Gedanken und Ideen.“.43

„Weiß! Warum heute alles weiß gestrichen wird? Weil dieses Weiß – nicht die Farbe, der Farbstoff, sondern der Farb-Ton Weiß, einen neuen Klang bekommen hat und aus dem neuen Zeitgeist heraus geschaffen, als Begriff neu erfunden, neu erlebt und gewiß zu unserem neuen Weltbild zu eben diesem erstmaligen Zeitgeist als organisch notwendig empfunden wurde. (...) Dieses Weiß ist aber mehr als nur der Farbstoff Weiß und die damit angestrichene Wand. Sie, die Farbe Weiß, der ‚Farbton’ Weiß, ist heute ein wichtiger Kulturfaktor, eine neuer Wert- und Zeitausdruck geworden.“44

Der „weißen Wand“45 kommen weit reichende Bedeutungen zu. Ornamentlos und strahlend und folglich eindringlich in ihrer Wirkung symbolisiert sie Unberührtheit. Im Gegensatz zu anderen Baumaterialien ist die weiße Wand nicht stofflich und daher in besonderer Weise geeignet, Ideengehalte und Inhalte jenseits von Material, äußerlicher Situation und Funktion zu repräsentieren. Diese Möglichkeit der weißen Wand, ein Herauslösen aus den Zusammenhängen

42 In einem weiteren Schritt wurden in der modernen Architektur die Farbflächen immer häufiger durch große Glasflächen ersetzt. Vgl. Barbara Miller-Lane: Die Moderne und die Politik in Deutschland zwischen 1919 und 1945. In: Vittorio Magnago Lampugnani, Romana Schneider (Hrsg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Stuttgart 1994, S. 225-249, hier S. 234.

43 J.E. Hammann: Weiss, alles weiss. Von der Wertstellung der Farbe „Weiß“ in unserer Zeit. In: Die Form.

Zeitschrift für gestaltende Arbeit. Heft 5. Jg. 5. Berlin 1930, S. 121-123, Zitate S. 122. Hammann sieht interessanterweise in der Filmkunst und der Fotografie Ausweichmedien für Farbexperimente.

44 J.E. Hammann: Weiss, alles weiss. Von der Wertstellung der Farbe „Weiß“ in unserer Zeit. In: Die Form.

Zeitschrift für gestaltende Arbeit. Heft 5. Jg. 5. Berlin 1930, S. 121-123, hier S. 121/122. Siehe auch: Otto Rückert:

Raum und Farbe. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit. Heft 23/24. Jg. 5. Berlin 1930, S. 596-599.

45 Wolfgang Meisenheimer: Die weiße Wand - The White Wall. In: Daidalos. Architektur Kunst Kultur 30. 15.

Dezember 1988. Gütersloh 1988, S. 88-95. In seiner Untersuchung charakterisiert Meisenheimer drei Phasen in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, in denen die weiße Wand jeweils eine unterschiedliche Funktion übernimmt. In der Frühphase der klassischen Moderne konnte dieser Kunstgriff dem neuen intellektuellen und zugleich romantischen Anspruch von Aufbruch, der Wissenschaftsgläubigkeit und Rationalität Ausdruck verleihen.

Nach dem zweiten Weltkrieg übernimmt die weiße Wandfarbe als Zeichen für Bescheidenheit konnotative Bedeutungen moralisch-religiöser Art. Die Verwendung der weißen Wand in der Gegenwartsarchitektur ist geprägt

eines geographischen und historischen Umfelds zu erreichen, stellt eine unberechenbare, weil undurchsichtige Komponente dar, in der eine potentielle Bedrohlichkeit liegt. Die weiße Farbe eignet sich sowohl zur Darstellung von Klarheit, Rationalität, Wissenschaft, besonders Medizin und Hygiene, als auch zur Erzeugung einer ideellen Abgehobenheit bis hin zu einer metaphysisch-mystischen Wirkung. Wilhelm Kreis nutzte diese immanente Ambivalenz der weißen Wandfarbe äußerst gekonnt für die Gestaltung seines Hygiene-Museums. Die architektonische Komposition stellt ebenfalls eine Balance dar zwischen konkreter, durch

„erdverbundenes“ Steinmaterial manifestierter Verbindlichkeit, und metaphorischer Ebene durch abstrahierte, architektonische Formen und Mittel, denen ein empirischer Bedeutungsgehalt beigemessen wird. Zu der letztgenannten Gruppe gehört auch die weiße Farbe.

In seinem Aufsatz über „Die weiße Wand“ in der Architektur charakterisiert Wolfgang Meisenheimer das Phänomen der „Sehnsucht nach dem 'reinen' Weiß“ und beschreibt die unterschiedlichen Motivationen zur Verwendung weißer Wände in der Architektur des 20.

Jahrhunderts. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg sieht er eine emotionale, moralische Auffassung der weißen Wände gegeben und stellt die Frage, ob es sich hierbei um eine notwendige Konsequenz angesichts einer drohenden „Hyperrationalisierung“ durch die fortschreitende Entwicklung von Technik und Verwaltung handeln könnte.46 Seine Beschreibung der Verhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg in Bezug auf das Motiv der weißen Wand scheint jedoch in wesentlichen Aspekten auch schon auf die konservativen Bestrebungen in der Architektur um 1930 zuzutreffen und in besonderer Weise auf den Bau des Deutschen Hygiene-Museums von Wilhelm Kreis anwendbar zu sein.

„(...) eine Rettung, eine Rückbindung an den Urgrund, in dem Leben, Kunst und Mythos noch nicht voneinander getrennt sind. Im Geheimnis der weißen Leere schwingt eine zugleich poetische und religiöse Hoffnung mit, die (...) durchaus bürgerliche Gefühlsdimensionen berührt, also antiintellektualistisch wirkt. In ihren Formen ist diese Nachkriegsmoderne der klassischen Frühzeit treu, aber sie argumentiert in ihren Ansprüchen antifunktionalistisch, poetisch, moralisch-religiös. Steinbach spricht vom ‚Firmamentigen’, das man dem Alltagsnahkampf zum Trotz in großartigen, auf Dauer gültigen Formen realisieren müsse. Und stärker als in der Frühzeit der Moderne treten bei der Darstellung der weißen Wand alle drei Aspekte des Numinosen (nach Rudolf Otto) auf: das Grandiose, Erhabene, welches uns ergreift, das Schaurige, Fremdartige, welches uns bedroht, sowie das Rätselhafte, welches uns fasziniert. Nach dem bis zu jenem Zeitpunkt materialistischsten Krieg der Geschichte erleben wir jetzt eine Wende in den Raum des Magischen (...) So bezieht sich der Realitätscharakter dieser noblen Architektur auf den mystischen Ort. Diente die weiße Wand der 20er Jahre als

durch das Streben, zurückhaltende Räume zu schaffen, die ein hohes Maß an differenzierter, ästhetischer Wahrnehmung gestatten. Als Beispiel nennt Meisenheimer die elegante Architektur Richard Meiers.

46 Vgl. Wolfgang Meisenheimer: Die weiße Wand - The White Wall. In: Daidalos. Architektur Kunst Kultur 30. 15.

Dezember 1988. Gütersloh 1988, S. 88-95, hier S. 95.

Hintergrund wissenschaftlicher, denotativer Diskurse, so ist die weiße Wand der 50er Jahre eher Notenpapier für konnotatives Wissen, für die mythische Erzählung.“47

Die weißen Wände des Deutschen Hygiene-Museums sind wohl weniger zur Demonstration nüchtern-anonymer Rationalität im Sinne der Neuen Sachlichkeit oder des Konstruktivismus gedacht. Ihre abstrahierende Wirkung wird zur Steigerung der pathetischen Bedeutungshaftigkeit des Baus instrumentalisiert. Die weiße Farbe stellt wie die Elemente Material und Technik allgemein für Wilhelm Kreis jedoch kein eigenständiges Gestaltungsmittel dar. Sie stehen lediglich im Dienst der künstlerischen Form.

„Dem 'Konstruktivismus' hat der Krieg völlig Bahn gebrochen. Diese neue Linie aber muß unbedingt veredelt werden. Je nackter sie hervortritt, um so schöner muß sie sein. Wo heute das schmückende Gewand fehlt, muß der Adel der Form, Wahrheit der Erscheinung, Kraft des Ausdrucks an seine Stelle treten. Ein häßlicher Körper kann doch auch durch das schönste Kleid nicht schön gemacht werden.“48

Die „unbekleideten“ weißen Wände sind Teil der monumentalen Inszenierung des Gebäudes, einer Inszenierung, die sich nicht zuletzt auf einen andeutungsweisen Rückgriff auf historische Urformen stützt. Achim Preiß49 sieht in der Erscheinung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden eine Verarbeitung altägyptischer Architekturformen gegeben, die sich aus der im obigen Zitat schon anklingenden Suche des Architekten nach einer idealen Form herleitet. Es spricht einiges dafür, dass Wilhelm Kreis diese ideale Form, eine Urform, die sowohl die mathematisch-konstruktiven Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten der Architektur als auch einen zeitlos sakralen Bedeutungsgehalt und Ewigkeitswerte vermittelt, in der altägyptischen Architektur fand. Der im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Wissenschaftlern, Künstlern und Architekten äußerst populären Ägyptenforschung gegenüber war auch Wilhelm Kreis sehr aufgeschlossen.

August von Thiersch (1843-1917), sein Münchner Lehrer aus den Jahren 1892-94, sah in der ägyptischen Architektur das Prinzip der proportionalen Komposition und Harmonie verwirklicht.50 Der im 19. Jahrhundert erfolgreichste süddeutsche Architekturlehrer und Vertreter eines perfekten Eklektizismus, Friedrich von Thiersch (1852-1921), unternahm in den

47 Wolfgang Meisenheimer: Die weiße Wand - The White Wall. In: Daidalos. Architektur Kunst Kultur 30. 15.

Dezember 1988. Gütersloh 1988, S. 88-95, hier S. 90/91.

48 Otto Sebaldt: Wilhelm Kreis - der Schöpfer des Hygiene-Museums. In: Dresdner Neue Presse Nr. 9. Jg. 6.

Dresden 1930.

49 Achim Preiß: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden von Wilhelm Kreis. Eine Synthese von Tradition und Fortschritt. In: Achim Preiß: Das Museum und seine Architektur. Wilhelm Kreis und der Museumsbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alfter 1993, S. 197-216, hier S. 204/205. Hier findet sich weiter führende Literatur zum Thema der Ägyptik. Desgleichen auch bei Wolfgang Pehnt: Altes Ägypten und neue Architektur. In: Bruckmanns Pantheon. Jg. XLV. München 1987, S. 151-160.

50 Siehe: August von Thiersch: Proportionen in der Architektur. Handbuch der Architektur. Vierter Teil. 1.

Halbband. Leipzig 1926.

Jahren 1881/82 zwei Orientreisen, die ihn auch nach Ägypten führten.51 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch der damals vierzigjährige Rektor der Münchner Technischen Hochschule das Interesse des zwanzigjährigen Architekturstudenten Wilhelm Kreis an der Ägyptologie mitbegründet hat. Die Aufgeschlossenheit gegenüber der urgeschichtlichen Forschung und Archäologie war besonders unter Architekten sehr verbreitet. Die Auseinandersetzung mit Ägypten fand im 19. Jahrhundert ihren Niederschlag im Ausstellungswesen, in einem wachsenden Bildungstourismus an den Nil, wissenschaftlichen Expeditionen und einer Fülle von Publikationen über Ausgrabungsergebnisse in Fachzeitschriften.52 Dass diese Tendenzen Wilhelm Kreis entscheidend geprägt haben, zeigen auch die Planungen des 67jährigen Architekten von 1939-1942 für ein Museum der Ägyptischen und Vorderasiatischen Kunst im Kontext der geplanten Erweiterung der Berliner Museumsinsel.

In einem Prachtband mit dem Titel „Erläuterungsbericht zum Entwurf für das Museum der ägyptischen und vorderasiatischen Kunst“53, den Wilhelm Kreis eigens herstellen ließ, legt der Architekt neben ersten Schauplänen und Fassadenansichten seine Überlegungen zu diesem Ägyptischen Museum vor. Wilhelm Kreis ging es bei der Beschäftigung mit der altägyptischen Formensprache um das Auffinden von architektonischen Grundlagen und einem Urmaßstab. Es ging darum, eine Art Urform zu erarbeiten, die wie die überlieferte Architektur Bestand hat. Was Wilhelm Kreis im Zusammenhang mit seinen Planungen als „Generalbaurat für die Gestaltung der Kriegerfriedhöfe“ schreibt, gibt einen Eindruck von diesem Anspruch, der auf seine Arbeit als Architekt generell zutrifft.

„Da ich sehr streng gegen originelle Einfälle und vorsichtig dem Neuen gegenüber bin, so suche ich so lange nach der Form des Baugedankens, bis das Ende der Überlegung zur größten Einfachheit führt. Diese Form zu vergleichen mit den Formen der Tradition ist ein Prüfstein. Ich halte diese Prüfung für die einzige Möglichkeit, einen Maßstab für die Echtheit und Güte einer neuen Form zu finden (...).“54

In Bezug auf die ägyptische Bautradition kann man davon ausgehen, dass Wilhelm Kreis die architektonischen Methoden der geometrischen Konstruktion und vor allem die sakrale Wirkung

51 Lexikon der Kunst. Hrsg. v. Harald Olbrich u.a. Bd. 7. München 1996, S. 298/299.

52 Vgl. Wolfgang Pehnt: Altes Ägypten und neue Architektur. In: Bruckmanns Pantheon. Jg. XLV. München 1987, S. 151-160. Pehnt schildert die herrschende Ägyptophilie, die Orientmode und den Exotismus im Zusammenhang mit der Entdeckung des Tutanchamun-Grabes im Jahr 1922 als ein regelrechtes „Ägypten-Fieber“. Dieser Ägyptizismus kam besonders auch in der Übernahme dekorativer Details im Art déco zum Ausdruck (S. 153). Auch die niederländische Künstlergruppe de Stijl war an den mathematischen Qualitäten und der Komposition mit einfachen Mitteln, wie sie die ägyptische Kunst bietet, interessiert.

53 Erläuterungsbericht zum Entwurf für das Museum der Ägyptischen und Vorderasiatischen Kunst von Professor Dr. Wilhelm Kreis. Der ledergebundene Prachtband befindet sich als einziges Exemplar im Kreis -Archiv in Bad Honnef.